Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

The Blinds: Es ist ein Spiel. Also spiel!
The Blinds: Es ist ein Spiel. Also spiel!
The Blinds: Es ist ein Spiel. Also spiel!
Ebook380 pages5 hours

The Blinds: Es ist ein Spiel. Also spiel!

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Ich hatte keine Chance
Aber ich tat es
Ich war hier

Geheimnisse sind kein Fremdwort für Riley. Ihre Kindheitsträume hat sie längst begraben. Doch dann bietet sich ihr die Chance, an der bekanntesten Fernsehshow des Landes teilzunehmen - den Blinds. Und plötzlich rücken all diese Träume in greifbare Nähe ...
LanguageDeutsch
Release dateDec 14, 2017
ISBN9783746038629
The Blinds: Es ist ein Spiel. Also spiel!
Author

Emma Marten

Eine Welt ohne Bücher kann Emma Marten sich nicht vorstellen. Konnte sie noch nie. Schreiben gehört wie atmen zu ihrem Leben. Seit sie lesen kann, sind Bücher ihr ständiger Begleiter und Geschichten fanden schon in der Grundschule den Weg in ihr Herz. Wenn sie in ihrer freien Zeit nicht gerade eifrig in die Tasten tippt, liest sie Jugendbücher, schaut Serien oder geht wandern. Sie wohnt mit ihrem Freund zusammen in Köln.

Read more from Emma Marten

Related to The Blinds

Titles in the series (2)

View More

Related ebooks

Related articles

Reviews for The Blinds

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    The Blinds - Emma Marten

    38

    1

    »Riley?«

    »Hat noch jemand ein Schlüssel?«, rief ich gereizt zurück und schloss die Wohnungstür hinter mir. Ich fühlte mich wie erschlagen, wollte mich nur noch unter der Bettdecke verkriechen und die Augen schließen. Aber das durfte ich nicht.

    »Riley?«

    »Ja!« Ich musste mich zurücknehmen, dass meine Stimme nicht allzu schlecht gelaunt klang.

    Ich stellte die Einkäufe ab und hängte meine abgetragene Jacke an den Garderobenständer. Für einige Augenblicke stand ich nur da, atmete tief durch und hoffte, die Einkäufe würden sich von selbst in den Schrank räumen und das Abendessen würde wie von Zauberhand auf dem Esstisch erscheinen. Aber das passierte natürlich nicht.

    Kurz ließ ich meinen suchenden Blick durch die kleine Wohnung schweifen, um abzuschätzen, wann ich endlich ins Bett kommen würde: Auf der winzigen Küchenzeile stapelte sich das dreckige Geschirr, auf dem altersschwachen Fernseher sammelte sich der Staub zu einem Berg an und der Mülleimer quoll fast über. Seufzend öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer und fand ihn auf dem Bett vor.

    »Bist du heute überhaupt aufgestanden?«, fragte ich angespannt.

    Die Frage rutschte mir heraus, ich wollte sie nicht stellen, wollte die Antwort nicht hören.

    Ein Nicken folgte, genauso wie das Gefühl von Erleichterung, das sich in mir breitmachte. Ich setzte mich neben ihn und strich durch seine blonden Haare. »Abendessen?«

    Er lächelte nur, was er in der letzten Zeit immer seltener getan hatte. Ungelenk zog er einen Briefumschlag hinter seinem Rücken hervor. Ich nahm ihn mit einem lautlosen Seufzen entgegen, ahnend, was ich vorfinden würde. Als ich ihn das erste Mal in der Hand gehalten hatte, hatte ich es nicht glauben können. Das war vor ein paar Tagen gewesen. Damals hatte ich noch nicht gewusst, was sich darin befand.

    Jetzt wusste ich es.

    Er beobachtete mich mit einem kindlichen Funkeln in den Augen, obwohl ich bereits schon einmal Nein gesagt hatte.

    Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Müdigkeit und Hunger machten das nicht gerade leichter, aber ich wollte ihm jetzt nicht wütend an den Kopf werfen, dass niemals eintreten würde, was er sich wünschte.

    Ständig fragte ich mich, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, was ich erwartet hatte. Ich wusste, wie sehr er sich das für mich wünschte. Früher war ich das Mädchen gewesen, dessen Kopf in den Wolken gesteckt hatte, mit dem Älterwerden kehrte sich das offenbar um.

