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Alabaster
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Ebook281 pages3 hours

Alabaster

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About this ebook

Als Maryams Vater einem sterbendem Leprakranken beisteht, schenkt ihm dieser einen Alabasterkrug mit unbezahlbar kostbarem Duftöl. Ein Vermögen für die Familie, die am Rande der Dorfgesellschaft lebt. Doch der Krug bringt Unheil: Der Vater steckt sich mit Lepra an und muss das Dorf verlassen, Maryam und ihre Geschwister werden zu Aussätzigen.
Doch dann erscheint Hoffnung: Gerüchte fliegen durchs Dorf über einen Wunderdoktor, der durchs Land zieht. Es kommt zu einer Begegnung, die Maryams Leben und das ihrer Geschwister für immer auf den Kopf stellt. Die ergreifende Geschichte einer starken Frau, die sich nicht mit ihrem Schicksal abfindet
LanguageDeutsch
PublisherSCM Hänssler
Release dateJun 12, 2017
ISBN9783775173773
Alabaster
Author

Chris Aslan

Chris Aslan spent his childhood in Turkey and Lebanon, and much of his adult life in Central Asia. He is a writer, a lecturer on art and textiles, and a leader of tours to Central Asia. He is the author of Alabaster and Mosaic.

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    Book preview

    Alabaster - Chris Aslan

    CHRIS ASLAN – Alabaster – Aus dem britischen Englisch von Susanne Naumann – SCM HänsslerSCM | Stiftung Christlicher Medien

    Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

    ISBN 978-3-7751-7377-3 (E-Book)

    ISBN 978-3-7751-5796-4 (lieferbare Buchausgabe)

    Daten-Konvertierung E-Book:

    Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

    © der deutschen Ausgabe 2017

    SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

    Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

    Originally published in English under the title: Alabaster

    Copyright © Chris Aslan. Published by Lion Hudson IP Ltd, Oxford, England.

    This edition copyright © 2016 Lion Hudson IP Ltd.

    Übersetzung: Susanne Naumann (SuNSiDe)

    Umschlaggestaltung: Sophia Wald

    Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

    Inhalt

    Über den Autor

    Eins

    Zwei

    Drei

    Vier

    Fünf

    Sechs

    Sieben

    Acht

    Neun

    Zehn

    Elf

    Zwölf

    Dreizehn

    Vierzehn

    Nachwort des Autors

    Dank

    Für meine leiblichen Schwestern, Helen und Sheona,

    und für Askana, Gulnora, Opa und meine anderen Schwestern in Zentralasien.

    Ich höre noch die Stimme meiner Mutter, die mir erzählt, was alle Frauen in unserem Dorf ihren Töchtern erzählen:

    »Marjam, die Ehre einer Frau ist so zerbrechlich und schön wie die Flügel eines Schmetterlings. Was ist ein Schmetterling ohne Flügel? Nichts als ein Wurm. Vergiss das nie. Achte auf deinen Ruf, denn er ist kostbarer als ein Ehemann oder Söhne.« Wahrscheinlich ist es ein Segen, dass meine Mutter nicht mehr lebt und mich jetzt nicht sieht.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Über den Autor

    Chris Aslan Chris Aslan ist mit der Kultur des Nahen Ostens vertraut: Er wurde in der Türkei geboren und wuchs während des Bürgerkriegs in Beirut auf. Nach dem Studium zog er nach Zentralasien, wo er viele Jahre lebte. Er ist zur Zeit als Dozent unterwegs, führt Touristen durch Zentralasien und studiert in Oxford, um anglikanischer Pfarrer zu werden.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Eins

    Ich treibe auf einem Meer aus Sand, werde hin- und her geschleudert von Sandwogen. Jetzt bekomme ich Sand in den Mund. Ich ersticke. Ich kämpfe ums Überleben. Hustend wache ich auf. Von der Decke regnen Staub und Schutt auf mich herab.

    Der Boden unter uns hebt sich, vibriert. Ich höre die Dachbalken über mir ächzen und knacken. In den Wänden und im Lehmfußboden tun sich Risse auf. Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin schreien. Der Lehm und Schutt, die von der Decke herabfallen, begraben uns; einer der Schreie erstirbt, verwandelt sich in einen Erstickungskrampf. Irgendjemand muss den Staub oder Schutt in die Lunge bekommen haben.

