Murmelbrüder: Eine Geschichte aus Sardinien
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Libellenjagd, Murmelspiele, aufgeschlagene Knie, geheime Erkundungstouren, Rituale einer Jungenfreundschaft – das sind die Sommerferien für Maurizio, Franco und Giulio. Und sie scheinen ewig wiederzukehren und unendlich lang zu sein. Aber dann geht ein Riss mitten durch das sardische Dorf, und alle, Kinder wie Erwachsene, müssen erkennen, wie brüchig ihr bisheriges friedliches Zusammenleben war. Ausgerechnet ein Priester ist es, der Feindschaft stiftet, indem er eine neue Kirchengemeinde gründet: Plötzlich gehören die Leute nicht mehr zusammen, und selbst die Kinder dürfen nicht mehr miteinander spielen. Wie soll das gehen, in einem Ort, der nur eine Piazza hat? An Ostern bei der alljährlichen festlichen Prozession kulminiert der Streit.
Doch die Jungen schlichten ihn: Mit dem gleichen kühnen Witz, der zuvor ihre wilden Streiche motiviert hat, setzen sie sich jetzt über alle Konventionen hinweg und lassen die Osterprozession zum großen Versöhnungsfest werden.
Michela Murgia überrascht uns mit einer neuen sardischen Geschichte, in der es um den Wert der Freundschaft geht, die dann besonders kostbar ist, wenn man sagen kann: "Wir haben zusammen gespielt."
Michela Murgia
Michela Murgia is an Italian novelist and politician. She has written travel books, political non-fiction and novels, for which she has been awarded the Premio Campiello and the Mondello International Literary Prize.
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Book preview
Murmelbrüder - Michela Murgia
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
Die italienische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel L’incontro bei Giulio Einaudi editore in Turin. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 2014 als SALTO im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.
E-Book
-Ausgabe 2017
© 2012 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino
© 2014, 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © DreamPictures/gettyimages. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142306
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2780 8
http://www.wagenbach.de/
Für Massimo Falcone, zur Erinnerung an unser gemeinsames Spiel
Prolog
Wir haben in derselben Straße gespielt.
Auf diese Weise findet man in Crabas wahre Geschwister, denn von derselben Mutter geboren zu sein, hat noch niemals Zugehörigkeit gestiftet, nicht einmal unter Katzen. Geheiligt werde der Respekt für das Fleisch von unserem Fleische, doch die Straße und die Tatsache, zusammen gespielt zu haben, schmiedet die Kinder durch festere Bande zusammen, die bis ins Erwachsenenalter halten. Zeugung ist nichts, was sich von selbst versteht. Das Blut folgt verschlungenen Wegen, und darum glaubt kein Kind ernsthaft daran, dass ein gemeinsamer Familienname auch Garant für einen gemeinsamen Ursprung ist.
Wie man geboren wurde, das muss man sich mehrfach erklären lassen, und vermutlich deshalb versuchen viele Erwachsene ihr Leben lang, sich von der zufälligen Verwandtschaft zu befreien und sie durch eine andere, durch pure Willensakte angenommene, zu ersetzen. So werden Trauzeugen zu Brüdern. Patenonkel und Patentanten der eigenen Kinder werden zu Gelegenheitseltern. Gefährten und Gefährtinnen finden sich zu Beginn jedes Sommers, in der Johannisnacht, wenn die ganze Insel im Widerschein der vielen Feuer leuchtet, die man Hand in Hand überspringt, um eine Verwandtschaft zu stiften, die keiner Mutter etwas schuldig ist. Ganze Stammbäume sprießen aus Feuer und Wein, aus Schuld und Weihwasser. Doch nicht einmal diese uralten Rituale binden die Erinnerung des Herzens so sehr wie die gemeinsamen Kinderspiele auf der Straße.
Welche Familienbande könnten es mit gewissen Sommernachmittagen aufnehmen, an denen man zum ersten Mal unter dem Jubel der Spielkameraden einen Ball ins Tor schoss oder eine Riesenlibelle befreite, die sich in einem Schmetterlingsnetz verfangen hatte? Was kann der Ruf des eigenen Blutes ausrichten gegen das Bewusstsein, Auslöser für das erste blutige Knie eines Freundes zu sein? Kein Weihnachtsfest im Kreis der Familie behauptet sich in der Erinnerung gegen den Wind im Gesicht bei bestimmten freihändigen Abfahrten auf dem Fahrrad, gegen die Lichtreflexe auf dem dunklen Zopf des schönsten Mädchens im Dorf oder die glühende Scham, mit der man gemeinsam, sprachlos und schweigend, eine im Gebüsch gefundene Erwachsenenzeitschrift durchblätterte. Aus dieser verlorenen Unschuld entsteht der geheime Pakt der wahren Komplizenschaft, die maßgebliche Kraft der ersten gemeinsamen Gewissheiten, die keine Familie außer Kraft setzen kann.
In den Cafés hört man so tatsächlich manch Erwachsenen reden, Männer, die vom Leben schon tausendmal belohnt und enttäuscht worden sind und die sich gegenseitig noch immer der kindlichen Verbindungen von der Straße versichern wie einer gemeinsamen Geburt – Wir haben zusammen gespielt.
1
Maurizio war zehn Jahre alt und spielte auf der Straße mit niemandem. Er wohnte ein wenig außerhalb des Dorfes auf dem Land, weit weg vom Geschrei der anderen Kinder und den staubigen Straßen, auf denen solche einzigartigen Kameradschaften entstanden. Nach der Schule machte er Hausaufgaben, sah fern und schnippte alleine Murmeln gegen die Wand, aber vor allem wartete er sehnsüchtig darauf, dass die Brombeeren entlang der nahe gelegenen Wassergräben reiften, denn wenn sie schwarz genug wurden, dass man sie essen konnte, ging das Schuljahr bald zu Ende, und dann brachten ihn seine Eltern für den Sommer zu den Großeltern nach Crabas.
Wenn es endlich so weit war, luden sie sein Fahrrad aufs Autodach und packten ihm zwei Sporttaschen voller
T-Shirts
und kurzen Hosen, haufenweise Strümpfen und Unterwäsche sowie ein paar Badehosen. Dazu das Schulbuch für die Hausaufgaben, doch er hatte nicht die Absicht, Zeit mit Lernen zu vergeuden, wenn er bei den Großeltern war. Der Sommer war für ihn die Zeit, um jene geheimnisvollen Früchte zu ernten, die reiften wie die Brombeeren an den Sträuchern und die jedes Jahr im Juni für ihn zur Ernte bereitstanden. Er konnte es kaum erwarten, die Murmelbrüder und Libellenschwestern zu treffen, die ihm zustanden. Als einziges Kind einer Hausfrau und eines Installateurs brannte er auf unzählige Verschwisterungen durch aufgeschlagene Knie – Blut von seinem Blute – und umklammerte auf dem Rücksitz aufgeregt seine Taschen, zählte die Straßenschilder, bis er endlich das mit dem Ortsnamen auftauchen sah: Crabas.
»Und dass du Oma und Opa keinen Ärger machst, verstanden?«
Maurizio schüttelte mehrmals den Kopf, um wie üblich der brüsken Inszenierung der väterlichen Autorität Genüge zu tun.
Dann luden sie seine Sachen aus und aßen alle gemeinsam zu Mittag, Oma Cristinas Nudelauflauf mit einer Sternanis-Sauce, deren Zubereitung Maurizios Mutter nie gelernt