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AUF HÖLLENKURS: Endzeit-Thriller
AUF HÖLLENKURS: Endzeit-Thriller
AUF HÖLLENKURS: Endzeit-Thriller
Ebook560 pages7 hours

AUF HÖLLENKURS: Endzeit-Thriller

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About this ebook

Eine abgelegene tropische Insel mit einem geheimen Raketentestgelände mitten im Pazifik – das ist der Ort, an dem Matt Anderssen arbeitet, als eines Tages der Kontakt zur Außenwelt abbricht. Die letzten Nachrichten, die ihn noch erreichten, sprachen von einem Terrorakt und einer Seuche, welche die Welt an den Rand der Zerstörung bringen könnte. Nun trennen ihn fünftausend Meilen Ozean von seiner Frau und seinen Kindern, und Matt muss zu ihnen zurückkehren, koste es, was es wolle. Zusammen mit zwei Freunden begibt er sich auf eine Odyssee über das Meer, wo nicht nur Stürme und Piraten, sondern auch Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel lauern …
LanguageDeutsch
Release dateFeb 13, 2018
ISBN9783958353169
AUF HÖLLENKURS: Endzeit-Thriller

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    Book preview

    AUF HÖLLENKURS - Tom Wright

    Autor

    Kapitel 1

    02:34 Uhr, Sonntag 27. Mai – Kwajalein, Marshallinseln

    Mondlicht, das grell zwischen dem Rollo und dem Fensterbrett einfiel, schraffierte die durchdringende Finsternis der Nacht und erhellte das Zimmer ein wenig. Ich fühlte mich seltsam beobachtet, so als sei ich nicht allein, und bekam deshalb unwillkürlich eine Gänsehaut.

    Nachdem ich vorsichtig das Bett verlassen hatte, griff ich zum Rollo. Es rutschte mir zuerst aus der Hand, sauste hinauf und knallte gegen die Oberkante des Fensters. Dann rotierte es mehrere Male, und pendelte sich dann erst ein. Ich zuckte zusammen, weil ich mich so preisgegeben hatte.

    Jetzt flutete das Licht regelrecht in den Raum hinein, ich drehte mich um, sah aber nichts. Gerade eben war es noch so heiß gewesen, doch jetzt fror ich plötzlich; mein Atemhauch wurde sogar sichtbar. Ich fing an, zu hyperventilieren, und von der kühlen Luft bekam ich außerdem Zahnschmerzen.

    Ein Klingeln ließ mich plötzlich zusammenschrecken, sodass ich herumfuhr und auf meine Kinder stieß, die in der Ferne seelenruhig mit Glocken läuteten. Ich machte mich auf den Weg zu ihnen, doch je schneller ich wurde, desto weiter zogen sie sich von mir zurück. Vor mir erschien auf einmal ein Telefon. Ich hob den Hörer ab und sprach hinein, doch niemand meldete sich. Es klingelte weiter, während ich den Hörer in der Hand hielt und es anschaute.

    Auf einmal spürte ich, wie ich in die Luft aufstieg, so als würde ich mich aus einem sehr tiefen Abgrund erheben. Das Klingeln wurde jetzt immer lauter und kam mir nun auch näher vor, je höher ich schwebte.

    Als es irgendwann nicht mehr weiterging, öffnete ich die Augen. Ich hatte heftiges Herzklopfen, und die Härchen auf meiner feuchtkalten Haut hatten sich aufgerichtet. Als ich mich zur Seite drehte, um auf den Wecker schauen zu können, blieben die durchgeschwitzten Laken zunächst ein wenig an meinem Körper kleben.

    Das Läuten des Telefons – zwei Mal kurz hintereinander, also handelte es sich dabei um einen Anruf, der nicht von der Insel kam – versetzte mir einen erneuten Schrecken. Während ich mich nach dem Gerät ausstreckte, schaute ich wieder auf die Uhr, deren Display in Blutrot 2:34 Uhr anzeigte. Abermals wurde ich panisch, denn dafür, dass mich Kate mitten in der Nacht weckte, konnte es nur einen Grund geben: Etwas Schreckliches war passiert.