    Etwas Hartes, Scharfes streift meine Stirn; ich schreie ebenfalls auf. Wenn ich es nicht schon gewusst hätte – jetzt besteht kein Zweifel mehr, das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit. Ich versuche, unter das Bett zu kriechen, um mich zu schützen. Mein Mann Ischmael springt aus dem Bett und ruft nach seiner Mutter. Ich höre, wie sie erleichtert aufschluchzt, und weiß, dass sie sich jetzt an ihn klammert und er sie mit seinem Körper vor dem herabfallenden Schutt schützt, eine Hand wahrscheinlich ausgestreckt nach seiner erstickenden Schwester. Ich liege allein am Boden. Blut, warm und klebrig, rinnt mir wie Wachs über die Stirn.

    Dann hört der Boden auf zu beben. Bald sind nur noch Schluchzen und das Keuchen und die erstickte Panik des Viehs im Stall zu hören, der nur durch eine Wand von unserem Raum getrennt ist. Wir alle schreien auf, als die Erde erneut zu beben beginnt, als spiele sie mit uns und hätte uns nur in falscher Sicherheit wiegen wollen. Dann wieder Stille. Allmählich beruhigt sich unser Herzschlag, unser Atem wird regelmäßiger.

    »Marjam, sitz nicht rum, zünde die Lampe an!«, faucht meine Schwiegermutter mich an. Ich taste an der Wand nach dem Alkoven und ziehe eine flache Öllampe heraus. Die Hand an die Mauer gestützt, taste ich mich weiter vorwärts, unterdrücke einen Aufschrei, als ich mit meinem nackten Fuß auf etwas Scharfkantiges trete. Ich arbeite mich zu der Tür vor, die nach draußen in unsere Küche führt. Ich rüttle an der Tür, die sich verklemmt hat. Als sie endlich nachgibt, hängt sie in einem komischen Winkel im Türblatt.

    Draußen scheinen die Sterne, hell genug, dass ich etwas sehen kann. Der Mond ist bereits untergegangen, es muss also die letzte Nachtwache sein, kurz vor der Morgendämmerung. Die Glut vom gestrigen Abendfeuer ist erloschen; es dauert eine Weile, bis ich den Zündstein finde und eine Flamme entfachen kann. Ich lege etwas Holz auf, dann fülle ich die Lampe mit Olivenöl, drehe einen neuen Docht und lege ihn ein. Dann zünde ich ihn an.

    »Marjam!« Ich höre den scharfen Ruf meiner Schwiegermutter und eile zurück ins Haus. Die Familie hat sich in einem Nest aus Decken zusammengekauert. Schoschanna wiegt ihre Tochter Riwka, als wäre sie noch ein Baby, dabei ist sie dreizehn, nur zwei Jahre jünger als ich.

    »Sind alle in Ordnung?«, fragt Ischmael. Sein besorgter Blick lässt mich aus. Ich versuche, mir das Haar aus der Stirn zu streichen, das mit dem Blut aus meiner Stirnwunde verklebt ist. Sie nicken, die Augen noch immer weit aufgerissen vor Schreck. Dann rappelt Schoschanna sich auf. »Wir müssen nach dem Vieh sehen. Marjam?« Ich will in den niedrigen Verschlag gehen, in dem wir die Tiere halten. »Nein! Zünde erst noch eine Lampe an. Lass uns hier nicht im Dunkeln sitzen!« Ich bringe ihr die Lampe. Das spärliche Licht lässt ihre plumpe Gestalt fast ausgemergelt wirken. »Und wasch dir das Gesicht«, fügt sie etwas freundlicher hinzu. »Du blutest.« Im Licht treten die neuen Risse in den Wänden gnadenlos hervor. Ischmael hat die Wände erst im letzten Sommer neu verputzt und getüncht; jetzt wird er alles noch einmal machen müssen.

    Ich gehe wieder hinaus zum Küchenfeuer und lege abermals Holz nach, dann zünde ich eine weitere Lampe an und gehe in den Stall. Ich werde mit erwartungsvollem Blöken begrüßt, obwohl ich gar kein Futter bringe. Die Schafe und Ziegen scheinen unverletzt zu sein; falls auch hier Schutt von der Decke gefallen ist, ist er im Stroh verschwunden. Hier drinnen käme man nicht einmal auf die Idee, dass ein Erdbeben stattgefunden hat.

