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Tanz am Abgrund
Tanz am Abgrund
Tanz am Abgrund
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Tanz am Abgrund

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About this ebook

Christa Huber taucht in die surreale Welt der Wahnvorstellung ein. Ihr Romandebut ist von erlesener Brillanz. Mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt sie grauenvolle Situationen in absolut deutlicher Sprache.
Tanz am Abgrund ist die Geschichte des Mädchens Jenny. Sie lebt wohlbehütet bei den Großeltern.
Als sie dreizehn Jahre alt wird, geschehen seltsame Dinge. Ein geheimnisvoller Flötenspieler, den nur sie hört, plötzlich aufflammende Aggressivität und Zerstörungswut.
Jenny findet heraus, dass die Großeltern ihr etwas über den Tod ihrer Eltern verschwiegen haben und macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen dunklen Vergangenheit.
Was bedeuten die immer wiederkehrenden Träume, in denen sie zu der Melodie des Flötenspielers tanzt? Und was ist an dem Tag passiert, an dem sie drei Jahre alt wurde?
Eines Tages reißen Jenny und ihre Freundin Dora aus dem Krankenhaus aus und landen in Hamburg. Das, was sie erleben, hatten sie so nicht geplant.
Tauchen Sie ein in eine mystisch-spannende Geschichte und begleiten Sie Jenny auf ihrem Weg durch Wahn, Drogen, Kriminalität und dunkle Rituale.
LanguageDeutsch
Release dateNov 27, 2017
ISBN9783863321673
Tanz am Abgrund

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    Book preview

    Tanz am Abgrund - Christa Huber

    Abgrund

    Impressum

    Schweitzerhaus Verlag

    Frangenberg 21 - 51789 Lindlar

    Telefon 02266 47 98 211 - Mobil 0177 755 2991

    eMail: mail@schweitzerhaus.de

    Copyright: Schweitzerhaus Verlag, Lindlar

    Foto: fotolia @merla

    Umschlaggestaltung: Karin Schweitzer, Lindlar

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.schweitzerhaus.de

    2. Auflage 2017

    ISBN: 978-3-86332-167-3

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Microverfilmung und die Einspielung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Inhalt

    Impressum

    Prolog

    Wetterleuchten

    ***

    ***

    ***

    ***

    Erste Anzeichen

    ***

    ***

    ***

    ***

    Die Suche

    ***

    ***

    ***

    Zusammenbruch

    ***

    ***

    Die Klinik

    ***

    ***

    ***

    Die Flucht

    ***

    ***

    ***

    ***

    Ein Unterschlupf

    ***

    ***

    Dunkle Nächte

    ***

    ***

    ***

    Im Keller

    ***

    ***

    Ausweglos

    ***

    ***

    Weg aus dem Dunkel

    ***

    ***

    ***

    ***

    ***

    ***

    Tief ins Unbewusste

    ***

    ***

    ***

    Die Schlangengrube

    Das Tagebuch

    ***

    Lüge oder Wahrheit

    ***

    ***

    ***

    ***

    ***

    ***

    Epilog

    ***

    Literaturverzeichnis

    Leseprobe

    Buch 1

    Ω 1 Ω

    Buch 2

    1

    Buch 3

    1

    Prolog

    Einsam ist es im Zimmer, nicht die kleinste Lampe vertreibt die Dunkelheit, Gitter vor den Fenstern, kahle Wände. Ein Bett, ein Nachttisch, ein Schrank, mehr nicht. Über dem Bett der Gekreuzigte, plastisch und realistisch die Wunden, die ihm zugefügt wurden. Eine Stahltür ohne Klinke, eine kleine Klappe in Augenhöhe.

    Auf dem Boden kniet ein Mann, blonde lange Haare umrahmen ein mageres, unrasiertes Gesicht. Er trägt nur einen Slip und ein T-Shirt. Fast könnte man meinen, er sei tot. Wären da nicht stahlblaue Augen, aus denen etwas Wildes, Gefährliches, Unheimliches nach Außen drängt. Er murmelt Worte, die nur er versteht, er spricht mit seinem Herrn. Murmelt Unverständliches, unterbrochen von tierischem Geheul, schlägt mit der Stirn auf den Boden, bohrt die Nägel seiner Finger in die Haut der Unterarme. Reißt Narben auf, lacht hysterisch, als sein Blut zu fließen beginnt.

