Sri Ramana Maharshi: Im Lotus des Herzens
By Satyamayi
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About this ebook
Der Zugang zur atmenden, pochenden Wissenschaft vom Selbst wird für uns durch die beeindruckenden Werke Sri Ramana Maharshis und seine Biographie in diesem Buch leichter, ein Abenteuer für Seele und Geist, die Entdeckung der wahren Quelle unseres Lebens, des ununterbrochenen Bewusstseins. Der große Weise vom Berg Arunachala zeigt uns an seinem eigenen Beispiel, dass es sehr wohl möglich ist, noch hier in einem sterblichen Körper bleibendes Glück zu finden.
Seine zeitlose Botschaft erfasst gerade heute immer weitere Kreise von Wahrheitssuchern aller Temperamente, weil sie unserem eigenen Wesen völlig natürlich ist. Es gibt nur das wahre Selbst im eigenen Innern, Gott in all Seiner Vollkommenheit. Alles andere ist Illusion.
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Book preview
Sri Ramana Maharshi - Satyamayi
Satyamayi
SRI
R
AMANA
M
AHARSHI
Im Lotus des Herzens
HEINRICH SCHWAB VERLAG
ARGENBÜHL-EGLOFSTAL
Übertragung ins Deutsche autorisiert
durch den Präsidenten des Sri Ramanāśram,
Tiruvannamalai, Südindien
ISBN 3-7964-0531-2
2. Auflage 2003
Alle Rechte für die deutsche Ausgabe vorbehalten
© 1960 by Heinrich Schwab Verlag KG
D-88260 Argenbühl-Eglofstal
Tel. 0049-7566-941957
E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Aussprache der wichtigsten Sanskrit Buchstaben in Umschrift
Das Leben
Das Werk
1. KAPITEL
Die Originalschriften und Hymnen
Brahman
Ātman
Māyā
„Wer bin ich?"
Die Suche nach dem Selbst
I. Die Suche
II. Der Geist
III. Die Welt
IV. Der Jīva
V. Das Höchste Wesen
VI. Die Erkenntnis des höchsten Selbst
VII. Anbetung
VIII. Befreiung
IX. Der achtfache Pfad des Yoga
X. Der achtfache Pfad der Erkenntnis
XI. Die Entsagung
XII. Schluss
Die spirituelle Unterweisung
Das Buch der Lehre
Das Buch der Übung
Das Buch der Erfahrung
Das Buch des Verweilens
Upadeśa
Die Unterweisung durch den Guru
Ulladu Narpadu
Vierzig Strophen zur Weisheit
Ergänzung zu Ulladu Narpadu
Die Hymnen
Aruṇācala zum Ruhme
Die Hochzeitsgirlande
Ātma Vidyā – Die Erkenntnis des Selbst
Fünf Strophen über das Eine Selbst
Fünf Edelsteine für Aruṇācala
Acht Verse über Aruṇācala
Das Halsband aus neun Edelsteinen für Aruṇācala
Zehn Strophen an Aruṇācala
2. KAPITEL
Übertragungen
Aus der Bhagavad Gīta
Aus dem Vivekācuḍāmani
Die Hymne an Dakṣiṇāmūrti
Sechs Strophen aus dem Yoga Vasiṣtḥa
Akarabhuvanam, Chidambaram Rahasyam
Aus dem Devikalottara
Aus dem Sarvajñānottara
Nachwort
Vorwort
Der moderne Mensch, zumindest jener der westlichen Welt, ist nicht mehr religiös. Dafür leidet er an Komplexen. Zwischen diesen beiden Tatsachen bestehen tiefe und grundsätzliche Zusammenhänge, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Immerhin dürfte es kein Zufall sein, dass nach dem Aufkommen der jüngsten der vier Hochreligionen – des Islam – keine neue mehr entstanden ist, d.h. in einem Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden. Der Zeitgenosse, der irgendeiner der bestehenden Hochkirchen verschworen ist, wird darauf antworten, dass für eine weitere Religion keine Notwendigkeit bestehe, da die alten, insbesondere die seine, ein für allemal alle religiösen Bedürfnisse befriedige. Das trifft nun leider nicht zu; sie haben nicht einmal die natürlichen religiösen Anlagen ihrer Anhänger am Leben erhalten, geschweige sie entwickeln können; nur aus diesem Grund sind diese verkümmert. In ihrer orthodoxen Form haben die Kirchen es selbst in ihrer Frühzeit nicht vermocht, aber immerhin waren sie ein geeigneter Nährboden, auf dem eine überdurchschnittliche religiöse Anlage gedeihen und zu eigener Entfaltung erblühen konnte. Jede dieser Hochreligionen entwickelte auf solche Weise ihre eigene Mystik und in ihr jenen einen Gipfel, auf dem alle vier Pfade in der Schau der gleichen höchsten Wahrheit zusammentreffen.