    Ich ging ran und sagte leise: »Hallo?«

    »Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte Kate mit beunruhigter Stimme.

    Mein Körper verkrampfte sich, als ich mich auf das unangenehm kühle, feuchte Spannbetttuch zurückwälzte.

    »Was?«, erwiderte ich verwirrt.

    »Die Nachrichten? Hast du den Fernseher eingeschaltet?«

    »Es ist halb drei morgens. Warum sollte ich zu dieser Zeit fernsehen?«

    In meinem entnervten Übereifer brachte ich die Sachen auf meinem Nachttisch in Unordnung und warf deshalb die Fernbedienung auf den Boden. Nachdem ich die Lampe wieder gerade und den Wecker im richtigen Winkel hingestellt hatte, hob ich das Ding auf. Anschließend schaltete ich den Fernseher ein und wartete, bis sich meine Augen langsam an die Helligkeit gewöhnt hatten.

    Als sie sich auf den Bildschirm eingestellt hatten, erkannte ich, dass ich den »Roller« erwischt hatte, wie wir den Sender nannten, der abwechselnd Bildtafeln mit Informationen über die Ereignisse in der Region um das USAKA einblendete. Die Buchstaben standen für das United States Army Kwajalein Atoll, wo sich das wiederum mit RTS abgekürzte Reagan-Raketentestgelände der Marshallinseln befand. Diese lagen ungefähr auf halbem Weg zwischen Hawaii und Australien. Dort lebten wir seit nunmehr sieben Jahren.

    Ich schaltete schnell auf den anderen Kanal um (wir hatten leider nur zwei), wo ein Baseballspiel wiederholt wurde, das ich mir am Abend zuvor bereits angeschaut hatte. Meine Lieblingsmannschaft hatte gespielt, die Seattle Mariners, doch ich ärgerte mich, weil gerade jetzt, wo offensichtlich etwas Wichtiges auf der Welt im Gange war, keine Nachrichten gezeigt wurden.

    »Ich habe hier leider nur Baseball und den Roller«, erklärte ich ihr.

    Kates Seufzer, der daraufhin folgte, hörte sich an, als sei sie bei mir, obwohl sie mit unseren drei Kindern gerade bei ihren Eltern in Seattle zu Besuch war.

    »Es geht um die Rot-Pest. Sie ist außer Kontrolle geraten.«

    Die Medien schlachteten das Aufkommen der Rot-Pest, wie man dieses bisher unbekannte Virus getauft hatte, schon seit ungefähr einer Woche aus. Es handelte sich dabei um einen hämorrhagischen Erreger – äußerst tödlich und sehr ansteckend. Doch außerhalb von Florida, wo er ausgebrochen war, hatte sich bisher niemand damit infiziert, und der Bundesstaat stand eigentlich unter strenger Quarantäne. Aber natürlich sprach man momentan trotzdem über kein anderes Thema.

    »Du weißt doch, wie die Journalisten sind: Der Tod lässt die Einschaltquoten in die Höhe schießen«, entgegnete ich. »Ist jetzt auch woanders jemand krank geworden?«

    »Viel schlimmer als das – es ist jetzt überall!«

    Als Rechtsanwältin war Kate stets schlagfertig, hart im Nehmen und bei Streitgesprächen eine sichere Bank, neigte aber auch gerne zu Übertreibungen. Ich hingegen kam aus der Wissenschaftsecke und zog deshalb stets Rationalität gegenüber Emotionalität vor.

    »Das Virus kann nicht überall sein«, widersprach ich ihr. »Schließlich hast du es nicht.«

    »Die Zahl der Krankheitsfälle ist über Nacht explosionsartig gestiegen«, erzählte sie nun, »und es hat jetzt sowohl Texas als auch Kalifornien und Asien erreicht, vielleicht sogar Europa. Man vermutet mittlerweile sogar, dass es Terroristen entwickelt hätten, und der Präsident lässt sich deshalb schon zu Drohreden hinreißen. Ich habe die Nachrichten auf Fox gesehen und …«

    »Zieh dir die doch bloß nicht rein«, unterbrach ich sie.