    Ich wusste nicht, wie ich die Bestätigung bekommen hatte. Vermutlich musste ein bestimmter Prozentsatz aus den Slums erfüllt werden. Vielleicht luden sie auch einfach jeden aus den Slums ein, um für die Fahrkarte noch extra Geld einzunehmen. Bei den Menschen im Zentrum konnte man nie wissen.

    »Ich dachte, wir hätten das geklärt.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme leicht ungehalten klang.

    Trotzdem öffnete ich den Umschlag und fischte eine Fahrkarte ins Zentrum heraus, dazu die Einladung, die ich schon vor einigen Tagen bekommen hatte. Ich hätte sie ihm gar nicht zeigen und gleich verbrennen sollen. Immer wieder fragte ich mich, wieso ich es nicht getan hatte. Er hätte nie davon erfahren, schließlich konnte er mich nicht nach etwas fragen, von dem ich keine Ahnung haben sollte. Ich war so schockiert gewesen, dass ich ihn gefragt hatte, ob er das gewesen war, ob er mich angemeldet hatte.

    Ich hätte nicht so schnell reagieren dürfen.

    Ich hätte überlegter handeln sollen.

    Ich hätte es mir denken können.

    Doch ich war nie ein Mensch gewesen, der lange über etwas nachdachte und die Konsequenzen gegeneinander abwog. Ganz im Gegenteil. Das brachte mich auch in solche Situationen.

    Ich lächelte traurig. »Ich werde dort nicht hingehen.« Wieso lächelte ich? Ich wollte doch ernst sein, musste ernst sein.

    »Du hast es mir versprochen«, flüsterte er.

    Hatte ich nicht. Das kleine Mädchen von damals hatte es. Das Mädchen war ich nicht mehr.

    »Ich kann nicht. Ich muss arbeiten. Geld verdienen. Das kann ich da nicht.«

    »Tu es für mich.«

    »Angenommen ich gehe dorthin, was machst du dann? Gehst du arbeiten? Wirst du Geld verdienen?«, fragte ich geradeheraus.

    Meine eigenen Worte überraschten mich. Er hatte das alles getan - davor. Ich wusste, dass er mich nur beschützen wollte. Wieso konnte er nicht verstehen, dass ich ihn auch beschützen wollte, dass ich mich um ihn sorgte, dass ich ihn brauchte?

    In seinen Augen konnte ich den Vorwurf erkennen, den er sich selbst machte. »Bitte.«

    Bevor ich ihm erneut widersprechen konnte, biss ich mir auf die Lippen. Wie oft sprachen wir darüber, dass er sich für mich eine bessere Zukunft wünschte? Eigentlich gar nicht, außer der wenigen Male, seitdem ich die Einladung bekommen hatte. Ich konnte es immer nur in seinen Augen sehen. In diesen Augen, die bis auf den Grund meiner Seele blicken konnten, die mich besser kannten als ich mich selbst.

    Natürlich wollte er, dass es mir besser ging, ich wollte das auch. Doch im Gegensatz zu ihm war ich in diesem einen Punkt realistisch.

    »Ich werde mit Mrs. Winston reden.« So viel zum Thema realistisch.

    Wenn ich nicht ginge, würde er sich ewig Vorwürfe machen, dass ich meine Chance nicht genutzt hatte - seinetwegen. Eine Chance, die er mir irgendwie ermöglicht hatte.

    Aber was für eine Chance bitte? Wieso sollte sich ein Coach für mich entscheiden?

    »Hab ich schon.«

    Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab dich lieb.« Ich hatte ihm noch nie lange böse sein können.

    »Versprich mir, dass du hingehst!« Er kannte mich zu gut.

    Ich grummelte genervt, erhob mich und ging zur Küchenzeile, die Tür ließ ich offenstehen. Ich versprach es ihm nicht, zumindest nicht laut. Die Entscheidung würde ich morgen von meiner Laune abhängig machen, jedenfalls redete ich mir das ein. Klar, als Kind hatte man Träume, Träume von einer Märchenwelt, einem Märchenprinzen und einem Schloss in rosafarbenen Wolken.