Dem modernen Menschen ist Gott nicht mehr Gott. Seine Wissenschaften haben Ihn, den persönlichen Gott, aus der Welt hinausgedacht. Und da sie als ihre Aufgabe lediglich die Ergründung der sogenannten materiellen Welt betrachten, halten sie es für außerhalb ihrer Kompetenz, die geistige Wahrheit, die hinter dieser materiellen Welt steht und durch sie ausgedrückt wird, in ihrer unpersönlichen Form zu suchen und aufzudecken.
Damit ist der Mensch aus seiner tieferen Beziehung zum All herausgelöst und zum Sandkorn an dessen Rand geworden, ein verlorenes Nichts, das im Rhythmus seines Planeten aus Tag und Nacht sinnlos um sich kreist, einer ebenso sinnlosen Auflösung entgegen. Religion aber, wie er sie versteht, ist ihm politisch „Opium für das Volk", psychologisch also: Märchen für Kinder und alte Leute, aus Lebensangst geborener eingebildeter Halt für Menschen, die nicht den Mut haben, in den Abgrund des Nichts zu blicken, der sie erwartet.
Der Mensch des Ostens – mit Ausnahme einer hauchdünnen, westlich verdorbenen „Oberschicht" – steht sich selbst und der Welt noch anders gegenüber. Auch seine Religionen sind zur Orthodoxie erstarrt, aber sein religiöser Instinkt ist stets kräftiger gewesen – alle Religionen sind im Licht des Ostens aufgegangen – und hat nicht resigniert vor der Eiseskälte des neu im Westen aufgegangenen Sterns einer rationalistischen Weltanschauung. Denn er weiß es besser.
So entwickelte er im Hinduismus schon vor rund tausend Jahren auf dem Nährboden von dessen alter vedischer Weisheit die geniale Philosophie des Advaita, des Einen ohne ein Zweites, und im Buddhismus des Fernen Ostens rund fünfhundert Jahre später den Zen-Buddhismus, beides keine Religionen im alten Sinn mehr, sondern höchst „moderne Wege in die Tiefen der Psyche, Pfade in jene dritte Region, zu der der westliche Mensch das Tor zugeschlagen hat. Er bewegt sich zwar sicher und selbstbewusst auf den beiden anderen Ebenen seiner Erfahrung, der materiellen und der intellektuellen, aber er weiß nichts mehr von jener dritten, der intuitiven, die ihn erst vollkommen, d.h. zu dem Ganzen macht, das er seiner Anlage nach sein soll. Das Meer der wunderbaren Wirklichkeit dieser dritten Ebene erreichte sein Bewusstsein nur in dürftigen Spritzern durch das Medium der Kunst und selbst da, wo es einmal stärker durchbricht und die Dämme seiner engen Ich-Bezogenheit niederreißt – in einer großen Liebe –, erkennt er ihre Herkunft nicht. Denn auch die von ihm entdeckte „Wissenschaft von der Seele
, seine Psychologie, krankt an der Verkümmerung seines Wahrnehmungs- und Beobachtungsvermögens auf dieser dritten Ebene. So flüchten die Wenigen, in denen die innere Stimme trotz allem nicht schweigen will, zur Weisheit des Ostens, um bei ihr vielleicht das zu finden, was die westliche ihnen als „nicht vorhanden" verweigert. Oft wird diese Suche ein Wandern im wilden Wald fremder Traditionen, fremder Vorstellungen, fremder Denkverbindungen; auch die Orthodoxie des Ostens poliert an Haufen von Glasperlen, unter denen die Edelsteine nicht leicht zu finden sind. Und zahlreich sind die falschen Propheten.