    Wetterleuchten

    Ich warte auf das Gute und es kommt das Böse. Ich hoffe auf Licht und es kommt Finsternis

    Hiob 30/26

    „Jenny, Jenny", Sabine rüttelt ihre Enkelin heftig am Arm, doch sie rührt sich nicht.

    „Hallo, was ist denn los?" Sie klatscht kräftig in die Hände, direkt vor Jennifers Gesicht.

    „Scht, Oma, hörst du das nicht?"

    „Was soll ich hören?"

    „Da spielt jemand Flöte, so was Schönes habe ich noch nie gehört."

    „Jenny, da spielt niemand Flöte, du scheinst zu träumen."

    „Nein, Oma, ich schlaf doch nicht, ich höre es genau, da spielt jemand Flöte."

    Sabine schaut verzweifelt ihren Mann Werner an, der seine Enkelin mit einem tiefen Stirnrunzeln betrachtet. Sie sehen sich in die Augen, eine Erinnerung taucht auf, schwer, schmerzlich, kaum fassbar. Es gibt ihr einen Stich ins Herz: „Mein Gott, genau wie Thomas!"

    „Jetzt kann ich es auch nicht mehr hören, es ist weg", sagt Jenny leise.

    „Ja, Liebes, es ist Zeit fürs Bett. Geh noch Zähne putzen. Hast du deine Schulsachen für morgen beieinander?" Jenny nickt und macht sich auf den Weg ins Bad. Zehn Minuten später bekommt Werner einen kräftigen, nach Zahnpasta schmeckenden Gute-Nacht-Kuss auf seinen Schnurrbart, zärtlich drückt er das kleine Mädchen sekundenlang an sich.

    Er sieht ihr nach, wie sie an der Hand von Sabine hüpfend das Zimmer verlässt. Ein kleines zwölf-jähriges Mädchen, noch unbeholfen wie ein Füllen auf der Weide, aber manchmal schon eine kleine Lolita. Sie weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann. Sie dreht sich noch mal zu ihm herum, wirft ihm eine Kusshand zu.

    Werner lächelt in sich hinein: „Was für ein liebes, kleines Ding." Er wollte alles tun, damit Jennifer gesund und glücklich bliebe und ihr einen guten Start ins Leben ermöglichen. Dieses Mal wollte er es besser machen, besser als bei seinem Sohn Thomas. Dieses Mal würde er aufpassen, noch einmal könnte er nicht durch diesen Schmerz.

    Werner ist 62 Jahre alt, seit sechs Jahren in Pension. Sie hatten ihn nach dem Vorfall nicht mehr arbeiten lassen, er könne keinen Stress verkraften, sei nicht mehr belastungsfähig, es könnten ihm keine schwierigen Entscheidungen mehr zugemutet werden. Nicht mehr geeignet für seine Arbeit im Polizeidienst. „Ausgemustert, denkt er manchmal, „abgeschoben, zu Nichts mehr nutze, ab zum alten Eisen.

    Die erste Zeit nach dem Unglück hatte er nicht arbeiten können, er hatte sich schuldig gefühlt. Schuldig wie die drei Affen: nichts Sehen, nichts Hören, nichts Sprechen. Schuldig, weil er nichts getan hatte, um das Unglück aufzuhalten. Und das Wissen in ihm, dass er eigentlich auch nicht bereit gewesen war, sich diesem Schicksalsschlag zu stellen. Das war das Schlimmste. Drei Jahre hatte er gebraucht, um wieder ein normales Leben führen zu können, ohne seine Frau Sabine hätte er es wohl nicht geschafft. Sabine, die ihn nachts in den Arm nahm, wenn ihn die Vergangenheit in Albträumen quälte, die ihm einen frischen Schlafanzug holte, wenn er nass geschwitzt wieder einmal den Kampf gegen die Drachen verloren hatte.