    Sie redete fast ohne Pause weiter: »… und die Inkubationszeit beträgt bis zu einer Woche. Wir könnten also alle bereits krank sein, ohne es zu ahnen.«

    »Ich sagte dir doch, das renkt sich alles wieder ein. Bleib schön bei deiner Mom und verlass das Haus nicht – damit meine ich euch alle. Meidet den Kontakt mit anderen, verhaltet euch einfach ruhig und wartet ab, bis das Ganze vorbei ist.«

    »Man zieht sogar bereits in Erwägung, den Luftverkehr komplett auszusetzen. Ich finde, wir sollten deshalb lieber schnell zurück nach Hause kommen.«

    »In einen Flieger steigen?«, fragte ich. »Dafür, dass sie gerade mit dem Gedanken spielen den Flugverkehr einzustellen, gibt es einen guten Grund. Die Gefahr, sich die Rot-Pest einzuhandeln, ist nirgendwo so groß wie auf Flugreisen.«

    »Was sollen wir denn dann machen?«

    »Wie gesagt, vorerst einfach ruhig bleiben und das Haus nicht verlassen. Das Virus kriecht schließlich nicht durch Wände.«

    »Und was, wenn Chaos ausbricht?«

    Darüber hatten wir uns bereits unterhalten. Kate und die Kids verbrachten den Sommer fast jedes Jahr in den Vereinigten Staaten. Ich bekam üblicherweise ein paar Wochen Urlaub, doch wir fragten uns trotzdem oft, was wir tun sollten, falls wir einmal in einer Krisensituation getrennt werden würden und dann plötzlich fünftausend Meilen zwischen uns lagen.

    Ich beschwichtigte sie: »So schlimm wird es schon nicht werden.«

    »Du hast gut reden. Wir sind immerhin hier, und du bist da draußen, wohlbehalten und außer Gefahr.«

    Das stimmte schon. Bei einer weltweiten Katastrophe welcher Art auch immer, hätte es kaum einen sichereren Ort als Kwajalein geben können. Die Insel lag umgeben von mehreren Tausend Seemeilen vollkommen abgeschottet in einer behaglichen und warmen, tropischen Klimazone. Außerdem waren wir dank großer Fischbestände im Meer und der zahlreichen Nutzpflanzen an Land – es gab hier nämlich nicht nur Kokosnüsse – gänzlich unabhängig, was unsere Versorgung anging, und noch dazu horteten wir vermutlich tonnenweise Lebensmittel in irgendwelchen Lagerhäusern.

    »Sollte es wirklich ganz schlimm werden, dann komme ich rüber zu euch«, versprach ich ihr. »Es ist nämlich weitaus besser, wenn ich allein ein Flugzeug nehme, anstatt dass ihr vier es tut.«

    »Falls du es tun kannst«, antwortete sie pessimistisch.

    Ich redete ihr weiter gut zu: »Hör mal, kommt es tatsächlich hart auf hart, bin ich bei euch, versprochen.« Insgeheim war ich aber fest davon überzeugt, dass es niemals soweit ausarten würde.

    Sie erwiderte nichts, weil sie anscheinend gerade gebannt eine News-Sendung verfolgte.

    »Ich muss mich jetzt fertigmachen«, fügte ich hinzu. »Mein Dienst fängt heute sehr früh an.«

    »Ach ja, richtig.« Sie wusste, dass ich an jenem Tag einen Bootstrip mit Freunden geplant hatte.

    Während ich ein paar Sekunden verstreichen ließ, hörte ich sie am anderen Ende der Leitung atmen. In Hinblick auf ihre unbeschreibliche Schönheit und Intelligenz fragte ich mich regelmäßig, welches Karma mir wohl dazu verholfen hatte, eine Frau heiraten zu dürfen, die gleich mehrere Nummern zu groß für mich war.

    »Also gut«, sagte sie schließlich. »Dann lass ich dich jetzt mal machen. »Ich liebe …«

    Die Verbindung brach unvermittelt ab.

    Dies waren die letzten Worte, die sie je zu mir sagte.