    Doch ich war kein kleines Mädchen mehr, schon lange nicht mehr. Ich lebte nicht in einem Traum, ich lebte in der gnadenlosen, harten Wirklichkeit und im Gegensatz zu dem kleinen Mädchen von früher hatte ich begriffen, dass Träume einen nicht weiterbrachten. Dass sie einen nur verwirrten und glauben ließen, man könne die Sterne vom Himmel holen. Sie waren Erwartungen, die irgendwann enttäuscht werden würden.

    Ich holte die Einkäufe, stellte zwei Töpfe auf den Herd und begann zu kochen, nebenbei räumte ich die Tüten aus. Schon bald strömte Essensgeruch durch das ganze Zimmer. Seit dem Frühstück hatte ich nichts außer einer matschigen Banane gegessen, weshalb mein Magen zu knurren begann. Wie so oft aßen wir im Bett. Ich schob mir den Reis mit der wässrigen Soße mit einem Löffel in den Mund und versuchte dabei, ihn nicht zu genau zu beobachten. Als wir fertig gegessen hatten, spülte und trocknete ich ab, räumte die Wohnung auf und legte mir meine beste Kleidung für morgen zurecht. Zwar hatte ich mich immer noch nicht entschieden, doch es zeigte ihm zumindest meinen guten Willen.

    »Weck mich morgen, wenn du aufbrichst.«

    »Okay«, log ich und schloss die Augen.

    Natürlich tat ich es nicht.

    Ich zog mich im Dunklen an, ging ins Bad, schminkte mich ausnahmsweise und kämmte meine blonden Haare, sodass sie glatt auf meine Schultern fielen. Dann packte ich meinen Rucksack, legte Mrs. Winston einen Zettel hin und ging. So leise wie möglich schlich ich die knarrende Treppe hinunter, trat durch die Tür nach draußen.

    Wieso ich es tat? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer.

    Es war später Herbst. Der kalte Wind wirbelte Müll wie Blätter durch die Luft. Mit eiligen Schritten ging ich zur Straßenbahn und fuhr zum naheliegenden Bahnhof für die Schnellzüge. Während die Bahn sich wackelnd und rumpelnd zu ihrem Ziel bewegte, beobachtete ich draußen, wie zwischen den Plattenbauten die Sonne aufging. Einige Obdachlose kauerten in Hauseingängen oder in Haltestellen, die längst nicht mehr vom Bus angefahren wurden. Es war ein Wunder, dass die Straßenbahn zu den Hauptverkehrszeiten fuhr.

    Durch ein zerschlagenes Fenster pfiff der Wind, blähte Jacken und Mäntel der Passagiere auf, die sich auf ramponierten Sitzen niedergelassen hatten, sich gegen die Wände lehnten oder einfach auf dem Boden saßen. Ich war freilich nicht die Jüngste. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen mit dunklen Augenringen und blasser Haut saß schräg gegenüber auf dem Boden, das ihren kleinen Bruder auf dem Schoß festhielt, der mit einem zerfetzten Stofftier spielte. Ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln, sie sah einfach durch mich hindurch, als würde ich nicht existieren.

    Im Bahnhof angekommen fischte ich nervös die Fahrkarte aus meinem Rucksack und ging zu dem Gleis hinüber, von dem der Schnellzug abfuhr. Der strahlend weiße Zug wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Anstatt der Räder wie bei der Straßenbahn schwebte er über den Schienen. Als Kind hatte ich mir vorgestellt, dass er direkt in den Himmel fliegen würde, was er natürlich nicht tat. Unruhig passierte ich den Fahrkartenscanner, der in der Tür des Schnellzuges installiert war. Jeder, der keine Fahrkarte besaß, prallte an dem bläulichen Kraftfeld ab. So gelangten nur diejenigen, die sich eine Karte leisten konnten, ins Zentrum.

    Für die Fahrt hatte ich mir keine Beschäftigung mitgenommen, für Bücher oder andere Luxusgegenstände fehlte das Geld. Nur die Panflöte, die er mir geschnitzt hatte, trug ich bei mir.

