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Extremitäten: Historischer Kriminalroman
Extremitäten: Historischer Kriminalroman
Extremitäten: Historischer Kriminalroman
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Extremitäten: Historischer Kriminalroman

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About this ebook

Berlin, 1924. Eine grauenvolle Mordserie, die sich in ihren bestialischen Details offenkundig an einem soeben anlaufenden, brandneuen Stummfilm orientiert, hält die Hauptstadt der noch jungen Weimarer Republik in Atem. Die Polizei tappt restlos im Dunkeln und übergibt daher den aussichtslos scheinenden Fall dem vergleichsweise unerfahrenen Kollegen Roderich Unfried, dessen Leidenschaft für Gruselgeschichten und Schauerromane unvermutet zum unschätzbaren Vorteil bei der Aufklärung des verstörenden Verbrechens avanciert.
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateDec 20, 2017
ISBN9783740756321
Extremitäten: Historischer Kriminalroman
Author

Martin Genahl

Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Ge-schichte, Psychologie und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti.

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    Extremitäten - Martin Genahl

    Martin Genahl wurde im niederösterreichischen Stockerau geboren und studierte Komposition, Geschichte, Musikwissenschaft und Numismatik in Köln und Wien, wo er als freischaffender Schriftsteller und Komponist lebt. Sein literarisches Schaffen umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Hörspiele und Libretti. „Extremitäten ist sein zweiter Kriminalroman (nach „Der Tag, an dem es Kapitalisten regnete), der im Berlin der Weimarer Republik spielt.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind ungewollt und rein zufällig.

    Für Ela

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1 – Vorspann

    Kapitel 2 – Aufblende

    Kapitel 3 – Schwenk

    Kapitel 4 – Szene

    Kapitel 5 – Nahaufnahme

    Kapitel 6 – Sequenz

    Kapitel 7 – Montage

    Kapitel 8 – Froschperspektive

    Kapitel 9 – Weitwinkel

    Kapitel 10 – Vogelperspektive

    Kapitel 11 – Halbtotale

    Addendum I – Regieanweisung

    Kapitel 12 – Schnitt

    Kapitel 13 – Totale

    Kapitel 14 – Syntagma

    Kapitel 15 – Abspann

    Addendum II – Filmmusik

    Addendum III – Danksagung

    Kapitel 1 – Vorspann

    Lieblingstage machen wenig Sinn, was wiederum durchaus Sinn macht. Eine Erkenntnis, die natürlich keinen Hinderungsgrund darstellt, dass mir, seit ich mich erinnern kann, der Mittwoch der mit Abstand erfreulichste Tag der Woche ist. Das mag daran liegen, dass ich an einem Mittwoch geboren bin, oder mit seiner besonderen Funktion als Wochenteiler und der damit einhergehenden kleinen Zäsur. Nicht auszuschließen ist auch die Variante, dass ich mit dieser wenig fundierten Vorliebe lediglich einem meiner zahlreichen Spleens fröne, von denen mein enges Umfeld so wortreich zu berichten weiß. Und wie der Zufall es will, der heutige Tag ist ein Mittwoch, was ein ebenso spontanes wie undefinierbares Wohlbehagen in mir auslöst. Kann aber auch am Wetter liegen, um eine weitere Plattitüde zu strapazieren. Der Ausblick jedenfalls ist vielversprechend. Durch die Eisblumen am Fenster brechen sich die letzten Strahlen der rasch untergehenden Sonne, das Feuer im Kamin knistert wohlig und sanft, und vor mir liegt die begründete Hoffnung auf einen ungestörten, behaglichen Abend. Ich hätte es wahrhaft schlimmer treffen können. Die moderne Musik, die ohne Unterlass aus dem Radio sprudelt, ist mir im Laufe der Jahre immer fremder geworden, aber ich habe mich zu sehr an diese Unart der permanenten akustischen Berieselung gewöhnt, als dass ich nun so einfach auf sie verzichten könnte.