    Kapitel 2

    09:19 Uhr – Kwajalein, Marshallinseln

    Als wir mit unserem Boston Whaler an einem Segelboot vorbeirauschten, sah ich einen bedauernswerten Jungen zur Backbordseite stürzen und sich ins Meer übergeben. Nachdem er sich erbrochen hatte, fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund und sackte dann auf dem Deck zusammen. Den linken Arm ließ er über die Bordwand hängen, sodass seine Finger das klare Wasser streiften, als das Boot schaukelte.

    Mir fiel plötzlich die Rot-Pest ein – Gedanken aus einem Winkel meines Oberstübchens, über den ich keine Kontrolle hatte, doch ich verdrängte sie sofort. Der Kleine war einfach nur seekrank. Seine Eltern gingen zu ihm hinüber, um ihn zu trösten und ihm etwas hinzuhalten, bestimmt Tabletten gegen Reiseübelkeit. Aber dafür war es längst zu spät.

    Ich konnte mich nicht in ihn hineinversetzen, da ich nur zwei Mal in meinem ganzen Leben seekrank gewesen war, wenn auch jeweils ebenfalls auf einem Segelschiff. Selbst schwacher Wind entwickelt eine große Kraft, wenn er auf die gesamte Angriffsfläche von Tuch und Rumpf trifft, weshalb man bei entgegengesetzter Strömung glaubt, gleichzeitig in alle Richtungen zu schlingern. Das hatte mir bereits genügt – und diesem Jungen anscheinend auch. Kein Zweifel, er würde für den Rest des Segeltörns an genau diesem Platz kauern.

    Ich heiße übrigens Matthew Anderssen, und zwar wegen des Apostels Matthäus, worauf ich mir aber niemals etwas eingebildet habe. Da ich auf keinen anderen Rufnamen höre außer auf Matt, nennen mich alle so. Ich war leitender Meteorologe des RTS und jetzt auf Kwajalein stationiert – Kwaj, wie man die größte Formation des gleichnamigen Korallenrings gerne abkürzte.

    Nachdem meine Freunde und ich das Segelboot auf Steuerbord hinter uns gelassen hatten, nahmen wir Kurs auf Bigej – »Bidschi« ausgesprochen –, eine andere Insel des Atolls. Wir wollten ein paar Stunden in der dortigen Lagune ausspannen, weil an dieser Stelle das warme Wasser ideal zum Baden war, anschließend schnorcheln und ein paar kalte Coronas trinken. Auf dem Rückweg nach Kwaj entlang des Ostriffs hatten wir außerdem vor, ein paar Fische zu fangen. Den Sonntag – für uns der Anfang vom Wochenende – so zu verbringen, war einfach wunderbar. Auf hundertsiebenundsechzig Grad östlicher Länge – dreizehn Grad westlich der internationalen Datumsgrenze – hatten wir der USA fast einen ganzen Tag voraus, also verabschiedeten wir uns immer zeitversetzt ins Wochenende, um uns den Werktagen auf dem Festland anzugleichen.

    Mein Kumpel Jeff Riggins steuerte das Boot. Da er der Hauptsicherheitsbeauftragter unserer Gruppe und absolut technikbegeistert war, haftete ihm stets etwas Spleeniges an, doch dem Klischee des Computerfreaks entsprach er dennoch nicht, denn ob Außenborder oder Motherboard – er kam mit beidem fantastisch zurecht. Als ausgebildeter Segler, der obendrein auch noch zu den Wenigen auf Kwaj gehörte, die ein eigenes Boot besaßen, war er ruppig und sah auch so aus. Jeff zählte zu jenem Schlag Mensch, der einen sowieso schon entspannten Bootstrip am Wochenende allein durch sein Fachwissen und seine Verlässlichkeit zu einem regelrechten Erholungsausflug für die übrigen Teilnehmer machen konnte. Komme, was wolle: Er wusste immer genau, was zu tun war und auch wie.

    Ich beobachtete Jeff jetzt am Ruder, weil ich mir ein paar seiner Kniffe abschauen wollte.

