Der Schöne im Mohn: Ein Künstlerroman
By Dagmar Fohl
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Dagmar Fohl
Dagmar Fohl absolvierte ein Studium der Geschichte und Romanistik in Hamburg und arbeitete als Historikerin und Kulturmanagerin. Heute lebt sie als freie Autorin in Hamburg und schreibt Romane über Menschen in Grenzsituationen. Psychologisch fundiert zeichnet sie Seelenzustände ihrer Protagonisten mit ihren Lebens- und Gewissenskonflikten, und beleuchtet gleichzeitig die gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme der jeweiligen Epoche, in der ihre Protagonisten agieren.
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Der Schöne im Mohn - Dagmar Fohl
Impressum
Dieses Buch wurde vermittelt durch die LKM Literaturbetreuung Klaus Middendorf
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: Egon Schiele, 1909 © ullstein bild – Imagno / Wien Museum
ISBN 978-3-8392-5072-3
Anfang
Heute ist der 23. Oktober 1901. Ich sitze in meinem Atelier, an dem kleinen runden Tisch, dessen Holz mit blässlichen Glasrändern und Kratzern gemustert ist, sitze auf meinem alten Korbstuhl mit den ausgefransten Enden am Geflecht. Vor mir liegen ein Stapel loser Blätter sowie ein Dutzend gespitzter Bleistifte. Erst jetzt, in diesem Moment, ist es mir möglich, mein Schweigen zu brechen und dir alles zu erzählen, was ich mein Leben lang verschwiegen habe, alles, was mich mit dir schicksalhaft verbunden hat, ohne dass du die geringste Ahnung hattest.
Ich frage mich, was ich wirklich weiß über mich und darüber, was passiert ist. Ich will dir die Wahrheit schreiben, aber es ist mir ja nur möglich, das, was in meiner Erinnerung haften geblieben ist, das, was sich mir am tiefsten eingeprägt hat, zu schildern, somit steckt in allem nicht mehr und nicht weniger als meine persönliche, bruchstückhafte Wahrheit. Die Wahrheit, die ich berichte, kann also nur skizzenhaft sein, wahr aber ist, dass ich nicht lügen möchte. Die Furcht, dir nicht vollkommen aufrichtig zu berichten, quält mich. Ich weiß nicht einmal, ob ich in Worten ausdrücken kann, was ich denke, selbst wenn es aufrichtig ist.
Es ist eigenartig, gerade eben verstieg ich mich in die Illusion, es sei nichts geschehen, doch ich sehe dich vor mir und Der Schöne im Mohn steht auf der Staffelei, er ist Zeuge für alles, was vorgefallen ist, er ist mein Lebenswerk und damit der Spiegel meines Lebens.
*
Der Regen trommelt auf das Dachfenster, es ist, als prassle er auf mich nieder, um meine Geschichte aus mir herauszuspülen. – Womit soll ich beginnen? Jede Minute, die ich gelebt habe, scheint Vorbereitung auf alles, was folgte, zu sein.
Ich muss zurückblicken und die Vergangenheit wieder aufleben lassen, ich kann nicht erklären, was für ein Mensch ich bin, ich kann dir nur schildern, was mir widerfahren ist und welche Wirkung es auf mein Leben und meine Kunst nahm. Letztendlich ist meine Vergangenheit nichts anderes als meine Gegenwart wie auch meine Zukunft, denn sie birgt Ereignisse, die über mein ganzes Leben weiterexistierten, die in jeder Minute in mir gärten, sich niemals verflüchtigten und mein Leben in eine ungeahnte Richtung lenkten, ohne dass ich eingreifen konnte.
Ich muss von Anfang an erzählen, sonst verstehst du es nicht.
Ein Bild taucht vor mir auf, ich laufe als kleines Kind durch unsere Villa in Lübeck, es ist ein rotes zweistöckiges Klinkerhaus mit tannengrünen Fensterläden und einer großen ebenfalls grün gestrichenen Holzveranda mit Blick in den Garten, der sich bis ans Flussufer zieht.
Überall rieche ich Marzipan, es sitzt in der Kleidung, in den Vorhängen und Polstern, es dünstet aus den Gemälden der Familiendynastie heraus, die sich über Jahrhunderte in plump gemalten Porträts von leblosen Gesichtern und starren Körpern in steifer Kleidung präsentiert, das ganze Haus stinkt danach, selbst in den Seifenduft der frischen Wäsche im Schrank mischt sich das süßlich-bittere Aroma. Vater bringt es aus der Fabrik mit, die Paul einmal übernehmen soll – der klebrige Dunst nimmt mir die Luft zum Atmen.
