Mutternarben
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Sensibel registriert Marlen die Ereignisse und Emotionen der sieben Tage, die Lilly bis zu ihrem plötzlichen Tod unter fremder Obhut lebt. Zwar ist sie der Sorge um die Mutter enthoben, doch deren Tod bedeutet nicht die Klärung ihrer ambivalenten Beziehung.
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Book preview
Mutternarben - Heidi Ebbinghaus
lesen.
Heute, zwei Wochen später, 13 Uhr
Die Angst der ersten Januartage ist dumpfer Beklemmung gewichen. Geblieben ist das Zittern, wenn ich mich dem Gebäude nähere. Der Weg führt durch eine Grünanlage: ein zugefrorener Goldfischteich, eine Sonnenuhr, die üblichen Stauden und Gehölze. Winterjasmin und Zaubernuss blühen schon, für Krokusse und Narzissen ist es noch zu früh. Kies knirscht unter meinen Füßen, bis ich die gepflasterte Zufahrt erreiche, die unmittelbar zum Haupteingang führt. Ich zögere. Noch könnte ich umkehren, die Angelegenheit auf morgen verschieben. Ich gehe weiter. Nach wenigen Schritten ertönen die ersten Takte aus Beethovens ‚Für Elise‘ (a-Moll). Lilly mochte dieses Klavierstück besonders gern. Eine weibliche Stimme heißt mich willkommen. Zwei gläserne Flügeltüren springen auf, öffnen sich ins Innere. Es gibt kein Zurück mehr, denn Augen voller Erwartung haben sich auf mich gerichtet und saugen mich hinein. Ein rascher Blick: Lilly ist nicht unter den Anwesenden, natürlich nicht. Ich brauche mich nicht mehr um sie zu sorgen. Man hat mich gebeten, einige Formalitäten zu erledigen und Kleidungsstücke abzuholen, die, als sie starb, in der Waschanstalt waren.
Heute Mittag halten sich erst wenige Senioren im Foyer auf. Mein Gruß wird nicht erwidert, obwohl mich alle ansehen. Die freudige Erregung, die ihre Gesichter beim Erklingen der musikalischen Begrüßung erhellt hat, ist Enttäuschung gewichen: Ich bin nicht die richtige, nicht die Person, deren Kommen sie erhoffen.
An der Bürotür klebt ein Zettel: ‚Wegen einer Personalversammlung sind wir heute erst ab 14 Uhr für Sie da.‘ Jetzt ist es kurz nach eins, ich bin gleich nach Schulschluss hergekommen. Es lohnt sich nicht, in der Zwischenzeit nach Hause zu fahren, also warte ich und setze mich ins Foyer.
Über der Eingangshalle wölbt sich eine Glaskuppel. Im Zentrum ihres Lichteinfalls ein schwarzer Flügel. Die Heimleitung ist stolz auf ein regelmäßiges Konzertangebot, das von Studenten der Musikhochschule bestritten wird. Runde Tische mit Marmorplatten, Sessel, Grünpflanzen, Teppichboden. Die Atmosphäre ist so einladend und kühl zugleich wie die einer Hotelhalle.
Ich lese in den Aufsätzen, die ich am Vormittag habe schreiben lassen. Thema: ‚Familie, Ort der Geborgenheit oder Gefängnis?‘ Grundlage ist die Erzählung einer jungen Autorin. Obwohl ich neugierig bin zu erfahren, was die Schüler geschrieben haben, kann ich mich nur mit Mühe auf ihre Gedanken einlassen, hier an diesem Ort, an dem Lilly noch lebendig zu sein scheint. Ich verstaue die Hefte wieder in der Aktenmappe.