    Feuerspuckende, mörderische Drachen, die ihn in seinem Schlaf verfolgten. Drachen, die über ihn Gericht hielten und das Urteil war immer: Schuldig, Schuldig, Schuldig! Drachen, deren Zähne sich tief in sein Fleisch bohrten, bis er es nicht mehr aushielt und ihn der Traum zähneknirschend freigab.

    Jennifer darf niemals etwas von dieser grässlichen Geschichte erfahren, nahm er sich vor, sie soll völlig unbeschwert ihre Kindheit und Jugend genießen können, kein Wölkchen ihren himmelblauen Kinderhimmel trüben, dafür wollte er sorgen.

    „Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher, denkt er manchmal und es ist ihm nicht wohl in seiner Haut. „Äußerlichkeiten, sagt Sabine immer, „Äußerlichkeiten, das Aussehen hat doch überhaupt nichts mit dem Charakter zu tun." Hoffentlich behält sie Recht.

    Wenn er Sabine nicht gehabt hätte, er hätte Jennifer wohl in ein Heim geben müssen, er selbst hätte es die erste Zeit nicht geschafft. Sabine war immer die Stärkere in ihrer Beziehung gewesen. Nicht so sensibel, nicht so anfällig für Störungen. Viel pragmatischer als er, kann sie sich auf neue Situationen viel gelassener einstellen. Nimmt hin, was nicht zu ändern ist, tut in jeder Situation das Richtige. Sabine ist fünf Jahre jünger als er, Kindergärtnerin, hatte aber gerne ihre Berufstätigkeit aufgegeben, um sich um die kleine Familie und den Haushalt zu kümmern. Das kleine Häuschen hatte er von seinen Eltern geerbt, die als Vertriebene hier im Badischen eine neue Heimat fanden. Natürlich musste er umbauen, das Haus um ein weiteres Zimmer, mit einem neuen modernen Bad vergrößern. Als Polizist verfügte er über relativ viel Freizeit, das brachte der Schichtdienst so mit sich. Handwerklich geschickt war er auch, er konnte viel selber machen. Seine Sabine hatte ihm immer den Rücken freigehalten.

    Der große Garten, die Erziehung von Thomas, das hatte er ihr überlassen, das konnte sie besser als er. Es gab auch Zeiten, da war er wütend auf Sabine gewesen. Zornig, dass sie ihn nicht mit einbezogen hatte, als bei Thomas die ersten Symptome aufgetreten waren. Sie nichts unternahm, als die ersten Zeichen seiner Krankheit nicht mehr übersehen werden konnten. Aber hatte er es wirklich wissen wollen? War es nicht viel einfacher gewesen, die Augen zu schließen, seine heile Welt zu verteidigen? Er hatte sich immer als ganzen Mann gesehen, sein größter Wunsch war ein Sohn gewesen, der ihm ähnlich sei. Aber Thomas war ein kränkliches Kind, überaus sensibel, immer nah am Wasser gebaut. „Eine Memme, so nannte er ihn manchmal in seinen Gedanken. „Und zum Teufel ja, das war er auch und nein, es tut mir nicht leid.

    Er hätte einen besseren Sohn verdient als diesen schwächlichen, charakterlosen Taugenichts. „Vorbei, vorbei, das Rad lässt sich ohnehin nicht mehr zurückdrehen."

    Als Thomas sieben Jahre alt war, schenkte er ihm einen kleinen Schäferhund. Einen Spielkameraden sollte er haben, aber auch durch den Umgang mit einem hilflosen Tier lernen, Verantwortung zu übernehmen. Was hatte er diesem unschuldigen Lebewesen nur angetan? Werner schaudert es heute noch. Er hätte es gleich merken müssen, dass etwas nicht stimmt, der Hund zeigte deutlich, dass er Angst vor Thomas hatte. Lange wurde er nicht sauber, zog oft den Schwanz durch die Hinterbeine und winselte kläglich, wenn Thomas ihn an die Leine nahm, um mit ihm Gassi zu gehen. Oft war der Hund verletzt, wenn Thomas wieder mit ihm nach Hause kam, aber erst der Tierarzt machte ihn auf ein paar Eigentümlichkeiten aufmerksam.