    Nicht so draußen. Etwas entfernt, weiter unten auf der Straße, höre ich panische Stimmen und Schreie. Die Angst drückt mir das Herz zusammen.

    Ich laufe wieder hinein. »Tante«, sage ich mit geneigtem Kopf und wähle die respektvolle Anrede: »Darf ich, mit Ihrer Erlaubnis, nach meiner Schwester sehen, ob sie verletzt ist?«

    »Und uns in diesem Chaos sitzen lassen?«, schmollt Riwka.

    »Im Tageslicht werde ich schneller aufräumen können«, antworte ich und verfluche Riwka im Stillen.

    Schoschanna legt den Kopf schräg und lauscht auf das Geschrei draußen. Es wäre unter den gegebenen Umständen nicht unschicklich, wenn eine Frau bei Nacht draußen herumläuft. Sie nickt kurz. Wir wissen beide, dass ich vor Sonnenaufgang wieder da sein werde, da ich sonst dafür bezahlen muss.

    »Bedecke dich«, fügte Schoschanna noch hinzu. Ein Erdbeben ist für sie kein Grund, gegen die Etikette zu verstoßen. Ich bedecke meinen Kopf, greife nach meinem Umhang, ziehe meine Sandalen an und schlüpfe aus unserem von einer Mauer umgebenen Hof. Das Dorf ist mit hingetupften Lichtern durchsetzt wie an einem Festtag. Meine Schwester lebt auf der anderen Seite unseres kleinen Dorfes. Während ich die Straße entlanglaufe und dabei einem angebundenen Esel ausweiche, der versucht, sich loszureißen, erstelle ich im Geist eine Verlustliste, ausgehend von den Lauten, die aus den anderen Höfen an mein Ohr dringen. Ich höre das Klagen aus dem Haus von Jakob und denke, dass dort wohl jemand durch eine herabstürzende Decke erschlagen wurde. Ich werde morgen hingehen und mit ihnen klagen, doch zuerst muss ich nachsehen, ob es Marta gut geht. Die meisten Familien zerren ihre Bettstellen hinaus in die ummauerten Höfe oder aufs Dach, falls es zu Nachbeben kommen sollte. Die Straße ist voller Menschen, überall hört man erleichterte Rufe, wenn sie feststellen, dass Verwandte oder Nachbarn noch am Leben sind.

    Ich halte den Kopf gesenkt. Niemand grüßt mich – was allerdings völlig normal ist. Der Frühjahrsregen ist gekommen, die Wege sind schlammig. Ich versuche, mich dicht an den Mauern zu halten; hier ist es trockener. Dabei trete ich beinahe auf eine schlafende Henne und zucke erschrocken zusammen. Sie gackert. Ich eile am Brunnen vorbei, dem Mittelpunkt unseres Dorfes. Hier stehen, im Schatten von Dattelpalmen, die Läden. Als ich am Haus meiner früheren Freundin Imma vorbeilaufe, bin ich versucht, hineinzugehen und mich nach ihr zu erkundigen – obwohl sie mich hasst. Doch dann höre ich, wie ihr Vater Halfai mit seiner bebenden, unsicheren Stimme ein heiliges Danklied anstimmt, und weiß, dass ihre Familie verschont wurde.

    Atemlos laufe ich die Anhöhe hinauf. Unser Haus steht am äußersten Rand des Dorfes. Ich rieche bereits die Blüten an unserem Aprikosenbaum. Ich erreiche den Anstieg zu den Olivenhainen und klettere über die Felsen, auf denen Eleasar damals ausrutschte und stürzte, als wir spielten. Er war ohnmächtig. Ich rannte nach Hause und rief, ich hätte einen Mord begangen. Noch ein kleines Stück und ich bin zu Hause. Über mir reckt der Aprikosenbaum, der unser kleines, von einer Mauer umgebenes Grundstück dominiert, seine Zweige in den Himmel. Doch es ist keine Zeit, den köstlichen, berauschenden Duft einzuatmen. Ich muss herausfinden, ob meine Schwester noch lebt.