Einer der wenigen wahren Propheten ist Sri Ramana Maharshi, der Weise vom Berg Aruṇācala. Er begründete keine neue Religion, nicht einmal eine neue Philosophie. Und vielleicht ist dies ein Symptom, dass der Mensch sich tatsächlich aus dem Rahmen der organisierten Religionen hinausentwickelt hat. Auch die Advaita-Philosophie, die der Maharshi als Denkobjekt denen reicht, die das Denken durchaus nicht lassen können, ist ihm nur Mittel, nicht viel mehr als ein notwendiges Übel, eine Arbeitshypothese, mit der sich diejenigen in die Tiefe vortasten können, die nicht den Mut zum Absprung in das Unbekannte haben.
Er verkündet nichts absolut Neues, aber er kündet das Alte so, dass es den modernen Geist wie eine Offenbarung trifft und daher die Wirkung entfaltet, die die Tiefe erreicht und aufschließen hilft.
Er spricht nur die alte Zauberformel der Menschheit aus: „Erkenne dich selbst; er kleidet sie in die Frageformel „Wer bin ich?
– aber er spricht sie so, dass sie ihren mystischen Sinn hergeben muss. Denn es handelt sich dabei nicht um eine intellektuell durchgeführte Analyse des individuellen Persönlichkeitskomplexes, sondern um den Vorstoß über diesen hinaus in jene Tiefe des Unpersönlichen Ich, das wir wirklich sind, um die Entdeckung jenes großen Geheimnisses, unseres Selbst, das frühere Jahrhunderte „Gott" nannten.
Dazu bedarf es keiner komplizierten Philosophie, keiner besonderen Religion, keines mühsamen Yoga und keiner Weltanschauung. Und da der Weise des Ostens lebt, was er lehrt, so hat Sri Ramana auch nichts dergleichen geschrieben. Aber er ist viel gefragt worden, und da er geduldig alle Fragen, die in ehrlicher Suche gestellt wurden, aus seiner Weisheitsschau heraus beantwortet hat, so findet auch der Sucher des Westens die Antwort auf jede Frage, die ihn im Lauf der Zeit beschäftigt haben mag, in den „Gesprächen mit Sri Ramana Maharshi", die gesondert erscheinen und den besten Kommentar zu der konzentrierten Lehre bilden, die dieser Band „Leben und Werk" vermittelt.
Der Weise vom Berg Aruṇācala hat Tamil gesprochen, die reichste und blühendste der drawidischen Sprachen Südindiens. Aber er verstand von seiner Schulzeit her so viel Englisch, dass er die Übertragung seiner wenigen Schriften ins Englische kontrollieren konnte. Über schwierige oder dunkle Punkte ist solange mit ihm diskutiert worden, bis Sinn und Bedeutung einwandfrei feststanden.
Noch leben im Sri Ramanāśram, den die sterbliche Form des Meisters verließ, diejenigen, die ihm zu Füßen gesessen, die ihn zur Mitte ihres Lebens gemacht haben. Sie haben mir bereitwillig geholfen, meine Übertragung der Tamil-Prosa ins Deutsche zu überprüfen und die Hymnen des Meisters zu übertragen, eine Aufgabe, die bei den besonderen Schwierigkeiten, die die Tamil-Dichtung bietet, ohne diese Hilfe unlösbar gewesen wäre.
Ich möchte diesen Freunden, Tamilen und Engländern, hier für alle Hinweise, Anregungen und Ausleihungen von Manuskripten danken, in erster Linie Sri Sundaresa Ayyar, der mir sein reiches kulturelles Wissen besonders zur Erläuterung der Hymnen selbstlos zur Verfügung gestellt hat.
Als Person war Sri Ramana Maharshi Hindu und Südinder reinster Prägung. Als verwirklichtes Wesen, d.h. als Mensch, der seine höchste Wahrheit erfahren hat, ist er jenseits der Begrenzungen der individuellen Persönlichkeit, wie da sind Religion und Rasse, Herkunft, Sprache und Geschlecht. Er lebte und lebt in jener Region, in der wir alle eins sind; das macht den Zugang zu seiner Weisheit auch für den Menschen des Westens leicht.