    Ich blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie die schmucklosen, hässlichen Plattenbauten an mir vorüberzogen und der Ziegelbau des Bahnhofs immer kleiner wurde und dann ganz verschwand. Ich war nicht alleine im Abteil, trotzdem sprach niemand, es waren nur die Geräusche des Zuges zu hören. Ich beobachtete die anderen Passagiere, um einzuschätzen, weshalb sie zum Zentrum unterwegs waren. Die meisten vermutlich aus demselben Grund wie ich, sonst wären hier nicht so viele Kinder. Andere waren so glücklich und hatten im Zentrum Arbeit gefunden, wobei man das nicht wirklich als Glück bezeichnen konnte. Man schwebte zwar nicht in Lebensgefahr wie bei der Arbeit in den Kraftwerken und Fabriken, dafür wurde man wie der letzte Abschaum behandelt.

    Ich presste mein Gesicht gegen die kühle Scheibe und versuchte, meine Aufregung zu mindern. Ich schob sie darauf, dass ich das Zentrum wiedersehen würde. Denn wieso sollte ich mich vor einem Auftritt fürchten, der mir sowieso nichts bedeutete?

    Nach ungefähr einer Stunde wichen die eintönigen Plattenbauten, riesigen, vereinzelt stehenden Villen in langen Hügelketten mit eigenen Pools. Einige mit endlosen Fensterfronten, andere sandfarben mit ausladenden Balkonen. Die Gegend war mir fremd, zwar wirkten die Häuser imposant, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass wirklich Menschen dort leben sollten. Was machten sie mit all dem Platz? Ich konnte geradeso die Miete für unsere Wohnung aufbringen, was musste erst so ein Grundstück kosten, ganz zu schweigen von Elektrizitäts- und Wasserkosten?

    Das letzte Mal, als ich im Zentrum gewesen war, war ich wohl fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Damals, vor so langer Zeit, hatte ich noch nicht geglaubt, unter der Last zusammenzubrechen, unter den Gefühlen zu ersticken. Damals hatte ich mir noch vorgestellt, wie es wäre im Zentrum zu leben. Die besten Lebensmittel einkaufen zu können, sich keine Sorgen wegen Straßengangs oder Verbrechern zu machen, die beste medizinische Versorgung, die das Land zu bieten hatte, keine Ausgangssperre, keine Abfälle auf den Straßen, Bäume und Blumen im Vorgarten, vor allem keine hungrigen Kinder und keine Obdachlosen.

    In meiner perfekten Welt gab es weder Armut noch Krankheiten, dort hatten die Menschen alle das gleiche Recht und die gleiche Versorgung, es gab keinen Unterschied zwischen ihnen.

    Nicht wie in der realen Welt.

    Bald sah ich den riesigen Bahnhof näherkommen, meine Erinnerungen daran waren verschwommen, aber ich erkannte ihn zumindest als die Endstation dieses Zuges. Daneben ragte eine monströse Halle auf, deren schwarzes Kuppeldach von einem ovalen Rundbau getragen wurde, aus dem gleichen Material wie das Dach.

    Das Forum.

    Dort fanden die Blinds statt.

    Es war einzig für diese gebaut worden.

    Oft genug hatte ich es auf unserem Fernseher bewundern können. Der Architekt hatte in diesem Bau ein Meisterwerk geschaffen. Die Außenverkleidung bestand aus mehreren Bildschirmen, dazwischen untergebrachte Minigeneratoren projizierten Hologramme in die Luft, die auf die Besucher herabstießen und in tausend Sternen explodierten. Früher hatte ich dem Schauspiel stundenlang zusehen können, jetzt erinnerte es mich nur noch an die grenzenlose Macht, die das Zentrum besaß und bei jeder Gelegenheit zur Schau stellte.

    Die Blinds. Die berühmteste Fernsehshow von Free America. Aufwendig. Dramatisch. Spektakulär. Von einer Größenordnung und Intensität, die alles Vorangegangene in den Schatten stellte. Allein in der ersten Runde entschied sich je einer von fünfhundert Coaches für einen der über tausend Kandidaten. Von da an begleitete und beriet er diesen bis zu dessen Ausscheiden oder dem unwahrscheinlichen Sieg. Den Sieger erwartete endloser Ruhm und Reichtum.

    Die Zentrumsbürger meldeten sich an, weil es Tradition geworden war, um die Ehre zu verteidigen und sich an anderen zu messen. Für sie waren der Gewinn nur Kleckerbeträge auf ihrem ohnehin gut gefüllten Konto.

    Die Armen meldeten sich an, weil sie die irrationale Hoffnung hatten, gewinnen oder sich zumindest ein Leben im Zentrum ermöglichen zu können. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass ihre Chance gegen Null ging.