    „Ich habe eine Reißzwecke in seinem Fell gefunden. Die Brandverletzungen sehen aus wie von einer Zigarette. Sie sollten Ihren Sohn beobachten, wenn er mit dem Hund unterwegs ist."

    „Was erlauben Sie sich, mein Sohn ist doch kein Tierquäler, entrüstete sich Werner. „Er ist sieben Jahre alt, Ihre Unterstellungen sind eine Frechheit, ich werde mir einen anderen Tierarzt suchen, Sie sind ja eine absolute Niete!

    Das war er leider nicht, er sollte Recht behalten und Werner musste sich später bei ihm entschuldigen.

    „Wissen Sie, ich hatte schon damals einen Verdacht, als Thomas Kaninchen angeblich im Teich ertrunken ist. Und wie sich ein Wellensittich im Käfig das Genick brechen konnte, war mir auch verdächtig."

    Werner war Thomas gefolgt, als er den Hund mit zum Spielen nach draußen nahm. Tatsächlich, kaum waren sie ein Stückchen zum Ort hinaus, Richtung See, hat Thomas ein Stöckchen geworfen. Als der kleine Hund das Stöckchen nicht mehr zu Thomas zurückgebracht hat, fing dieser an, unkontrolliert mit der Hundeleine auf das arme Tier einzuschlagen. Werner war entsetzt, als er das wutverzerrte Gesicht seines Sohnes sehen musste und mit welcher Verachtung er auf den hilflosen Hund einschlug. Das klägliche Winseln hat ihn noch lange in seinen Träumen verfolgt. Damals hätte er schon was unternehmen sollen, aber in seiner Vorstellung war es eine schiere Unmöglichkeit, einen Sohn zu haben, der möglicherweise nicht normal war, ein Soziopath sein könnte. Nein, das war nur kindlicher Unfug, das würde sich auswachsen. Von wem sollte er das auch haben, er war geistig normal, Sabine auch und in der näheren Verwandtschaft war ihm auch nichts bekannt. Obwohl, sein Vater hatte manchmal etwas von einem Cousin erzählt, der lange und oft im Krankenhaus gewesen sei. Während des Krieges sei er gestorben, was Genaues wisse man nicht. Spekulation, mehr nicht.

    Das Hundchen brachte er ins Tierheim und Thomas bekam nie wieder ein Haustier.

    Die ganze Schulzeit verhielt sich Thomas überwiegend unauffällig. Er war sehr introvertiert, hatte keine Interessen, die er mit seinen Schulkameraden teilen wollte. „Sport ist Mord", pflegte er zu sagen. Seine einzige Leidenschaft war das Lesen. Sein Zimmer war voll gestopft mit Büchern, die er sich teilweise in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Ganz besondere Exemplare hatte er sich gekauft. Alte Folianten, ledergebunden. Sein ganzes Taschengeld gab er für Bücher aus.

    Werner und Sabine war seine Lust an Okkultismus, Parapsychologie und den Geschichten über Hexen und Magier völlig unverständlich. Aber sie hatten es toleriert, mit irgendetwas musste sich der Junge ja beschäftigen. Er war wenigstens kein Herumtreiber, andere Eltern hatten ganz andere Sorgen mit ihren Kindern. Alkohol, Drogen, nein, da brauchte man bei Thomas nichts zu befürchten.

    Thomas wollte studieren. Ausgerechnet Religionswissenschaft. Seine Abiturnoten waren gut und Thomas bekam bald eine Zulassung von der Universität Freiburg. Und damit nahm das Unheil seinen Lauf.

    ***

    Sabine geht mit Jennifer ins Kinderzimmer. Es ist ein helles und freundliches Eckzimmer im zweiten Stock. Liebevoll eingerichtet mit hellen Kindermöbeln, einer bunten Tapete, auf der Schneewittchen und die sieben Zwerge tollen, die Prinzessin den Froschkönig küsst und Aschenputtel in goldenen Schuhen mit ihrem Prinzen tanzt.

    „Gute Nacht, Jenny, träum was Schönes." Sabine küsst ihre Enkelin, stopft die Zudecke fest um den kleinen Körper, streichelt ihr nochmals über die Wangen und geht aus dem Zimmer.