    Die schulterlangen, blonden Haare unter seiner Milwaukee-Brewers-Baseballmütze flatterten im Wind, und die Sonnenbrille trug er, als wenn er Lesen wollte auf der Nasenspitze. Sein schlabbriges T-Shirt spannte sich vor der Brust, während sich der Stoff am Rücken aufblähte und wie eine ausschlagende Flagge schnalzte. Er war ein klein wenig größer als ich und hatte einen sehr dunklen Teint, der von den vielen Stunden auf hoher See zeugte. Ich schaute ihm dabei zu, wie er sich nach vorne lehnte, wenn wir über eine Welle fuhren und wieder aufrichtete, sobald wir in ihr Tal sackten; so blieb sein Oberkörper während der ganzen Fahrt senkrecht.

    Unerwartet riss Jeff plötzlich das Steuerrad nach backbord herum und gleich darauf wieder in die Gegenrichtung. Ich schaute erschrocken nach steuerbord und sah gerade noch eine Meeresschildkröte, die gemütlich auf der Stelle schwamm, während wir nur wenige Fuß rechts neben ihr vorbeirasten. Das Tier planschte jetzt hektisch im Wasser, weil es von unserer Heckwelle überrascht worden war, hielt dann aber inne und reckte seinen Hals, um uns hinterherschauen zu können. Dabei schien es sich allmählich wieder zu beruhigen und trieb weiter vor sich hin.

    Ungefähr eine Viertelstunde später fuhren wir in den Bigej-Kanal ein, der die Kwajalein Lagoon – die größte Lagune der Welt – mit dem mächtigen Pazifik verband. In den Tropen ließen sich die Jahreszeiten praktisch nicht unterscheiden. Es gab keinen Temperaturanstieg oder -sturz, und Luftfeuchtigkeit und Windstärke schwankten auch immer nur geringfügig. Auf Kwaj war der Sand so weiß und pulverig wie Babypuder, während das Wasser der Korallen wegen so herrlich blaugrün schimmerte, dass ein nicht unbedingt vollkommener Mensch durchaus Schuldgefühle bekommen konnte, nur weil er einen Blick darauf geworfen hatte.

    Weil der Wind an jenem Tag nur schwach wehte, musste die ungewohnt bewegte See von einem Unwetter in der Ferne herrühren. Das Manövrieren fiel dank des langen Wellengangs aber leicht, sodass wir, auch weil der Wind nicht wechselhaft war, den Kanal so mühelos passieren konnten, als würden wir mit einer Bummelbahn fahren – was meinen Kids bestimmt gut gefallen hätte.

    Wir mochten Bigej von allen Inseln des Atolls am liebsten. Von Kwaj aus dauerte die Fahrt dorthin nur eine Dreiviertelstunde, und trotzdem lag sie so weit entfernt wie keine andere. Im Gegensatz zum vergleichsweise urbanen Flair auf Kwajalein, wo sich das weltgrößte Raketentestgelände befand, stand auf Bigej kein einziges Gebäude. Kaum etwas deutete darauf hin, dass irgendein Mensch je einen Fuß an Land gesetzt hatte. Nichts als Wald, lange Sandstrände und eine unberührte, türkisblaue Lagune.

    Als wir uns der Stelle näherten, wo wir am liebsten schnorchelten, waren wir schon im Begriff, uns nach allen Regeln der Kunst zu entspannen, treiben und volllaufen zu lassen. Wir legten uns beim Trinken nämlich genauso fleißig ins Zeug wie auf der Arbeit, und weil wir gut verdienten, ließen wir uns Ersteres auch gern etwas kosten.

    Was von Osten her am Himmel aufzog, beunruhigte mich allerdings ein wenig. Denn laut Vorhersage hatte es größtenteils sonnig bleiben sollen, doch nicht allzu weit entfernt machte ich Cumulonimben am Himmel aus, die für Unwetter typischen Amboss-Wolken. Dort, wo sie sich zusammenbrauten, konnte man mit Gewittern rechnen, und wenn man auf dem Wasser eines fürchten musste, dann Blitze. Auf dem flachen Ozean ragt selbst ein kleiner Mensch so hoch auf wie nichts anderes im weiten Umkreis, und Blitze schlagen bekanntlich stets an den höchsten Punkten ein. Andererseits plagten uns wie immer pausenlos die Mücken, also konnte ein kurzer Wolkenbruch vielleicht gar nicht schaden, denn solange er andauerte, brauchten wir nicht fortwährend um uns zu schlagen.