    Meine Chance.

    In den letzten Jahren waren die Aufgaben teilweise so gefährlich gewesen, dass es zu Todesfällen gekommen war. Die Show hieß deswegen Blinds, weil der ursprüngliche Sinn bei der ersten Ausstrahlung darin bestanden hatte, Geheimnisse zu offenbaren, die die Zuschauer und die Jury überraschten und begeisterten. Je besser das Geheimnis, desto mehr Punkte.

    Doch schon in der ersten Staffel hatte man feststellen müssen, dass diese Art von Unterhaltung auf die Dauer langweilig wurde. Die Menschen im Zentrum wollten für ihr Geld etwas geboten bekommen. Es war viel aufregender die Talente irgendwelche aberwitzigen Sachen machen zu lassen, als nur ihre Geheimnisse zu hören. Es gab schon so viele verschiedene Aufgaben, die sich die Organisatoren ausgedacht hatten, dass ich mich unmöglich an alle erinnern konnte.

    Ich hatte mich nicht beworben.

    Das hätte ich nie im Leben getan.

    Das hatte er für mich getan.

    Ich wollte dort nicht hingehen, aus tiefstem Herzen hasste ich diese Show, denn genau das war sie.

    Eine Show. Sie zeigte nichts vom richtigen Leben. Sie zeigte nur Luxus, Macht und Gnadenlosigkeit.

    Aus den Slums hatte es bisher keiner geschafft, zu gewinnen. Dafür fehlte uns die Ausbildung, die andere Kandidaten genossen hatten, und die finanziellen und sozialen Mittel der besten Coaches.

    Ich hatte also gar keine Chance.

    Aber ich tat es.

    Ich war hier.

    2

    Nachdem der Zug gehalten hatte, stieg ich langsam aus. Mit jedem Schritt, überlegte ich mir, ob ich nicht umkehren und mir die Blamage ersparen sollte.

    Doch er würde dann enttäuscht sein. Und er hatte Geld für die Fahrkarte ausgegeben, zumindest die sollte nicht umsonst gewesen sein.

    Ich könnte lügen.

    Doch gleichzeitig wusste ich, dass er die Show verfolgen würde. Und dass ich ihn nicht belügen konnte. Das hatte ich nie gekonnt.

    Die Menschen, die an mir vorbei strömten, sahen fast aus wie ich. Sie waren meistens größer, fast alles Männer in schicken Anzügen. Mit Haaren auf dem Kopf, einer Nase, Augen und Mund, zwei Ohren. Menschen wie ich und doch könnten wir nicht unterschiedlicher sein.

    Sie sprachen oder tippten irgendetwas auf ihren KITs - wofür auch immer die Abkürzung stand - jedenfalls konnte man laut den Strahlemännern in der Werbung alles damit anstellen.

    Ihre Mienen waren emotionslos, zeigten weder Entbehrung noch Angst, wie sie ihre nächste Mahlzeit bezahlen sollten. Die Menschen im Zentrum hatten alles im Überfluss, sie scherten sich nicht um die Anderen, die sie wie Ameisen unter ihren Schuhen zerquetschten.

    Ich fädelte mich in den geordneten, chaotischen Strom von Menschen ein, die aus dem Bahnhof quollen. Hier war alles sauber. Roboter wischten den blitzblanken Boden, bedienten Informationsstände oder Fahrkartenschalter. Draußen sah es genauso aus. Roboter machten all die Arbeit, die die Menschen hier nicht machen wollten. Von selbstfahrenden Müllautos bis zu mechanischen Gärtnern. Es könnte so viel mehr Arbeit geben.

    So einen Roboter bekam man nicht zu sehen, dort wo ich herkam. Da war nur ein alter, kaputter, der schon seit ich mich zurückerinnern konnte, immer die gleiche Stelle fegte und unaufhörlich vor sich hin plapperte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn abzuholen. Er war einfach vergessen worden, so wie ich mich oft vergessen gefühlt hatte.