    ***

    Sabine setzt sich zu Werner auf die Coach, schenkt sich ein Glas Wein ein. Minutenlang hält sie ihr Glas in der Hand, ohne zu trinken. Sie will es nicht aussprechen, sie weiß, wenn ihre Gedanken zu Worten werden, muss sie sich damit auseinandersetzen. Jeder hängt seinen eigenen, schmerzlichen Phantasien nach. „Werner, kann es denn sein….."

    Er unterbricht sie schroff. „Sieh nicht gleich Gespenster, es gibt für alles eine Erklärung. Jenny war müde, sie hat wahrscheinlich nur geträumt."

    „Aber du weißt doch noch, was die Ärzte gesagt haben, Jennifer hat ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung. Ich bin ja richtig erschrocken, als sie sagte, dass sie dieses Flötenspiel hört."

    „Sabine, hör damit auf. Jennifer ist nicht krank. Sie war müde. Außerdem hat sie den ganzen Tag die Ohrstöpsel von ihrem CD-Player im Ohr, sie wird irgendwelche komischen Ohrgeräusche gehabt haben. Ich verstehe sowieso nicht, dass du ihr erlaubst, den ganzen Tag dieses Gejaule anzuhören."

    „Alle ihre Schulkameradinnen haben so ein Teil. Ich kann sie doch nicht zum Außenseiter machen. Du weißt doch auch, wie sensibel sie auf Ablehnung und Kritik reagiert und ihre Freunde kannst du an einer Hand abzählen. Und warum soll ich es ihr verbieten, du kannst doch auch mal mit ihr reden, auf dich hört sie sowieso besser als auf mich."

    „Ach, mach doch, was du willst. Aber gib nicht nachher mir die Schuld, wenn sie irgendwann einen Hörschaden hat."

    Sabine schweigt, eine diffuse Angst schnürt ihr die Kehle zu. „ Wir müssen aufpassen", sagt sie abschließend und wendet sich dem Fernsehprogramm zu.

    ***

    Jenny tanzt. Tanzt mit sich selbst, tanzt zu einer Musik, die nur sie selbst hören kann. Töne, die wie Perlen aus einer silbernen Flöte purzeln, bringen sie zum Lachen. Silberne Flöten, wohin sie auch sieht. Dunkelheit liegt schwer im Raum, nur erhellt von den silbernen Perlen, die wie Sternschnuppen aus den Flöten blitzen. Sie dreht Pirouetten, verbeugt sich rechts und links vor einem unsichtbaren Publikum, lacht glockenhell, wirbelt über blankes Parkett.

    Ihre schwarzen Locken tanzen mit ihr, die eisblauen Augen lachen und strahlen, bis ihr Blick auf einen großen, schwarz gekleideten Mann fällt. Er scheint ein Mann der Kirche zu sein, seiner Kleidung nach ist er Vikar. Sie kennt ihn nicht, auch nicht die dunkelhaarige, zierliche Frau, die an seiner Seite steht. Oder doch? Etwas kommt ihr bekannt vor, macht ihr Angst, der Mann schaut so finster auf sie herab. „Teufelsbrut, Teufelsbrut", hört sie ihn flüstern. Jenny wacht schreiend auf.

    ***

    Sie lauscht nach unten. Nein, ihren Schrei hat niemand gehört. Das würde jetzt gerade noch fehlen, dass sie Oma eine Erklärung abgeben müsste. Sie hat den seltsamen Blick bemerkt und sie weiß, sie muss aufpassen, was sie erzählt oder tut. Jennifer ist zwölf, bald dreizehn Jahre alt. Seit ihrem dritten Geburtstag lebt sie bei den Großeltern. Mammi und Vati sind im Himmel, erzählt die Oma manchmal und schaut Jennifer traurig an. Sabine und Werner sind die Eltern von Vati, die Eltern von Mammi wohnen irgendwo weit weg in einem Land im Osten, sie hat sie noch nie gesehen.

    „Du siehst aus wie deine Mammi, sagt Sabine oft, „die gleichen schwarzen Haare und die gleiche zierliche Figur, nur die Augen, die hast du von deinem Papa.