Erster Tag: Montag, 2. Januar
Als Lilly am 2. Januar zum ersten Mal durch das Vestibül ging, hatte sie sogleich den großen Weihnachtsbaum entdeckt, der, über und über mit roten Kugeln, Lametta und Glühbirnen bestückt, in der Nähe des Flügels stand. Sie ließ meinen Arm los, legte die Hände ineinander und sagte: „Wie schön!" Dann erzählte sie die Geschichte vom Kriegswinter 1917/18: Ihr Vater war an der Front und würde keinen Heimaturlaub bekommen. Die Mutter hatte den elf Kindern erklärt, dass sie in diesem Jahr auf einen Baum verzichten und mit Tannenzweigen vorlieb nehmen müssten. Als die Geschwister jedoch von der Christvesper zurückkehrten, erstrahlte im Wohnzimmer der schönste Weihnachtsbaum. Vom Fußboden bis unter die Decke reichte er, da fehlte kein Zentimeter! Zwischen goldenem Engelshaar lockten Äpfel, Lebkuchen, bunte Zuckerkringel. Und während Lilly gerade ein Gedicht aufsagte, denn sie konnte von den Kindern am besten ‚deklamieren‘, klopfte es an der Tür, und der Vater trat herein. Das sei für alle das schönste Weihnachtsgeschenk gewesen, versicherte sie mit glänzenden Augen wie jedesmal, wenn sie diese Geschichte erzählte.
Die Empfangsdame hatte geduldig zugehört, drängte dann aber weiterzugehen, um uns das Zimmer zu zeigen. Ein langer Flur. Servierwagen und Rollstühle haben auf dem gewachsten Boden Schleifspuren hinterlassen. Grün gestrichene Türen. Ihre metallgerahmten Öffnungen sind so berechnet, dass ein behindertengerechtes Kommen und Gehen gewährleistet ist. Hinter jeder Tür 14,5 Quadratmeter Wohnraum zuzüglich Balkon und Nasszelle. Einbauschrank, Regal, Pflegebett, Nachttisch auf Rollen, weiß lackiert, funktional, hygienisch. Der Fernseher ist fest in einer Zimmerecke montiert. Wünsche, eigene Möbel mitzubringen, sind begrenzt erfüllbar: ein Sessel, ein Tisch, ein Stuhl, vielleicht eine Kommode oder ein Sekretär. Und natürlich Bilder, die geben dem Raum eine persönliche Note. Teppiche sind Stolpersteine, das leuchtet ein, Stehlampen hinderlich für die Putzkolonne. Das Neonlicht unter der Zimmerdecke hat einen Warmton, zusätzlich gibt es eine schwenkbare Leselampe am Kopfende des Bettes. Auf der Fensterbank ein Alpenveilchen. Der Topf in einer Manschette aus grünem Krepppapier. ‚Herzlich willkommen im Sonnenhof‘ steht auf einem roten Pappherz, das aus den Blüten herausragt. Daneben Informationsmaterial über Veranstaltungen, der wöchentliche Speiseplan, die Hausordnung.
Meine Mutter war in der Tür stehengeblieben.
„Treten Sie ruhig näher, Frau Schneider, ermunterte die Empfangsdame, „das ist Ihr neues Zuhause.
„Das ist doch nicht mein Zuhause, erwiderte Lilly freundlich, aber bestimmt. „Meine Wohnung muss renoviert werden. Ich bin nur vorübergehend hier. Nein, das ist nicht mein Zuhause.
„Ach so", sagte die Empfangsdame höflich, während sie mir einen fragenden Blick zuwarf.
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. „Es wird sich alles finden." Meine Stimme klang wenig überzeugend.
„Hoffentlich, es ist immer besser, bei der Wahrheit zu bleiben."
Das war leicht gesagt. Ich hatte es einfach nicht fertiggebracht, meiner Mutter die Endgültigkeit der Heimeinweisung klarzumachen, und war froh, dass sie selbst einige Instandsetzungsarbeiten für nötig hielt. Ich vertraute auf ihren schwindenden Zeitbegriff und hoffte, dass sie ihre Wohnung bald vergessen haben würde. Da sie sich mehrmals in der Woche über eine Linsenmahlzeit freute, weil sie die ja solange nicht gegessen habe, oder mich täglich an der Tür mit der Frage begrüßte ‚Schick ist Dein Mantel, ist der neu?‘, weshalb sollte sie sich nach einiger Zeit noch an ihre Wohnung erinnern.