    Ich überquerte die Straße und reihte mich in die Schlange vor dem Forum ein. Aus meinem Rucksack holte ich meine Einladung hervor, damit ich sie griffbereit hatte. Während ich vorrückte, stieg meine Nervosität. Hier waren Menschen in allen Altersklassen vertreten, von zwölfjährigen Kindern bis zu Rentnern. Die meisten trugen ihre beste Kleidung, hatten sich hübsch gemacht, als ginge es gleich ins Finale. Viele wirkten überfordert von dem Stress des Zentrums. Sie kamen alle aus den Slums.

    Menschen aus dem Zentrum sah ich keine, sicherlich durften die Privilegierten einen anderen Eingang benutzen, damit sie sich nicht mit dem niederen Volk abgeben mussten.

    Meine Nervosität ließ mich unruhig zappeln, immer wieder sah ich mich um. Sicherheitsroboter mit blitzweißen Körpern und gelben Augen suchten die Menge ab und scannten die Gesichter nach Auffälligkeiten. Aus Erfahrung wusste ich, dass ihre Waffen in ihre Panzerung integriert waren, sodass kein Zivilist sie an sich reißen konnte. Wenn sie in den Slums auftauchten, hieß das nichts Gutes, hier sollten sie die Menge beschützen. Vor was auch immer. Gangs stifteten hier sicher keine Unruhe.

    Aber sie waren nicht in Alarmbereitschaft, sonst würden ihre Augen in einem tödlichen Rot leuchten.

    »Name?«, fragte mich ein Roboter, als ich an der Reihe war. Sein Mund leuchtete beim Sprechen auf, wenn man überhaupt von einem Mund sprechen konnte. Seine Augen schienen mich genervt anzusehen. Auch wenn ich mir das nur einbildete, kam ich mir sofort noch unerwünschter vor.

    »Riley McAvish.«

    »Deine Einladung?«

    Ich reichte sie ihm. Der Roboter scannte sie mit den Augen, dann gab er sie mir zurück. »Einen fröhlichen Aufenthalt.«

    Als würde ich einen Freizeitpark besuchen, oder so. Nicht, dass ich jemals in einem gewesen war. Aber so hatte ich es mir immer vorgestellt.

    Drinnen war alles technisiert. Es gab Sitzgelegenheiten und Stehtische in sanften Farben: Cremeweiß und karamellfarben. Die Decke und die Wände waren mit holographischen Bildschirmen versehen, die Szenen und Kandidaten aus den vorangegangenen Shows zeigten. Immer wieder entdeckte ich das markante Gesicht des ersten Siegers. Obwohl er damals gerade erst vierzehn war, war er muskulös, sodass das weiße T-Shirt um die Schultern spannte.

    Die letzte Aufgabe, das Finale, war damals ein Schwertkampf gewesen, den er für sich entschieden hatte. Publikumsliebling, erster jüngster Gewinner der Blinds, erfolgreich, charismatisch, überirdisch reich und keine negative Presse. Zu Duke Donovan konnte man alles sagen. Er wusste, wie man in dieser Welt spielte. Er hatte das größte Spiel gewonnen.

    Überall standen Menschen, unterhielten sich, trotzdem war die Lautstärke angenehm, so als würden alle nur flüstern. Kameras flogen umher, wobei ihr matter Körper nur auffiel, weil ich nicht an den Anblick gewöhnt war. Die meisten nahmen sie nur zur Kenntnis, um Kusshände hineinzuwerfen. Es wirkte, als wollten sie in dieser Welt unbedingt aufgehen, aber ihre Kleidung verriet sie.

    Ich ließ mich am Rand des Geschehens gegen die Wand gelehnt nieder und umklammerte die Holzflöte, als würde sie mir Halt geben. Das Herz sank mir in die Hose und ich wünschte mir, ich hätte mich anders entschieden und wäre zurückgefahren.

    Was sollte ich hier?

    Eine Frau mit roten Locken schmetterte ohne Musik eine Oper, wobei ihre Stimme mehrere Oktavensprünge machte, ein anderer muskelbepackter Mann stemmte Gewichte. Eine Frau im abgetragenen Glitzerkostüm tanzte, drehte sich sooft, dass mir allein vom Zusehen schwindelig wurde, ein vierter spielte Gitarre und rockte mit einer rauchigen Stimme ab, sodass um ihn herum Beifall ausbrach.

    Was sollte ich hier?

    Hatte ich echt vor, mit einer Holzflöte auf die Bühne zu gehen und zu spielen?

    Ich musste verrückt sein.