    Zu unserer Gruppe gehörten auch mein Freund Bill Callaway, der als Bezirkssheriff arbeitete, ein Bekannter von Jeff namens Ed und Sonny Sanders, mit dem wir beide ganz dicke waren.

    ***

    Keiner von uns hatte mehr als zwei Bier getrunken, als unsere Stimmung allmählich umschlug. Denn die bedrohliche Wolkenbank am Himmel im Osten näherte sich immer mehr.

    Wir kletterten deshalb wieder an Bord, wo sich Jeff per Funk mit der Hafenleitung in Verbindung setzte, um sich über das Wetter zu erkundigen. Dort hieß es, man versuche schon seit fünfzehn Minuten, uns zu kontaktieren und uns mitzuteilen, dass eine Warnung für kleine Wasserfahrzeuge herausgegeben worden sei. Er fragte den Mann daraufhin, was wir denn zu unserer Sicherheit jetzt am besten machen sollten … hier vor Ort einen Unterschlupf suchen oder uns noch schnell auf den Rückweg machen. Die Leute von der Behörde rieten uns zu Letzterem. Die Strecke ließ sich ja in fünfundvierzig Minuten bewältigen, und ihrer Aussage zufolge dauerte es garantiert noch eineinhalb Stunden, bis der Sturm richtig losbrach.

    Ich setzte mich neben Sonny und aß Pistazien, während er Corona trank, eines der beliebtesten Biere auf dem Atoll. Ich knackte eine Frucht, warf die Schalen über Bord und steckte sie mir in den Mund.

    »Weißt du«, begann ich mit einer hochgezogenen Augenbraue, die Sonny, wie ich wusste, richtig interpretieren würde. »Irgendwann im Leben ist man so weit, dass man keine Lust mehr darauf hat, sich mit Pistazien abzumühen, die sich nicht knacken lassen. Ich meine, ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich mir am College fast die Zähne an diesen hartnäckigen Miststücken ausgebissen habe – und selbst diejenigen, die du gerade so eben aufkriegst … Ohne Scheiß, an den Dingern schneidest du dich dann oder brichst dir 'nen Fingernagel ab, wenn du nicht aufpasst.«

    Sonny erweckte den Eindruck, gründlich über meine Worte nachzudenken, und schien sie eine Weile sacken zu lassen, bevor er endlich todernst antwortete: »Pistazien sind eine sehr gefährliche Steinfrucht.«

    Ich nickte zustimmend. »Jepp, ich werde deshalb fortan nur noch die essen, die sich leicht öffnen lassen, doch falls sie sich auch nur im Geringsten dagegen sträuben …« Ich hielt beispielhaft eine praktisch rundherum verschlossene Hülse hoch und schnippte sie ins Wasser. »… weg damit!«

    »Ihr zwei könntet glatt bei Seinfeld mitspielen«, sagte Jeff grinsend.

    Er kannte den nahezu konstant sarkastischen Unterton meiner Gespräche mit Sonny schon zur Genüge, doch Nichteingeweihte könnten uns schlichtweg für bescheuert halten.

    Sonny war ein Kwaj-Kid, das hieß, er war auf der Insel groß geworden, und hatte die Kwajalein Senior Highschool besucht. Studiert hatte er hingegen wie sein Dad an der Technischen Universität in Georgia. Gleich nach seinem Abschluss war er aber an eine Stelle auf Kwaj geraten und sofort wieder zurückgezogen. Mir gegenüber rechtfertigte er das häufig mit den Worten: »Hey, ich habe mein Soll in den Staaten geleistet. Es war einfach nichts für mich.«

    Seine Eltern waren zwar Angloamerikaner, doch das sah man ihm kein bisschen an. Da er fast sein ganzes bisheriges Leben auf Kwaj verbracht hatte, war seine Haut dunkel und ledrig und er trug kein Gramm Fett zu viel an seinem schmächtigen Leib, obwohl er mindestens einen Sechserpack Bier am Tag zischte. Er hatte volles Haar, das am Ansatz pechschwarz war, aber zu den Spitzen hin von der Sonne ausgebleicht hellorange war. Und natürlich deckte sich sein Sinn für Humor mehr oder weniger mit meinem.