    Schritt für Schritt schraube ich die Lautstärke so weit nach unten, bis nur noch ein kaum wahrnehmbarer Klangteppich durch den Raum wabert. Mehr bedarf es nicht, andernfalls würde ich es schon wieder als störend empfinden. So ist es perfekt. Derart zufriedengestellt lasse ich mich in meinen ebenso alten wie heißgeliebten Ohrensessel fallen. Die Einsamkeit tut gut, denn von Zeit zu Zeit, wenn die Tage kürzer und kälter werden, ordne ich gerne meine Gedanken. In dem Alter, das ich mittlerweile erreichen durfte, eine überaus löbliche Angewohnheit, wie mir scheint. Seit annähernd einem halben Jahrhundert lebe ich nun schon in der Fremde, wie der Volksmund jeden Wohnsitz abseits des eigenen Geburtsortes nennt, eine Fremde, die mir jedoch zusehends zur zweiten Heimat geworden ist. Trotzdem ist es ihr nie möglich gewesen, jene erste, ursprüngliche Heimat, die wir vermutlich alle als die einzig wahre betrachten, aus meinen Gedanken zu verdrängen oder sogar ihren Platz einzunehmen. Das Glück ist mir hold gewesen und ich fand hier meinen Frieden, aber besagtes Kunststück gelang ihr trotz durchaus brillanter Ansätze nicht. Nicht in all den vergangenen Jahrzehnten und auch nicht in den kommenden, mir verbleibenden, vermutlich nur mehr sehr wenigen Jahren. Die Eindrücke und Gerüche der Orte, an denen ich aufwuchs, werde ich niemals vergessen. Ganz im Gegenteil sehne ich sie nach wie vor oft herbei und wünsche mir inständig eine Rückversetzung in die geradezu selig und heil erscheinende Zeit der Kindheit und Jugend. Zu dieser rar gewordenen Schar an hoffnungslosen Romantikern gehöre ich tatsächlich. Oder zur Spezies der alternden, sentimentalen Spinner, darüber bin ich mir noch nicht restlos im Klaren. Und ich gehöre zu denen, die gerne an langen Winterabenden am Kamin sitzen, dem monotonen Prasseln des Feuers lauschen, die Augen schließen und in Gedanken die fernen Gestade der Vergangenheit bereisen. Zwei Dinge nenne ich nämlich zur Genüge mein Eigen: Endlose Winter und Zeit. Ich blicke auf ein erfülltes und langes Leben zurück, in dem ich viel erleben durfte, ein Leben, das es wert ist, sich daran zu erinnern. Vermutlich gibt es nicht allzu viele Menschen meiner Generation, die sich an dem Glück eines dermaßen ungetrübten Rückblicks auf das eigene Dasein erfreuen dürfen, zu bewegt waren die Zeiten, die mein Jahrgang zu meistern hatte. Dieser außerordentlichen Gnade bin ich mir sehr wohl bewusst. Tag für Tag. In diesem Sinne danke ich meinem Schicksal für jedes positive Erlebnis, das mir im Geiste haften geblieben ist, aber eine singuläre Erinnerung, so ambivalent sie bei genauerer Betrachtung auch daherkommen mag, stand und steht stets über allen anderen Memoiren. Ich lebte damals in Berlin, war frei und ungebunden, zwar keine Zweiundzwanzig mehr, aber immer noch jung genug, um voller Energie und Begierde auf den ersten großen Fall meiner frischgebackenen Profession als Beamter der Kriminalpolizei zu hoffen. Unendlich lange Wochen zuvor zumindest verhielt es sich so in den Augen der ungeduldigen Jugend - hatte ich meine Ausbildung zum Kriminalkommissar abgeschlossen und ließ mich direkt danach auf besonderen Wunsch eben nach Berlin versetzen. Hier wurde ich nun langsam ungeduldig, denn schließlich war ich eigens wegen der Aussicht auf ein spektakuläres Verbrechen, das es aufzuklären galt, das buchstäblich nur auf mich wartete, vom provinziellen Bremen, wo mich nach dem Tod meiner Eltern und dem nahezu gleichzeitigen Ableben meiner einzigen Schwester, Ruth, die allesamt der schrecklichen Grippeepidemie von 1918 zum Opfer fielen und mich somit als Vollwaise ohne die geringste familiäre Bindung zurückließen, nichts mehr hielt, in die aufstrebende Hauptstadt der noch so jungen und fragilen Weimarer Republik gezogen. Viele taten es mir damals gleich und verhalfen Berlin durch ihren ungehemmten Zuzug in diesen Tagen zu einem unaufhaltsamen Aufstieg hin zur weltoffenen und praktisch sämtliche Lebensbereiche dominierenden und durchdringenden Metropole. Egal, ob Musik, Mode, Lebensstil, Politik oder Gesellschaft, es war hier, es war Berlin, wo Geschichte gemacht wurde. Die durch den Krieg verursachten Turbulenzen sowie die zahlreichen Putschversuche der unzähligen linken und rechten Parteien, die nach dem heiß herbeigesehnten