    Ich würde mich total blamieren.

    Der Tag verging, die Stunden zerrannen. Ich fühlte mich sekündlich unwohler und rief mir immer wieder ins Gedächtnis, dass unsere Fähigkeiten nur bedingt zählten. Es war vielmehr unsere Ausstrahlung, unser Wirken auf die Coaches, unsere Überzeugungskraft. Es kam nicht darauf an, dass ich nur Flöte spielte. Zumindest redete ich mir das ein, um meine Nerven zu beruhigen.

    Es klappte keine Sekunde.

    Ich war schon immer schüchtern und zurückhaltend gewesen, wenn es um andere Menschen ging. Mein Vertrauen verschenkte ich nicht leichtfertig und weihte andere Menschen schon gar nicht in meine Geheimnisse ein. In den letzten Jahren hatte ich mich zu einer guten Lügnerin entwickelt, in den letzten Jahren hatte ich gelernt, was es bedeutete, aus den Randbezirken zu kommen. Egal wie gut du warst, egal wie sehr du dich angestrengt hast, du wirst niemals gut genug sein.

    Ich versuchte die Geheimnisse von den anderen zu erraten, um mir die Zeit und meine Nervosität zu vertreiben.

    Wenn die Darbietung überzeugte und ein Coach einen auswählte, war man sofort weiter. Manchmal kam es aber vor, dass sich ein Coach zwar für einen interessierte, aber dann noch ein Geheimnis hören wollte, um sich entscheiden zu können. Man konnte sich auch gleich für ein Geheimnis entscheiden, was nicht unbedingt Pluspunkte brachte. Wozu brauchte man schon ein Geheimnis, wenn man den Menschen dahinter nicht kannte? Es interessierte keinen, weil dich niemand kannte.

    Ein paar Mädchen, die ich von früher aus der Schule kannte, hatten gemeint, dass sowieso alles vorher abgesprochen war.

    Die Blinds dienten nicht dazu, jemanden berühmt zu machen, sie dienten nur dazu, die Massen zu unterhalten und Geld in die Kassen fluten zu lassen.

    Ich fühlte mich von Geheimnissen nicht gerade angezogen, dafür trug ich zu viele mit mir herum.

    »Du bist Riley McAvish. Ich bin Eddy Latham.« Eine Frau streckte mir die Hand entgegen und ich ergriff sie zaghaft. »Bist du alleine hier?«

    Wo war die gerade hergekommen? War ich so tief in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich sie glatt übersehen hatte?

    »Ja.« Meine Stimme zitterte ein wenig.

    Die Moderatorin, die die letzten beiden Shows begleitet hatte und mir deswegen bekannt war, setzte sich zu mir auf den Boden. Eine völlig ungewöhnliche Aktion, die mich irritierte.

    Sie hatte hellbraune Haare mit dunklen Highlights, braungrüne Augen und trug ein enges violettes Kleid. Zwar war ihre Statur durchschnittlich, doch ihr Gesicht wirkte warm und freundlich, sodass man versucht war, ihr sofort sein Herz auszuschütten. Natürlich war sie mit Absicht ausgewählt worden, um den Kandidaten vor den Shows so manch unbewusste Offenbarung zu entlocken.

    »Sonst werden die anderen Kandidaten immer von einem Haufen Fans begleitet.« Sie schien der Umstand, dass ich niemand dabei hatte, nicht zu stören, oder sie war einfach professionell. »Wo kommst du her?«

    »Vielleicht ist genau das mein Geheimnis.« Ich sah sie mit einem Glitzern in den Augen an, versuchte, geheimnisvoll zu wirken. Natürlich war es für jeden offensichtlich, dass ich aus den Randbezirken kam.

    Wenn ich auf die Bühne gehen würde, würde genau dieses Interview kurz vorher den Zuschauern gezeigt werden, oft genug hatte ich das gesehen. Selbst wenn ich ausscheiden sollte, konnte ich mir zumindest einreden, dass ich alles versucht hatte.

    Sie grinste. »Gut gekontert. Du bist gleich dran. Willst du irgendwen vorher grüßen?«

    »Sicher.« Ich zauberte ein Lächeln auf meine Lippen, schaffte es nur, weil ich an ihn dachte.

    Die Moderatorin wartete, doch ich sagte nichts.