Möge er noch vielen Suchern der Führer auf dem Weg in die Tiefen des Seins werden, der er so vielen war und noch ist.
Satyamayi
Sri Ramanāśram
Tiruvannamalai, 1959
Aussprache der wichtigsten
Sanskrit-Buchstaben in Umschrift
14. April 1950
Beim Stundenschlag, da sich zum letzten Male Die Lider senkten über deine Augen, Die starken, strahlend-schönen, deren Zauber So manchem lebenswunden Menschenherzen Das Tor erschloss vor grenzenlosen Weiten Ewiger Harmonie – –
Da löste sich aus hohem Weltenreigen, Aus Natarajas schöpferischem Tanz ein heller Stern. Er glühte auf und glitt in sanftem Bogen Über Madras dahin, sank und erlosch.
Und mancher, der ihn fallen sah, gedachte dein, Und wusste so die Kunde, Die jener helle Stern ins All geschrieben:
Dass von dir glitt, was Hülle, irdisch war, Und du zurücktratst, von woher du gekommen, In jene stille, reine, wandellose Ewige Wirklichkeit, Die du uns neu geschenkt in deinem Schweigen.
Aus Śivas Reigen
Löst sich ein Stern, glüht auf und fällt – wohin?
Das Eine, schweigend, regungslos und rein – Mit sich allein – –
Ruht unberührt die wandellose WAHRHEIT.
OM TAT SAT
Das Leben
Lebensläufe – ist das Interesse daran wirklich nur nachbarliche Neugierde, die dem Schicksal anderer in die verhängten Fenster lugen möchte, das Bestreben eines hoffnungslosen Durchschnittsdaseins, das die große Linie – oder auch nur die Sensation –, die es bei sich selbst vermisst, im Lebensablauf der Großen mit zu erleben versucht? Oder ist solche Anteilnahme Ausdruck eines unbewussten Ahnens, dass alles äußere Geschehen mit dem inneren zusammenhängt, von ihm bedingt wird und es mitbedingt?
Ein Interesse, das lediglich Neugierde ist, wird fast immer enttäuscht werden, wo es sich um das Leben der Großen im Geist handelt. Ihr Alltag ist gewöhnlich noch alltäglicher als der des Durchschnitts. Geht der Nachdenkliche dieser Tatsache nach bis auf den Grund, dann entdeckt er dort, dass jeder, nicht nur der Ausnahmemensch, jene zwei Lebensläufe hat, den äußeren der Daten und Begebenheiten und den inneren, der den verborgenen Sinn des Alltagsgeschehens aufdeckt.
Die äußeren Tatsachen im Lebenslauf Sri Ramana Maharshis sind bald gegeben. Das Haus seiner Eltern stand – und steht noch – in Tiruchuzhi, einem der 1001 Dorfstädtchen Südindiens. Dort wurde er am 30. Dezember 1879 um 1 Uhr nachts als der zweite Sohn geboren. Es war eine bedeutsame Nacht: Arudra Darśan. Śiva, der Große Gott, der als Rudra, der Zerstörer, die von Brahma geschaffene und von Viṣṇu erhaltene Welt wieder in das Nichts der Vorschöpfung zurückzieht, verlässt als Arudra, der Gnädige, den Tempel, um sich seinen Anbetern zu zeigen, das Bad im heiligen Wasser zu nehmen und nach der Prozession durch die Straßen wieder in das Dämmerdunkel seines Allerheiligsten zurückzukehren.
Mag sein, dass man im Elternhaus das Auftreten des kleinen Venkataraman in solcher Nacht als besonders glückbringend vermerkte, doch hatte es dabei sein Bewenden; der Hinduismus hat viele glückverheißende Tage und Nächte, an denen Kinder geboren werden. Die Atmosphäre des Hauses war nicht so, dass man aus einem solchen Zusammentreffen weitergehende Schlüsse gezogen hätte. Der Brahmane Sundaram, Venkataramans Vater, war ein energischer und rühriger Selfmademan, der schon als Zwölfjähriger Angestellter eines dörflichen Rechnungsführers war – für zwei Rupies Monatsgehalt –, nach etlicher Praxis es aber einträglicher fand, sich als Schreiber von Anträgen und Gesuchen selbständig zu machen. Er war intelligent und strebsam genug, auch dabei nicht hängen zu bleiben, sondern eroberte sich schließlich die Genehmigung, als Laien-Advokat die Bevölkerung in ihren mancherlei zivilrechtlichen Anliegen vor den Lokalbehörden zu vertreten. Sein freimütiges Wesen und seine Gastlichkeit machten ihn allgemein beliebt; selbst die Wegelagerer sahen in ihm ihren Freund und ließen ihn auf seinen Überlandfahrten unbehelligt. Seine religiösen Anlagen und Betätigungen gingen nie über das Alltägliche des Durchschnittshindu hinaus, ebenso wenig die der Mutter Alagamal.