Ende der weltumspannenden Katastrophe – und dem damit einhergehenden Niedergang der Monarchie - wie Unkraut auf dem für sie plötzlich fruchtbar gewordenen Boden wucherten, schienen gleichfalls überwunden wie die unerfreuliche Episode der willkürlichen Attentate auf Leib und Leben und der rasanten Geldentwertung, kurz: die Goldenen Zwanziger standen am Aufbruch hin zur vollen Blüte und nach oben galt als einzig relevante Grenze für sämtliche hochfliegenden Träume nur der klarblaue Himmel. Die Schatten der Gräuel, die Jahre später die Stadt, das Land, den Kontinent und schließlich die ganze Welt in ihren Würgegriff nehmen sollte, waren hingegen vergleichsweise kurz und unbedeutend. Sie tangierten das alltägliche Leben an diesem Punkt der Geschichte oft nicht einmal peripher. Noch herrschte die paradiesische Leichtigkeit des Seins. In diesen Tagen dachte niemand überhaupt nur darüber nach, dass es sich bei all der glitzernden und blendenden Pracht, die sich so unversehens vor den leidgeprüften Heimkehrern, Entwurzelten und oftmals jeglicher Existenzgrundlage Beraubten, entfaltete, lediglich um eine Scheinblüte handeln könnte. Selbst ein solcher Verdacht erschien völlig unmöglich. Das Jetzt überstrahlte Alles. Mitten in dieser ekstatischen Hochstimmung kam ich also in der Stadt an, wild entschlossen, keine Zeit zu verlieren und meinen Weg zu gehen. Das pulsierende Leben genoss ich vom ersten Augenblick an in vollen Zügen, manchmal mehr, als es mir gut tat, die erhofft steile Karriere stockte allerdings ein wenig. Schnell, wie es sich hier nun einmal lebte, hatte ich mir mein privates Refugium geschaffen und sogar eine bezahlbare Wohnung in einem der weniger angesagten Bezirke des Molochs gefunden, die ich mir aus ökonomischen und praktischen Gründen mit einem Mitbewohner namens Maximilian Gerepolski, seines Zeichens ein hochbegabter Musiker, soweit ich als Laie das einschätzen konnte, aber auch immer mit einem Bein an der Grenze zum Wahnsinn befindlich, teilte. Im Zuge des gemeinsamen Daseins Tür an Tür hatte ich in Maximilian, der sich in mehr als einer Hinsicht als absoluter Glücksfall entpuppen sollte, gleichermaßen einen verlässlichen Freund gefunden, von denen quer durch alle Epochen sprichwörtlich Hundert auf ein Lot passten, was ich gestern wie heute voll inhaltlich bestätigen kann. In diesem leicht überschaubaren Reich lebten wir also unseren Alltag mit Arbeit, einer stattlichen Sammlung an Schauerromanen und einschlägigen Büchern meinerseits sowie buchstäblich Tonnen von Notenpapier auf Maximilians Seite, und – zumindest was meinen Wohnungsgenossen betraf – einer nicht minder beachtlichen Menge an Alkohol und sonstiger Rauschmittel. Im Laufe der Begebenheiten sollte sich später auch noch Maximilians Kaninchen Hoppel, ein in seinem Wesen absolut einzigartiges Tier, zu uns gesellen, aber da greife ich der Geschichte in ihrer epischen Breite bereits vor. Während ich also das endlose Warten mit Lesen und dem Lösen von Bagatellverbrechen sowie dem Lauschen von Maximilians bisweilen überaus eigenwilliger Musik oder wahlweise der Wehklage über sein verkorkstes Leben, die je nach Tagesverfassung zu einem überaus ermüdenden Monolog ausarten konnte, überbrückte, malte ich mir in meinem tiefsten Inneren (und dank meiner durch die zielgerichtete Lektüre bestens geschulten und schier überbordenden Phantasie) stets von Neuem, verlässlich wiederkehrend wie eine fixe Idee, das umfassende Glücksgefühl bei der allein verantwortlichen Klärung meines ersten Kapitalverbrechens, das in seiner Grausamkeit gar nicht abscheulich genug sein konnte, nebst der für mich damit einhergehenden Popularität aus. Mein Triumph sollte ein totaler und überwältigender sein. Das war die Naivität der Zeit, in der ich förmlich versank, aber kein Mensch hätte mich damals eines Besseren belehren können. Meine Wünsche und Gelüste standen stabiler als jede Dampflok. Und dann, endlich, wurde mein inniges Flehen erhört. Ich entsinne mich wie heute, sehe die Stadt und die Gesichter vor mir, spüre wie damals die Sonne auf meiner Haut, höre die Schlager der Epoche aus den Grammophonen, schmecke die Gerüche der Straße, in der ich lebte, gerade so, als würde alles in diesem Moment erneut passieren. Wie eingebrannt in meinem Gehirn. Unauslöschlich.