    Bevor er der Aufforderung der Hafenbehörde nachkam, zur Insel zurückzufahren, wandte sich Jeff mir zu. Weil ich der leitende Meteorologe auf dem Atoll war, erwartete man irgendwie immer von mir, stets in allen Fragen über das Wetter Bescheid zu wissen.

    »Nenn mir doch noch einmal die Kriterien für ein Fahrverbot von Kleinschiffen.«

    »Andauernde Windgeschwindigkeit von zwanzig Knoten oder Böen bis zu dreißig«, antwortete ich, während ich eine Fliege vor meinem Gesicht wegschlug. »Das dürfte aber unsere kleinste Sorge sein, so wie es aussieht.« Ich drehte mich um und zeigte auf die nunmehr gewaltigen Wolken. Sogenannte Mammaten – Ausformungen, deren Bezeichnung sich von »mammatus« ableitete, dem lateinischen Wort für »Brust« – hingen wie Beutel an der Unterseite der Ambosse, was nichts Gutes verhieß.

    »Wie lange werden wir ungefähr brauchen, was meinst du?«, fragte Jeff, womit er andeutete, dass er sich doch lieber auf meine Einschätzung verließ als auf jene der Zuständigen im Hafen.

    »Na ja, der Wind wird schon deutlich früher auffrischen, bevor es richtig stürmt, und oft ist es so, dass sich konvektive Wolken schneller vorwärtsbewegen als das gesamte Gebilde.«

    »Und was bedeutet das für unsere voraussichtliche Ankunftszeit, Einstein?«, hakte Jeff nach.

    Die anderen Jungs lachten daraufhin.

    »Wenn das Radar neunzig Minuten angab und sie eine Viertelstunde versucht haben, uns zu erreichen, würde ich sagen, dass es bereits in fünfundvierzig bis sechzig Minuten ungemütlich werden wird.«

    Jeff drückte die Sprechtaste am Funkgerät und sagte: »Hafenkontrolle, hier Kilo-six-five.«

    »Kilo-six-five, hier Hafenkontrolle, fahren Sie fort.«

    »Es ist zu gefährlich, und wir halten Ihr Zeitfenster außerdem für falsch. Deshalb werden wir in der Nähe Schutz suchen, over.«

    »Wie Sie wollen, Kilo-six-five. Wir raten Ihnen aber zur sofortigen Rückkehr, sobald das Unwetter vorbei ist. Over.«

    »Roger, wird gemacht. Kilo-six-five, Ende.«

    Mit diesen Worten hängte Jeff das Sprechteil wieder auf das Funkgerät.

    Die Hafenbehörde hatte nichts eingewendet. Die lokalen Schiffverkehrsbestimmungen gewährten dem Kapitän stets volle Verfügungsgewalt. Er stand in keinerlei Pflicht, irgendwelchen Befehlen zu gehorchen, die er als gefährlich für sein Boot oder seine Besatzung erachtete. Die Männer an Land wussten außerdem, dass wir uns zurzeit an einer Stelle aufhielten, wo wir relativ gut vor dem Sturm geschützt waren – nämlich auf der Seite der Lagune, also im Windschatten von Bigej, und viel besser war man während eines Unwetters woanders auch kaum aufgehoben. Aus diesem Grund steuerte man diesen Bereich auch besonders gern zum Tauchen und Schnorcheln an, denn dort herrschte weitgehend Flaute, sodass an ihren Ankerplätzen unbeaufsichtigte Kähne nicht einfach wegtrieben und dank des schwachen Wellenganges auch keine Sedimente aufgeschwemmt wurden, welche die Sicht unter Wasser erschwert hätten.