    Das Tor ist verriegelt; aus dem Innern des Hauses dringt kein Licht. In meiner Magengrube strudelt die Angst, ich habe den bitteren Geschmack von Galle im Mund. Ich halte mich nicht damit auf zu klopfen. Ich raffe meinen Umhang zusammen, nehme Anlauf, springe hoch und greife nach einem der überhängenden Äste, die im Dämmerlicht kaum sichtbar sind. Dann ziehe ich mich hoch. Die Prellungen von den letzten Schlägen, die ich erhalten habe, schmerzen, doch ich ignoriere sie, ziehe die Beine an und schwinge mich über die Mauer.

    Etwas würdelos falle ich auf der anderen Seite hinunter und stolpere dann beinahe über die Kettfäden von Martas letztem Teppich, die im Schatten des Aprikosenbaumes aufgespannt sind. Ich habe keine Zeit zu überlegen, warum sie schon so früh im Jahr mit der Arbeit an einem Teppich angefangen hat; es ist doch noch viel zu feucht, den Tag über einen Webstuhl gekrümmt zu verbringen.

    »Marta?«, rufe ich und spähe in den überdachten Küchenbereich vor dem Haus. Hätte ich doch nur eine Lampe mitgenommen! In der Herdstelle glimmen noch ein paar Funken, also muss Marta bis spätabends gearbeitet und noch später erst gegessen haben. Ich zünde eine Lampe an und eile ins Haus; vorher streife ich an der Schwelle noch rasch meine Sandalen ab. Marta liegt zusammengekrümmt an der Wand, in dem Alkoven aus zwei Regalen, neben der Mitgifttruhe unserer Mutter. Sie hat die Füße angezogen und drückt etwas Kostbares an ihre Brust. Ich atme erleichtert auf.

    Marta blickt auf. Sie hat riesige dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Blick fällt auf meine bloßen Füße. »Du hättest deine Sandalen nicht auszuziehen brauchen«, sagt sie leise. »Sieh dich doch um! Ich werde den ganzen Vormittag brauchen, um alles wieder einigermaßen sauber zu machen.«

    »Marta!« Ich laufe zu ihr und stelle die Lampe in den Alkoven. Sie schweigt, ihr Atem geht schwer. Ich lehne mich an die Wand, maßlos erleichtert, dass sie unverletzt ist. Dann sinke ich neben ihr auf die Knie und küsse sie auf die Wange.

    »Ihm ist nichts passiert«, sagt sie und hebt den Gegenstand hoch, den sie an ihre Brust gedrückt hält, als zeige sie mir ein Neugeborenes. Es ist der Deckel eines erlesenen Alabastergefäßes – unser kostbarster Besitz und zugleich ein Fluch für uns.

    »Warum hast du es herausgenommen?«, frage ich. »Ist während des Erdbebens etwas auf die Mitgifttruhe unserer Mutter gefallen?«

    »Es war gar nicht in der Truhe«, sagt sie ausdruckslos.

    Sie gibt sich mit einer Hand eine Ohrfeige, die andere hält mit unendlicher Behutsamkeit das Gefäß.

    »Marta!«, sage ich. Sie schlägt sich erneut, diesmal mit der Faust, und will sich ein drittes Mal schlagen, doch ich packe sie am Handgelenk. »Was ist denn in dich gefahren?«, frage ich. In meinem Leben gibt es ohnehin schon viel zu viele Schläge. Sie sagt nichts. Wir kauern schweigend nebeneinander.

    »Ich habe es vor zwei Tagen herausgeholt«, erklärt sie mir schließlich. »Ich hielt es einfach ein bisschen in der Hand und habe es eingeölt, um den Alabaster zu polieren.« Ihre Stimme verklingt. Dann fährt sie fort: »Jeden Abend habe ich es auf das Regal gestellt, neben eine Lampe, und es betrachtet, bis ich einschlief. Wahrscheinlich klinge ich wie eine Götzendienerin, aber ich habe das gebraucht, um meine Hoffnung am Leben zu halten.«

    »Natürlich«, sage ich, umarme sie und versuche zu klingen, als verstünde ich sie und dächte nicht etwa, dass sie verrückt geworden sei. »Aber was hast du dir dabei gedacht, es so offen zur Schau zu stellen? Was, wenn jemand es gesehen hätte?«

    »Ich weiß«, entgegnet sie scharf. Und noch einmal, diesmal sanfter: »Ich weiß. Als das Erdbeben kam, bin ich aufgesprungen. Ich wusste genau, was passiert, und dachte, es sei vielleicht die Strafe Gottes dafür, dass ich mein Vertrauen auf das Gefäß gesetzt habe. Ich rannte zum Regal. Das Gefäß war auf die Seite gefallen, einen Augenblick später und es wäre heruntergerollt und zu meinen Füßen zerschellt. Kannst du dir das vorstellen?« Ihre Augen sind riesig und sie drückt meine Schulter so fest, dass es wehtut.