    Eins hatte ich in den Randbezirken gelernt, Schweigen war Gold, in diesem Fall Überleben.

    Als Eddy begriff, dass ich nichts sagen würde, lächelte sie in die Kamera und nannte noch einmal meinen Namen: »Riley McAvish, die Zuhause einen geheimnisvollen Fremden grüßt.«

    Sie lächelte und eskortierte mich dann durch den Raum zu einem unscheinbaren Eingang, der von einem Türsteher geöffnet wurde. Ich ging ohne ein weiteres Wort hindurch.

    Es waren genau dreihundertsiebenundfünfzig Schritte bis zur Bühne, wo ich stehenbleiben musste. Auf dem ganzen Weg war es mir vorgekommen, als wäre ich mehr Menschen begegnet als den ganzen Tag über, was übertrieben war. Aber die Crew hinter der Bühne war riesig, so viele Gesichter, so viele Menschen, die vollständig aufeinander abgestimmt waren. Eine Frau, die mir Makeup auftrug, eine andere, die meine Haare überprüfte, ein Mann, der mich fragte, ob ich irgendetwas auf der Bühne brauchte und was ich zeigen würde. Andere, die an meiner Kleidung zupften, mir sagten, wie lange ich Zeit hatte, wie viele Coaches sich noch nicht entschieden hatten. Ich bekam von dem Wortschwall weniger als die Hälfte mit.

    Meinen Rucksack hatte ich einer Frau in einem engen, weißen Kleid anvertraut, die die Interviews danach führen würde, nur die Flöte hatte mich bis auf die Bühne begleitet. Sie war das Einzige, worum ich meine verschwitzten Hände legen konnte.

    Der Zuschauerraum war dunkel. Dort saßen nur die Coaches, das Publikum wurde erst in der nächsten Liveübertragung zugelassen. Ein Scheinwerfer flammte auf, blendete mich. Ich zitterte, strich mir eine Strähne meiner blonden Haare hinters Ohr, dann setzte ich die Flöte an die Lippen, schloss die Augen und blies den ersten Ton.

    Die leise Melodie trug mich fort. Ich spürte die weichen, sanften Töne tief in meinem Körper, tief in meinem Herzen. Sie ließ mich fort schweben, auf Engelschwingen in eine schöne, bessere Vergangenheit. Ich vernahm sein Lachen, hörte mein eigenes getragen vom Wind, der mir die Haare aus dem Gesicht strich. Spürte seine warmen Arme um meinen Körper. Ich vernahm ihre Stimmen, ohne Wut zu empfinden, spürte ihre Küsse sanft und wohltuend auf meiner Haut. Sonnenlicht wärmte unsere Körper, eng verschlungen, Gras unter den nackten Füßen. Schnelle Schritte, aufgefangen, bevor ich fiel. Sicherheit. Geborgenheit. Blaue Augen, von denen ich wusste, dass ich sie nie wieder gehen lassen würde, dass ich sie festhalten würde, dass wir zusammen gehörten. Leise Worte, dass wir gehen mussten. Proteste, Widerworte, bittend, flehend. Dieser Tag durfte noch nicht zu Ende gehen. Arme, die mich hochhoben und forttrugen. Ein glänzender Blick zurück auf ein Leben, das nie wieder so sein würde, auf einen Traum, der vom Regen fortgewaschen wurde wie ein Kreidebild auf der Straße. Unvergessen, verborgen, aber für immer fort.

    Tränen rannen meine Wangen hinunter. Zu schnell verklang das Lied, zu schnell musste ich wieder aufhören und die Augen öffnen. Ich blinzelte wegen der Helligkeit, dann entdeckte ich ihn vor mir sitzen, die Beine unterschlagen, zu mir aufblickend. Ich starrte in grünblaue Teiche, die voller Rührung waren.

    Ich lächelte zaghaft und wischte mir verlegen die Tränen fort. Ich träumte noch immer. Ich musste einfach träumen. Das konnte doch nicht wirklich wahr sein?

    »Wie heißt du?«

    »Riley«, antwortete ich zitternd, konnte kaum glauben, dass mich ein Coach ausgewählt hatte. Das war alles noch so fern, alles so weit weg, als wäre mein Gehirn von meinem Körper getrennt.

    »Das war wunderschön, Riley. Hast du Lust mit

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1