    Man schrieb das Jahr 1924, es war Anfang September, das Radiophon schickte sich in diesen Tagen gerade an, dem von mir so heißgeliebten Grammophon nach und nach den Rang abzulaufen, und nicht einmal die spätsommerliche Schwüle konnte meinen unverändert ungezügelten Tatendrang eindämmen. Die Vorfreude ist angeblich die schönste Freude, doch für mich bedeutete sie nie etwas anderes als blanke Qual, die an diesem schicksalshaften Septembertag gleichermaßen plötzlich wie unvermutet, von einem glorreichen Augenblick auf den anderen, abrupt endete. Und das war gut so, denn meine Geduld war praktisch erschöpft, die Grenzen der Belastbarkeit annähernd erreicht. Die Erlösung kam genau zur rechten Zeit. Endlich konnte ich real eintauchen in diese mir vermeintlich so vertraut erscheinende Welt der geisteskranken Mörder und entmenschten Psychopathen, so wie ich sie bis dato nur aus meiner Phantasie und der gewogenen Lektüre kannte. Ich war bereit wie nie zuvor und zutiefst übermotiviert. Meine gesamte Persönlichkeit brannte lichterloh vor Verlangen und Ungeduld. Wäre mir jedoch vorab bewusst gewesen, was in den folgenden Wochen auf mich zukommen würde, hätte ich diesen speziellen Wunsch nach möglichst viel Grusel und Mysterium vermutlich bedeutend dezenter formuliert.