    »Ist es beschädigt?«

    Sie reicht mir vorsichtig das Gefäß. Ich nehme es ihr ab. Der Griff, das Gewicht, die Schönheit sind mir unendlich vertraut. Der Alabaster ist warm von ihrem Körper. Ich betrachte die gesprenkelte, durchscheinende Oberfläche. Wie oft habe ich es so in der Hand gehalten und mir vorgestellt, ich sähe den Sinn oder gar konkrete Ereignisse der Zukunft in den Maserungen des Steins, der glatter als Marmor ist. Aber natürlich haben sie keinerlei Bedeutung.

    »Halte mir die Lampe«, sage ich und Marta, die weiß, was ich vorhabe, hält sie ein wenig höher, während ich mit den Fingern das zylindrisch geschwungene Gefäß abtaste und nach Rissen oder Sprüngen suche. Es fühlt sich glatt an, bis auf das Band eingeätzter Muster am oberen Rand, die aber ebenfalls unversehrt sind.

    Der Alabaster ist durchscheinend, nur, wenn ich das Gefäß gegen das Licht halte, kann ich einen Sprung erkennen, der sich auf einer Seite nach unten zieht. Die Oberfläche ist dennoch völlig glatt. Mir wird klar, dass der Sprung sich im Innern befinden muss, dort, wo das Parfüm ist.

    »Im Tageslicht ist er nicht zu sehen«, sage ich und lache ein wenig vor Erleichterung. »Es ist immer noch wertvoll.« Sie antwortet nicht. Ich betrachte weiter die Oberfläche des Gefäßes, spucke kurz darauf und poliere es mit dem Saum meines Gewandes. Kein Mensch im Dorf hat je etwas so Schönes gesehen und es weiß auch niemand, dass wir so etwas besitzen. Es ist unser Geheimnis. Das Gefäß birgt fast einen halben Liter reiner Narde und ist ein Vermögen wert. Ich habe keine Ahnung, wie Narde duftet, doch das tut meiner Fantasie keinen Abbruch. Beinahe wäre das Symbol all unserer Hoffnungen und Träume zerbrochen. Ich drücke das Gefäß an meine Brust. Marta scheint meine Gedanken lesen zu können.

    »Wie konnte ich nur so dumm, so unbedacht sein?«, sagt sie. Sie sieht mich an. Ihre Haut wirkt fahl, gelblich; ihre schönen Locken sind strähnig und ungepflegt. »Miri, ich glaube, ich kann das nicht mehr lange aushalten«, sagt sie. Ich halte die Luft an. So etwas hat sie noch nie gesagt. »Immer wieder frage ich mich, ob das alles ist, ob es irgendwann einmal besser wird.«

    »Natürlich wird es besser werden«, sage ich und versuche, hoffnungsvoll zu klingen. »Du könntest dir ein paar Frauen nehmen, denen du das Weben beibringst. Wir könnten auch das Gefäß verkaufen. Dann könntest du einen eigenen Laden eröffnen!« Die Idee gefällt mir, doch Marta ist gekränkt.

    »Glaubst du wirklich, ich würde mich von dem Gefäß trennen – für einen Laden?«, fragt sie. »Und die Hoffnung auf eine Ehe ein für alle Mal aufgeben?«

    »Das habe ich nicht ge-…«

    »Eine vertrocknete Traube werden, die jemand zu ernten vergaß – wer wollte sie noch haben? Hm? Ich sollte im ganzen Dorf herumerzählen, dass wir dieses Gefäß besitzen, dann würden die Freier hier Schlange stehen.«

    Sie lacht verbittert auf. Ich auch. Ich sage: »Glaub mir, das willst du nicht wirklich.«

    »Behandeln sie dich schlecht?«, fragt Marta, steht auf und streicht zart über meine Wange. Plötzlich ist sie wieder in ihre Rolle als ältere Schwester geschlüpft, die Trösterin, nicht die Getröstete.