Inzwischen hatte sich Lilly umgesehen. Zu meiner Erleichterung wunderte sie sich nicht, die Kirschbaumkommode vorzufinden, in der sie ihre Kostbarkeiten aufzubewahren pflegte: Briefe, Fotoalben, Ausschnitte aus Zeitungen, einige Reiseandenken, meine ersten Schuhe, Milchzahn und Haarlocke in Zellophantüten, ihr Brautkleid aus vergilbter Seide. „Das möchte ich tragen, wenn ich im Sarg liege", hatte sie ohne einen Anflug von Traurigkeit erklärt, als ich sie vor nicht allzu langer Zeit in der Garderobe überraschte. Mit zittrigen Händen hatte sie das Kleid vor ihren Körper gehalten und ihrem Spiegelbild zugelächelt. Die Unerfüllbarkeit ihres Wunsches war offensichtlich.
„Wie schlank Du damals warst, das ist doch bestimmt Größe 36."
Die unbeabsichtigte Taktlosigkeit meiner Bemerkung hatte Lilly überhört.
„Ich bin immer zierlich gewesen, fuhr sie unbeirrt fort, „wirst Du daran denken, wenn es so weit ist?
Ich hatte sie in den Arm genommen und das Kleid in die Kommode zurückgelegt.
Die Empfangsdame öffnete die Türen des Einbauschranks und zeigte auf die leeren Fächer: „Wäsche, Pullover, Schals und Strümpfe, Kleider, Jacken, Blusen, Röcke, Hosen, Schuhe – Übersichtlichkeit bedeutet Zeitersparnis für das Personal. Und kontrollieren Sie bitte beim Einräumen, ob alle Kleidungsstücke mit Vor-und Nachnamen versehen sind. Mittagessen gibt es um 11 Uhr 30. Wir werden ihre Mutter abholen."
Lilly warf mir einen flehenden Blick zu. „Ich glaube, sie würde lieber in ihrem Zimmer essen", wagte ich einzuwenden.
„Aber Frau Schneider, in Gesellschaft schmeckt es doch viel besser", versuchte die Empfangsdame meine Mutter zu überzeugen.
Lilly schüttelte den Kopf. „Ich möchte allein essen, sagte sie nachdrücklich. Ich kannte ihre Gründe. Sie war trotz ihres Alters eine scharfe Beobachterin. Nachlässige Tischsitten lösten einen unbezwingbaren Ekel in ihr aus. Natürlich sagte sie das nicht, doch sie lächelte überlegen, als die Empfangsdame selbstsicher meinte: „Also gut, ich möchte nicht drängen, aber das werden wir schon schaffen.
Und zu mir gewandt: „Soziale Kontakte sind wichtig." Damit verschwand sie.
Wir packten die Koffer aus. Lilly staunte, dass ich auch Sommersachen mitgenommen hatte. „Dauert es denn so lange, bis die Handwerker in meiner Wohnung fertig sind?" fragte sie beunruhigt.
„Das weiß man nie genau, außerdem kann es schon im Frühjahr warme Tage geben."
Sie war mit meiner Antwort zufrieden. Dann entdeckte sie die Pappkiste mit Büchern und gerahmten Fotos. „Es ist ja wirklich, als sollte ich für immer hier bleiben", meinte sie scherzhaft, während sie die Bilder ihrer Angehörigen auf der Kommode plazierte: ihre Mutter, umgeben von einer Kinderschar in Matrosenkleidung. Die Mädchen hatten gestärkte Schleifen im Haar. Daneben im schlichten Holzrahmen der Vater in Soldatenuniform. Für ihn hatten sie sich fotografieren lassen. Dann ihr ältester Bruder als Missionar in Chile vor einer kleinen Holzkirche. Ein anderer Bruder auf einem Minenräumboot im Zweiten Weltkrieg. Schließlich ihr Hochzeitsfoto, in ein Oval aus silbernen Rosenranken gefasst, und immer wieder ich, das späte Wunschkind, auf dem Wickeltisch, im Laufstall, mit Schultüte, als Studentin, Braut und mit kleiner Tochter. Danach beherrscht die Enkelin die Bildergalerie und füllt darüber hinaus einen Schuhkarton mit ungerahmten Fotos.