    Kapitel 2 – Aufblende

    Das Wartezimmer war brechend voll. Angesichts meines dröhnenden Schädels und dem damit unweigerlich einhergehenden Absinken meiner Laune, zog ich es ernsthaft in Erwägung, mir in Zukunft einen Arzt zu suchen, der signifikant weniger zufriedene Patienten produzierte. Wozu das führte, verspürte ich soeben am eigenen Leib. Augenblicklich blieb mir allerdings nichts weiter übrig, als Platz zu nehmen und zur Überbrückung der unvermeidlichen Verweildauer meinen Gedanken nachzuhängen, soweit das gegen die pochenden Schmerzen überhaupt möglich war. Sogar einen freien Stuhl zu ergattern erwies sich als problematisch. Kämpfte ich tatsächlich mit dem Luxusproblem, mir einen zu guten Arzt ausgesucht zu haben? Was ich momentan brauchte, war aber keine von Patientenscharen überlaufene Koryphäe, sondern ein Quacksalber, der mich in einem Anfall puren Glücks von den permanenten Kopfschmerzen befreite, die mich seit Tagen quälten. Das blinde Huhn, dessen Korn ich sein wollte. Und das alles ohne nervenraubende Wartezeiten. Sogar die ausgelegten Zeitungen und Magazine waren vergriffen. Die einzige Ausnahme bildete ein Exemplar des Periodikums Das Dreieck. Wie ein besonders kunstbeflissener Freund mir versicherte, handelte es sich dabei um eine brandneue und hochgeistige Zeitschrift, für die sich allerdings niemand in diesen Räumlichkeiten erwärmen konnte, und die in meiner Verfassung intellektuell viel zu überfrachtet (und zugegeben auch ein wenig langweilig) war, also legte ich sie nach kurzer, oberflächlicher Lektüre wieder hin, während um mich herum emsig in den üblichen Klatschblättern geschmökert wurde. So definierte ich Folter. Nächstes Mal würde ich meinen eigenen Lesestoff mitbringen, soviel war sicher. Ungeduldig wippte ich auf dem knarrenden Stuhl hin und her, was mir den einen oder anderen vorwurfsvollen Blick einbrachte, den ich geschickt weglächelte. Die nächsten Delinquenten wurden aufgerufen, aber mein Name war noch immer nicht dabei. Zumindest war es mir jetzt möglich, eine lieblos weggeworfene Tageszeitung zu ergattern, die sich akkurat als bemerkenswert uninteressant erwies. Seitenlange Abhandlungen über die in den Augen der meisten Beobachter unglücklich verlaufene Mai-Wahl, die die vormals bedeutungslosen Splitterparteien des linken und rechten Randes unversehens in den Rang von gewichtigen Mitspielern auf der politischen Bühne befördert hatte und damit seit Monaten die Bildung einer stabilen Regierung verhinderte, woran sich die Bürger der Republik fatalerweise Schritt für Schritt gewöhnten, aber keine Zeile zum Ableben von Frances Hodgson Burnett, deren Bücher meiner Meinung nach zu Unrecht mit dem Makel der reinen Kinderliteratur behaftet waren, und deren Werk ich hoch einschätzte. Nur hierzulande schien sich niemand für ihren Tod zu interessieren. Wenn ich nur an die schier endlose Zahl von Leitartikeln und Nachrufen dachte, als zu Jahresbeginn Lenin und Wilson gestorben waren, während es der wenig spätere Tod des Musikers Ferruccio Busoni bestenfalls zur Randnotiz brachte, stellte ich zum wiederholten Male ein eklatantes Ungleichgewicht der Interessen meiner Mitmenschen fest, das mir tiefstes Unbehagen bereitete. Wie zur Untermauerung meiner Hypothese, nahm die einschläfernde Berichterstattung über die anstehenden Reparationszahlungen an die Alliierten, die unseligen Nachwehen des Ruhrkampfes sowie Deutschlands unterwürfige Bemühungen zur Wiederaufnahme in den Völkerbund, dann auch praktisch den kompletten Rest des trostlosen Printwerkes ein. Sogar die Gründung des Rotkämpferbundes als Antwort der