    »Mir geht es gut«, lüge ich. Sie soll sich keine Sorgen machen. Was könnte sie auch tun? »Ich bin froh, dass er nichts von dem Gefäß weiß«, sage ich. »Wenigstens das wird er nie in die Finger bekommen!«

    »Ich stelle es wieder in die Truhe, dort kann ihm nichts passieren.« Sie öffnet die Truhe und hält das Gefäß noch einen Augenblick zärtlich in der Hand, dann legt sie es ganz unten hinein, unter die Gewänder, Kopftücher, Umhänge und anderen Erinnerungen an die Mitgift unserer Mutter.

    »Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, woher Vater es hat?«, fragt Marta.

    »Nicht mehr«, lüge ich wieder. »Ist das denn wichtig?«

    Es ist ein Geheimnis, das ich ganz allein trage, das sie nie erfahren wird. Ich denke unentwegt daran; manchmal bricht es mir beinahe das Herz, dann wieder würde ich das verfluchte Gefäß am liebsten an die Wand schmeißen und Gott mit den Scherben die Augen auskratzen.

    Es war zwei Jahre nach Mutters Tod. Vater fing gerade wieder an, lächeln zu lernen. Ich selbst hatte nichts zu lachen: Marta hatte mich gebeten, ihr zu helfen, einen ganzen Sack trockener Linsen zu lesen. Eine Schüssel voll nach der anderen breiteten wir auf einem Stück weißem Tuch aus und suchten nach kleinen Steinchen, die wir herausklaubten. »Sie könnten dich einen Zahn kosten«, hatte sie mich gewarnt. Es war eine Aufgabe, die keine von uns mochte oder besonders gut beherrschte, doch Marta hatte beschlossen, dass ich ein wenig Unterricht in den weiblichen Fähigkeiten der Haushaltsführung bräuchte. Eleasar saß im Schatten des Aprikosenbaumes und versuchte, lesen zu lernen, doch auch ihm ging die Arbeit nicht leicht von der Hand. Glücklich, eine Entschuldigung zu haben und der ungeliebten Arbeit entfliehen zu können, ging ich zu ihm, um ihm zu helfen, doch schon bald konnte ich meine Ungeduld kaum mehr bezähmen. Schließlich lachte ich.

    »Wie willst du mir schon helfen?«, spuckte er. Wenn er wütend war, erinnerte er mich immer an ein fauchendes Kätzchen. Wieder musste ich lachen. »Was weiß ein Mädchen schon vom Lesen? Genauso gut könnte ich einen Esel das Alphabet lehren.« Das war nicht mehr lustig. Ich wollte ihn packen, doch er entwand sich mir und war im nächsten Moment über die Mauer gesprungen.

    »Vater, hast du das gehört?«, fragte ich. Mein Vater kam gerade von dem unreinen Ort in einer Ecke unseres Grundstückes.

    Vater seufzte. »Kannst du mir Wasser eingießen?« Er hockte sich neben die duftenden Kräuter, die Marta neben dem unreinen Ort gepflanzt hatte, um den Geruch zu überdecken, und seifte sich die Hände ein. Dann goss ich aus einem Krug Wasser über seine Hände. Es war noch früh am Tag, doch die Hitze war bereits mit Händen zu greifen.

    Er sagte: »Wir müssen euch beide trennen. Du begleitest mich und gießt mit mir die jungen Bäume, Eleasar kann hier bei Marta bleiben.«

    »Wir sollen arbeiten, während Eleasar den ganzen Tag schwimmen gehen darf?«

    Vater sagte nichts, seufzte nur wieder, lächelte etwas kläglich und sah mich mit seinen großen braunen Augen an. Und schon war ich besänftigt. Ich wusste, dass Vater sich Sorgen machte, dass die Sommerhitze das Fieber hervorrufen könnte, das meine Mutter getötet hatte und auch meinen Bruder hin und wieder heimsuchte. Marta blickte kurz auf, schüttelte in geistesabwesender Verzweiflung den Kopf über mich und verlor sich wieder in ihren Linsen.

    Später, als wir den Hang zum Olivenhain zu unserer Baumgruppe hinaufstiegen, war mir die Sache noch immer nicht aus

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