„Sieh mal, zufrieden deutete Lilly auf das Arrangement, ihre Wangen glühten vor Eifer. „Und jetzt die Bücher.
Doch das Regal war zu hoch angebracht. Ich musste ihr helfen. Ihre Lieblingsgedichte, einen Fotoband mit alten Bäumen, den Briefwechsel zwischen Clara Wieck und Robert Schumann ließen wir auf dem Tisch liegen. Bei meinen Besuchen würde ich die Lektüre hin und wieder austauschen. Ohnehin schien Lilly nicht mehr konzentriert zu lesen; es war mehr ein Blättern, wobei ihr Blick manchmal an einem Satz hängen blieb, den sie dann laut vorlas.
Das Mittagessen kam pünktlich. Ein junger Mann stellte das Tablett auf den Tisch, wünschte ‚Guten Appetit‘ und ging wieder. Lilly freute sich. Sie zählte alles auf, was sie in den Schüsseln entdeckte: „Gemüsesuppe, Salat, Klopse, Reis, Vanillepudding. Das ist ja herrlich, aber viel zu viel! Also, da musst Du mir helfen."
Wir einigten uns darauf, dass ich den Salat essen würde und vielleicht später noch den Nachtisch. Lillys Hunger war groß. So konnte sie darüber hinwegsehen, dass sie statt der gewohnten Stoffserviette ein kleines Frotteehandtuch auf ihren Schoß legen musste. Nachdem sie alles gegessen hatte, auch die Puddingschale war leer, lehnte sie sich zufrieden zurück. „So, das war gut", kommentierte sie. Schließlich stand sie auf und blieb unschlüssig im Zimmer stehen. Ich wusste, dass sie ihr Sofa für den Mittagsschlaf vermisste.
„Am besten legst Du Dich auf das Bett, schlug ich vor, „ich kann Dich mit einer Wolldecke zudecken.
Lilly war müde und daher einverstanden, obwohl sie es wahrscheinlich unschicklich fand, tagsüber das Bett zu benutzen. Sie wollte ja nur mal ‚kurz weg sein‘, wobei sich diese Art von Abwesenheit oft über mehrere Stunden erstreckte.
Ich verabschiedete mich und versprach, am Abend wiederzukommen. Während ich den Mantel zuknöpfte, kam eine Schwester herein, um, wie sie sagte, nach dem Rechten zu sehen. Wir hatten bereits alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt: Geschirr zusammengesetzt, die Toilette aufgesucht, den Vorhang am Fenster zugezogen, Hausschuhe für die Füße erreichbar vor das Bett geschoben. Sie begrüßte meine Mutter herzlich und stellte sich als ‚Schwester Lucie‘ vor, Leiterin der Station ‚Immergrün‘. „Immergrün?" wiederholte Lilly fragend trotz ihrer Müdigkeit. Schwester Lucie erklärte, dass die Bewohner des Hauses in Wohngemeinschaften zusammenlebten und diese sich durch Namen verschiedener Pflanzen und deren Farben voneinander unterschieden. Damit sich die Senioren besser zurechtfänden, seien hier zum Beispiel alle Türen grün gestrichen und in entsprechenden Farbtönen auf den Stationen ‚Rosenrot‘, ‚Mimosengelb‘, ‚Lilienweiß‘ und ‚Lavendelblau‘.
„Nicht ‚Veilchenblau‘?" fragte Lilly kichernd.
Die Schwester stutzte zunächst, dann meinte sie lachend: „Nein, nicht ‚Blau wie ein Veilchen‘. Ich glaube, Sie mögen gern Wein, Frau Schneider. Den gibt es sonntags zum Mittagessen."
Lillys Augen strahlten. Ich erschrak. Bei der Anmeldung hatte ich darauf hingewiesen, dass sie eine Zeit lang alkoholabhängig gewesen war. Das sollte die Schwester unbedingt wissen. Wir verließen