Zwar verzeichnete die Familientradition einen eigentümlichen Zug. In einer früheren Generation war einem Bettelasketen das übliche Mahl verweigert worden. Er hinterließ seinen Fluch, dass hinfort in jeder Generation dieser Familie einer würde die Bettelschale tragen müssen. Der Fluch hatte einen Bruder von Sundarams Vater gewählt und auch der eigene ältere Bruder war eines Tages aus Dorf und Familie verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Wo würde er sich sein Opfer in der jungen Generation holen – aus dieser oder einer Nebenlinie der Familie?
Vielleicht ist gelegentlich die Rede davon gewesen, aber sicher nur scherzesweise. Denn wie die Dinge sich anließen, zeigte keiner der drei Söhne des nüchternen und rührigen Elternpaars Anlagen, die eine Befürchtung solcher Art hätten aufkommen lassen. Der Älteste war intelligent und fleißig, auch in der Schule, und strebte eifrig dem tüchtigen Vater nach. Vom Jüngsten war noch nicht viel zu erkennen; er litt an den bei indischen Kindern so häufigen epileptischen Anfällen. Der zweite erwies sich als ebenfalls intelligentes, aber leider völlig uninteressiertes Kind. Seine Begabung erlaubte ihm, alles ernsthafte Arbeiten für die Schule zu vernachlässigen; er brauchte sich den für die betreffende Schulstunde fälligen Text nur einmal von einem der Mitschüler anzuhören, um ihn fehlerlos wiederholen zu können – und ihn ebenso schnell wieder zu vergessen. Mit solcher Methode kommt man zwar durch die Schule, die entsprechenden guten Anlagen vorausgesetzt. Für eine einträgliche Berufslaufbahn genügt es jedoch nicht. So waren Eltern und Lehrer mit Recht nicht ganz zufrieden mit den Leistungen des jungen Venkataraman, der Spiel und Sport entschieden einer nützlichen Tätigkeit vorzog. Immerhin trieb er seinen Fußball durch die Elementarklassen im Heimatort, boxte, schwamm und lief als guter Sportläufer durch die Mittelschulen in Dindigul und Madura und landete schließlich auf der amerikanischen Missions-Oberschule. Er lebte im Hause seines Onkels – sein Vater starb, als Venkataraman erst zwölf Jahre alt war – und war nach Ansicht seiner Umgebung nichts als ein gesunder, schulfauler Durchschnittsjunge.
Der eigentümliche Zug, dass es schwer war, ihn aus dem Schlaf zu holen, wurde als nichts Besonderes angesehen, obgleich er soweit ging, dass seine Mitschüler ihn, dessen Kraft und Schneid sie fürchteten, wenn er wach war, manchmal aus dem Schlaf holten, um ihn zu hänseln und zu verprügeln, weil er es dann wehrlos über sich ergehen ließ und am anderen Tage keine Erinnerung mehr daran hatte.
Er ist nach westlicher Rechnung 15, nach indischer 16 Jahre alt, als er ein erstes spirituelles Erwachen erlebt, ohne es jedoch selbst zu erkennen. Er trifft einen Verwandten, der von einer Reise zurückkehrt, und fragt ihn, woher er käme. „Von Aruṇācala", ist die sachliche Antwort.
Aruṇācala – er hat den Namen der Wallfahrtsstätte oft genug gehört, ohne mehr als einen Namen zu hören. Diesmal erfasst ihn eine seltsame Erregung, ein innerer Sturm wie aus einer anderen Erlebniswelt, als in der er