KPD auf die politisch entgegengesetzt orientierte Organisation des Reichsbanners fand trotz erwiesener Bedeutungslosigkeit ausführliche Erwähnung. Gelangweilt ging die Welt zu Grunde. Von dieser Seite durfte ich also keine Linderung meiner Pein erwarten. Das Gleiche galt im Übrigen für den Medicus, in dessen Vorraum ich gerade mein Leben verplemperte. Es war zum Auswachsen. Obwohl ich berufsbedingt gerne und häufig die Menschen rund um mich beobachtete, mir bisweilen aus purer persönlicher Freude sogar skurrile Geschichten rund um ihr mutmaßlich eher eintöniges Leben einfallen ließ, in denen die blassesten Gestalten urplötzlich zu den schillerndsten Figuren der Weltgeschichte und Hochliteratur aufstiegen, vermochten mir die anwesenden Exemplare keine Kurzweil zu verschaffen. Es wäre wirklich besser gewesen, ich hätte mir heute schon ein gutes Buch von zu Hause mitgenommen, aber um ernsthaft lesen zu können quälten mich die Donnerschläge in meinem Gehirn ohnehin viel zu sehr. An echte Konzentration war unter diesen Umständen wahrlich nicht zu denken gewesen. Überdies hatte ich nicht im Geringsten mit einer derart ausgiebigen Verzögerung gerechnet. Aus der Erfahrung früherer Besuche heraus hätte ich in diesem Punkt allerdings klüger sein können. Die Flut an verkrüppelten Heimkehrern mit ihren geschundenen Körpern und Seelen, Kinder und Erwachsene, die an schweren Mangelerscheinungen und Hunger litten, schwangere Frauen, denen die Angst um das in ihnen heranwachsende, neue Leben förmlich ins Gesicht geschrieben stand, sie alle füllten buchstäblich jede Arztpraxis der Stadt weit über deren Kapazitäten hinaus. Und im Schlepptau zogen sie das unverwüstliche Kroppzeug gleich mit an wie ein dampfender Kuhfladen die Fliegen. Abschaum, der eine günstige Gelegenheit zum Diebstahl, zur Bettelei, oder einfach nur zum Erhaschen von Mitleid zehn Kilometer gegen den Wind witterte. Aber ich musste mich zügeln, denn da ging erneut mein Beruf mit mir durch. Kein Wunder, wenn ich mich durch nichts von den unerträglichen Schmerzen abzulenken vermochte außer durch mein selbstgeknüpftes Seemannsgarn, also zwang ich mich zur Räson, um das vermeintlich Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. So unerfreulich sich der Status quo momentan auch darstellte, denn ungehindert zog die Karawane an Kranken und Simulanten weiterhin ein und aus, während ich wie Pik Sieben in der hintersten Ecke vergammelte. Dem Wartezimmer hätte eine Renovierung gut getan, das sah jedes Kind. In diesem Teil Berlins hatten die Wirren des zurückliegenden Krieges und die darauf folgenden Turbulenzen inklusive allgegenwärtiger Not und Geldentwertung besonders tiefe Spuren hinterlassen. Dabei sagte man doch speziell den Juden, von denen es in diesem Viertel ausreichend gab, besonderes Geschick in pekuniären Angelegenheiten nach. Das schien auf meinen Doktor Feinstein augenscheinlich nicht zuzutreffen. Oder er sparte sich sein Geld für andere Dinge auf. Wer konnte das schon wissen? Ich nicht. Ich wusste nicht einmal, warum mein Kopf wie verrückt schmerzte und dieser Umstand außer meiner eigenen Person offensichtlich niemanden interessierte.

    „Unfried? Roderich Unfried? Sie sind der Nächste!"

    Das ansonsten unerträglich schrille Organ der Sprechstundenhilfe, die in erster Linie mit ihren anatomischen Vorzügen zu glänzen verstand, klang weiland wie eine sanfte Schubert-Symphonie in meinen gemarterten Ohren. Ich beeilte mich ins Behandlungszimmer zu kommen, sonst überlegte sie es sich womöglich noch anders.

    „Mein

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