Weiblichkeit im Aufbruch
By Nora Amin
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Book preview
Weiblichkeit im Aufbruch - Nora Amin
Raum
1. Öffentlich sein
»Es gibt keine Regeln.« Diese Worte hallen wie ein Echo in mir wider, während ich durch die überfüllten Straßen meiner Heimatstadt Kairo gehe. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: das Geschlecht. Ich begleite mein Geschlecht, und mein Geschlecht begleitet mich. Die Straße nimmt meine Weiblichkeit wahr und behandelt mich ihr entsprechend. Und während ich beständig herauszufinden versuche, wie ich mich gefahrlos bewegen kann, mache ich Fehler. Ich entdecke den öffentlichen Raum, und ich entdecke, zu wem ich darin werde, was mein Körper darstellt und worin diese ewige Faszination des Frauenkörpers besteht, dass er geschändet und über ihn geherrscht wird. Es ist Sommer 2015.
Es macht einen deutlichen Unterschied, ob ich im Haus oder außer Haus, drinnen oder draußen, allein oder mit anderen bin, ob ich mich in einem privaten Raum aufhalte oder einem öffentlichen (sei er drinnen oder draußen). Und es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen öffentlichen Innen- und öffentlichen Außenräumen.
Der Körper passt sich an – seiner Umgebung und auch menschlichen Faktoren. Es liegt auf der Hand, dass unsere Körper von unserer Umgebung beeinflusst werden, davon, ob wir uns in einem kleinen oder großen Raum aufhalten, einem Raum mit niedriger oder hoher Decke, mit oder ohne Fenster, mit Holzoder Fliesenboden, einem leeren Raum oder einem voller Möbel. Die Größe des Raumes, seine Höhe, die Beschaffenheit der Wände, ob es einen Ausblick gibt – das alles beeinflusst unsere Anwesenheit im Raum. Wir können die von uns erlebte Wirkung allerdings kaum bewusst erkennen.
Die Wirkung dieser Faktoren kann von Gefühlen des Behagens, des Wohlbefindens und reiner Funktionalität bis hin zu solchen der Gereiztheit, Unruhe und Krankheit reichen. Dazu tragen außerdem die Temperatur der Umgebung bei, die Luftfeuchtigkeit, Geräusche und Lärm sowie Bildkompositionen, seien sie natürlichen oder menschlichen Ursprungs. Diese Elemente und Faktoren prägen zusammen unsere Seinserfahrung. So wie das Sein von Kommunikation, der Beziehung zur Welt und der Stellung in ihr beeinflusst ist, ist auch die Existenz in absoluter Einsamkeit davon geprägt. Doch wie kann man in Kairo allein sein, ist man dort doch umgeben von Geräuschen und Energien, die die dünnen Wände des eigenen Schlafzimmers durchdringen? Und wo verlaufen die Grenzen?
Keine menschliche Existenz ohne Umwelt. Das Selbst existiert in der Welt. Absolute Abgeschiedenheit gibt es nicht, wegen der Erinnerungen, der Vorstellungskraft und Visualisierung. Doch es gibt die Einsamkeit, in der das Sein des Menschen eine andere Gestalt annimmt als in Außenräumen oder als Teil eines Kollektivs. Eine Situation, in der ein Körper sich erkennt und das Selbst zum Körper wird, in dem der Körper weder mit anderen konfrontiert ist noch mit sich aufdrängenden äußeren Faktoren kommuniziert. Der Körper hört auf, Mittler der Existenz in einer Gemeinschaft zu sein oder andere Funktionen zu erfüllen. Er befindet sich in einem Zustand bloßen Seins, er und das Selbst bilden eine Einheit. Eine Situation, die Menschen meist in der Isolation erfahren, sei es freiwillig, sei es durch gesellschaftliche oder gesetzliche Verfügung.
In dieser Situation ist der Körper kein Gegenstand der Betrachtung. Eine ganze Welt ist aufgehoben: die des Körpers als Gegenstand, Bild oder Entität innerhalb eines kollektiven Bewusstseins. Die Erscheinung hat keinerlei Bedeutung mehr. Wir sind im Inneren. Das ist exakt die Situation, die Kairo uns vorzuenthalten scheint. Unsere Körper sind dort stets an vorderster Front, unser Sein wird ununterbrochen von außen, von der Umwelt bestimmt. Ich gehe immer wieder spazieren und merke, wie ich mein inneres Sein verliere und zum »gesellschaftlichen Körper« werde, nicht länger ich selbst bin. Ich verliere meine individuelle Weiblichkeit und erhalte – an ihrer statt – ein projiziertes Bild des »weiblichen Körpers«.
Sich mit anderen im gleichen Raum oder sogar im Freien, in der Öffentlichkeit zu bewegen, verändert unsere Einstellungen und sogar unsere Selbstwahrnehmung. Die anderen Menschen überschreiten durch ihre Energie unsere Grenzen. Diese Energie ist der Kern menschlicher Kommunikation und Verbundenheit. Sie ist – für sich allein – in der Lage, das Verhalten eines Individuums zu beeinflussen, selbst wenn sie nicht von Worten oder Körpersprache begleitet wird oder mit der sozialen Stellung innerhalb einer Gruppe einhergeht, mit sexuellen Dynamiken oder psychologischen Mechanismen und Projektionen. Die menschliche Energie wird stets die treibende Kraft sein.
Ich stehe auf der Bühne. Das ist mein Beruf. Ich spiele. Ich kommuniziere und projiziere. Mein Beruf besteht darin, mich zur Betrachtung anzubieten, mich auszudrücken. Mein Körper ist mein Werkzeug. Ich muss anwesend und durchlässig sein. Mein Spiel gilt einem Publikum. Ohne Publikum gibt es kein Spiel. Ich habe den Großteil meines Lebens mit den darstellenden Künsten zugebracht. Ich weiß, wie es sich anfühlt, einfach dazustehen und die Blicke und Aufmerksamkeit der anderen aufzunehmen. Ich kenne die Empfindung, die das auslöst, und ich weiß, wie sie sich auf meine Darbietung auswirkt. Ich weiß auch, wie sich meine Energie verändert entsprechend den Veränderungen im Publikum. Ich spüre es, wenn ein einzelner Zuschauer sich besonders auf mich konzentriert. Und ich weiß auch, wie ich die Zuschauer beeinflussen kann. Ich weiß, wie man Emotionen und Energien vermittelt, wie man eine Person »berührt« und dem Zuschauer »zuflüstert«.
Überfüllte öffentliche Räume bin ich nicht gewohnt, ich bekomme dort geradezu Platzangst. Der einzige öffentliche und überfüllte Raum, in den ich gehöre, ist das Theater. Es ist der Ort, an den ich gehe, um die Frau zu werden, die ich sein will, jenseits gesellschaftlicher und traditioneller Codes. Ich mache mich von ihnen frei und mache mir andere zu eigen: die Codes und Gesetze des Theaters.
Ich trete der Öffentlichkeit, dem Unbekannten, den Anderen nur auf der Bühne entgegen, im Rahmen meines Berufs und innerhalb der Grenzen des Bühnenraums. Dort kann ich mich bewegen und tanzen und schreien und mich verlieben, alles öffentlich. Ich kann ein Leben führen, über das ich draußen nicht verfüge.
Ich führe ein Doppelleben. Wenn ich als ich selbst auf der Straße gehe, bin ich als Frau stets bedroht von der potenziellen Aggression des Anderen. Ich muss meinen