Das Haus ist überfüllt mit Mahagonimöbeln und Teppichen, selbst die Treppe ist mit Teppich ausgelegt, Mutter besteht darauf, weil sie keinen Lärm erträgt. An den Wänden hängen weinrote und dunkelgrüne Stofftapeten mit feinen eingesponnenen Goldfäden, die Fenster sind von schweren samtenen Vorhängen gleicher Farbe umrahmt, selbst an einem hellen Frühlingstag wirken die Zimmer mit Ausnahme der Veranda, die zum Garten hinaus führt, düster; ich weiß nicht, ob ich in dieses Dunkel hineingeboren wurde, oder ob es sich erst in jeden Winkel des Hauses hineinbohrte, als ich auf die Welt kam.
Mein Leben beginnt mit einer Nottaufe. Ich sehe das kränkliche, fiebernde Kind, sehe das kleine Mädchen, das alle Arten von Krankheiten durchlebt, wie es im Bett dahinsiecht oder auf dem Sofa im Wintergarten liegt und in den Garten schaut. Ich erstarre, wenn ich an die vielen Ärzte denke, die ihre Köpfe über mich beugten, die mit ihren Händen und metallenen Instrumenten auf mir herum pressten, und mich durchfährt ein Schauder, wenn ich mir die unzähligen Kamillendampfbäder, Wadenwickel, all die Tinkturen und bitteren Pillen, den Lebertran und die Jodpinselungen ins Gedächtnis rufe, aber da war etwas, was viel unerträglicher war als alle Ärzte, Schmerzen und Medikamente. Ich fühlte in mir eine tiefe Einsamkeit und Beklemmung, ich spürte Hände auf meiner Wange, diese Hände streichelten mich, zwischen den Häuten von Hand und Wange jedoch lag Kälte, und in den mitleidigen Blicken und freundlichen Worten, die mir galten, bebte und flackerte eine Angst, ein Zurückweichen vor etwas, das ich erst später begriff. Hängen Sie Ihr Herz nicht an die Kleine, sie wird das sechste Lebensjahr nicht überleben, sagte der Arzt bei meiner Geburt, ich erlauschte es, als ich im Alter von fünf Jahren hinter der Küchentür stand, während die Köchin mit dem neuen Kindermädchen schwatzte. Emma ist nur ein schwaches Flämmchen, das bald verlöschen wird, flüsterte sie.
Ich konnte mir nicht vorstellen, tot zu sein, ich hatte kein Gefühl dafür, mir war auch noch nicht bewusst, dass Kinder sterben konnten, aber ich wusste, dass Tote ins Paradies kommen, und ich war nicht traurig über mein Sterben.
Ich holte mein Papierschiffchen und lief an den Fluss, ich zupfte ein paar Grashalme aus, flocht eine kleine Puppe, legte sie hinein und ließ das Schiff schwimmen. Es fuhr mich ins Paradies, wo es hell und sonnig war, wo die Menschen und Tiere fröhlich lachten und mir Willkommensgeschenke brachten.
Es stand einige Male schlecht um mich, aber ich starb nicht, ich schleppte mich mit allen möglichen schweren Krankheiten dahin, ich war auf dem Weg, zu sterben, aber ich starb nicht. Wenn ich versuche, mir diesen Zustand des Faststerbens zu vergegenwärtigen, dann erinnere ich mich an eine tiefe Schwäche, die sich anfühlte wie eine bleierne Schwerelosigkeit, in der ich die Menschen um mich herum nur wie verschwommene Schatten wahrnahm, ich konnte Geräusche und Stimmen hören, sie aber nicht zuordnen geschweige denn verstehen, was sie sagten, da sie nur gedämpft, wie aus weiter Ferne, an mein Ohr drangen. Ich fühlte mich, wie Munch das kranke Kind gemalt hat. Das Mädchen blickt niemanden an, es blickt ins Nichts, sein Gesicht ist ohne Mimik.
Was mir von allen meinen Krankheiten am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist meine Ohnmacht gegenüber allem, was mit mir geschah, und die Kälte, diese schauderhafte Kälte, die mich umschnürte wie eine Eisenkette. Ich wurde gewaschen und gekämmt, an- und ausgekleidet, bekam das Essen eingelöffelt, und Getränke eingeflößt. Mutters Stimme klang einschmeichelnd, aber nicht liebkosend, und ihr Gutenachtkuss auf meiner Stirn fühlte sich an wie die Spitze eines Eiszapfens. Wenn Vater mich ansah, zeigten seine Augen weder Güte noch Zärtlichkeit, sein Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln, das liebevoll erscheinen sollte. Manchmal tätschelte Vater mir mit seiner großen Prankenhand den Kopf, es fühlte sich an, als klopfe er seine Pfeife aus. All das künstliche und falsche Bemühen blieb mir nicht verborgen und ließ mich frösteln.
Ich war für meine Eltern die Tochter, die nicht mehr lang zu leben hatte und der man sein Herz verschließen musste, um Leid von sich abzuwenden. Sie liebten mich nicht, daran war nichts zu ändern, sie erwarteten meinen Tod, vielleicht fürchteten sie sogar jede zwischenzeitliche Genesung, weil sie nur die