    An den Himmel glaubt Jennifer schon lange nicht mehr, genauso wenig wie an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen. Aber eines weiß sie genau. Das Spiel der Flöte hat sie nicht geträumt, da will ihr jemand etwas sagen, aber sie versteht die Worte der Flöte nicht. Noch nicht. Sie versteht auch sich selbst nicht mehr. Manchmal hat sie das Gefühl, tausend Gedanken schwirren in ihrem Kopf, aber keinen einzigen bekommt sie zu fassen. Das macht ihr Angst. Viele Dinge machen ihr Angst, über die sie früher nur gelacht hätte. Nachts, in der Dunkelheit ihres Zimmers, wenn sie nicht schlafen kann, stehen die Monster an ihrem Bett. Große, dunkle Gestalten, die mit Krallenfingern nach ihr greifen. Es bleibt ihr nur die Flucht, die Flucht unter die Bettdecke. Dort ist sie geborgen, hier kann ihr niemand etwas tun und tief unter der Decke verborgen schläft sie ein.

    Heute bietet die Decke keine Sicherheit. Schwer ist sie geworden, versucht sie zu ersticken, nimmt ihr den Atem nach dem seltsamen Traum. Sie schiebt sie zur Seite, zieht langsam und genüsslich ihr Nachthemd aus. Stolz betrachtet sie ihren kleinen, nackten Körper. Die kleinen, mandarinengroßen Brüste, den beginnenden Flaum an ihrer Scham.

    Ich bin bald eine Frau, denkt sie, streicht langsam über ihren Körper. Sie denkt an den großen blonden Mann aus ihrem Traum. Aus Angst wird Begehren. Begehren nach Etwas, das sie nicht kennt. Faszination des Unbekannten. Dieser Mann aus dem Traum, sie muss ihn finden, muss ihn berühren. Das Gefühl in ihr lässt sie frösteln, sie schlüpft in ihr Nachthemd, unter die Decke, schläft wieder ein.

    Ein paar Tage später, Jenny war gerade von der Schule gekommen, hat Werner eine Überraschung für sie parat. „Jenny, es ist soweit. Wir werden dein Zimmer renovieren. Du musst für ein paar Tage ins Gästezimmer ziehen. Im Keller sind Kartons, da kannst du alles hineinpacken, bis das Zimmer fertig ist. Die neuen Möbel kommen auch nächste Woche, schwarz, so wie du es wolltest. Also mir würde das ja nicht gefallen, aber na ja."

    Jenny jubelt: „Toll, Klasse und der Computer und die Musikanlage?"

    Werner lacht. „Immer langsam, Jenny, noch hast du nicht Geburtstag, warte es einfach ab."

    Jenny macht sich gleich auf den Weg in den Keller, um die Kartons zu holen. Sie kann es fast nicht erwarten. Sie hat sich schon Poster besorgt, Poster von Michael Jackson, Jonny Depp, Bryan Adams. Von Freundinnen hat sie sich CDs ausgeliehen. Sie fiebert regelrecht danach, in ihr neues Reich einzuziehen. Im Keller ist es unheimlich, dunkel, Spinnweben streifen über ihr Gesicht.

    „Wo sind die verdammten Kartons, schimpft sie vor sich hin und läuft fast gegen einen alten Schrank. Neugierig will sie die Schranktüren öffnen, aber sie sind fest verschlossen. Sie zuckt die Schultern, sucht weiter nach den Kartons. Endlich, zwischen einer Kommode und einem Regal mit Einmachgläsern findet sie sie. Natürlich total eingedreckt, wütend tritt sie kräftig an den Stapel, eine Menge Staub wirbelt auf, sie muss heftig niesen. Als sich der Staub wieder gesetzt hat, sieht sie zwischen den Einmachgläsern etwas aufblitzen. „Was ist das? Sie greift nach einem der Gläser, findet einen kleinen, silbernen Schlüssel. Neugierig nimmt sie ihn in die Hand. „Wo der wohl hingehört?" Sie schaut sich suchend um, wieder bleibt ihr Blick an dem alten Schrank hängen. Der Schlüssel sieht zwar gebraucht aus, ist aber

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