    Wir lichteten deshalb unseren Anker, näherten uns dem Ufer ein Stück und bereiteten uns dann darauf vor, den Sturm in Ruhe auszusitzen. Dass er gänzlich an uns vorbeizog, war allerdings auch durchaus möglich. Vertikal emporsteigende Warmluft ist dermaßen leicht von willkürlichen Umweltvorgängen beeinflussbar, dass sich Wolken fast ununterbrochen verdichten, auflösen und neu bilden, ihre Flugrichtung aber nie lange beibehalten. Was sich allerdings gerade anbahnte, sah wirklich schlimm aus.

    Ich begann langsam, mir Sorgen um Kate und die Kinder zu machen. Wir hatten unsere zwei Töchter, schon sehr früh in unserer Ehe bekommen. Elaine war zuerst geboren worden, Kelly so schnell wie menschenmöglich hinterher. Darum lagen die beiden kein ganzes Jahr auseinander, und da sie sich unglaublich ähnelten, hielten die meisten Fremden sie irrtümlicherweise für Zwillinge. Auch wenn das nicht stimmte, verhielten sie sich gerne so.

    Danach war zunächst nichts mehr gelaufen. Wir hatten zwei Jahre lang versucht, den Sohn zu zeugen, den ich gern haben wollte, und hatten uns zusehends Gedanken über Unfruchtbarkeit gemacht, obwohl ich unsere Bemühungen natürlich durchaus genoss. Gerade als wir in Erwägung zogen, einen Arzt aufzusuchen, wurde Kate mit Charlie schwanger.

    Es heißt ja, ein Neugeborenes würde normalerweise stets seinem Vater ähneln, weil die Natur auf diese Weise zeigen wollte, dass das Kind von ihm stammt, damit er bei Frau und Kind bleibt, das finde ich allerdings mehr als nur lächerlich. Nichtsdestotrotz sah Charlie schon bei seiner Geburt aus wie ich und tut es noch immer.

    Ich erkannte noch viele andere Gemeinsamkeiten zwischen uns. So hörte ich später beispielsweise von keinem anderen Zehnjährigen, dass er sich für die Nachrichten interessierte. Deshalb musste ich auch immer aufpassen, wenn ich den Fernseher in seiner Anwesenheit laufen ließ, denn er bekam beinahe alles mit. Aufgrund seines neugierigen Wesens wusste er deshalb auch mit ziemlicher Gewissheit von der Pest, und ich war mir sicher, dass er sich fürchtete.

    »Was haltet ihr denn von dieser Rot-Pest?«, fragte ich interessiert in die Runde.

    »Ich finde den Rummel darum vollkommen überzogen«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Bill, als habe dieser meine Gedanken gelesen.

    Die Jungs nickten einhellig, alle … außer Jeff.

    Je dunkler es am Himmel wurde, desto weniger sprachen sie, und Jeff, der sich am Ruder befand, wirkte nervös. Selbst Sonny, der ansonsten immer cool blieb, starrte besorgt die Wolken an. Niemand von uns sah ein solches Naturschauspiel zum ersten Mal, allerdings saßen wir jetzt in einem Boot und konnten uns nirgendwo unterstellen.

    Draußen mitten auf dem Ozean konnte man mit einer Uhr genau abstoppen, wie viel Zeit vom einsetzenden Wind bis zum extremen Wolkenbruch verging, nämlich im Schnitt fünf Minuten.

    Die Sturmfront traf uns wie eine Wand. Wir lagen weniger als fünfzig Yards vor dem Strand und bemerkten den Zug erstmals am Rauschen der Wipfel der Bäume an Land. Palmwedel verbogen sich, knickten um und flatterten wie die Flügel erlahmter Vögel, als der Wind immer mehr zunahm. Ganze Kronen, die bei den Palmen im Allgemeinen an Pilzhüte erinnerten, wurden umgestülpt wie minderwertige Regenschirme. Pflanzenteile lösten sich und flogen in unsere Richtung. Im Schutz unserer kleinen Bucht bekamen wir zwar immer noch nicht die volle Wucht ab, doch dass aus fast vollkommener Windstille kräftige und schließlich sturmartige Böen entstanden waren, stand unleugbar fest.

    Den Regen hörten wir bereits, ehe er auf uns niederging – ein fernes, leises Rauschen von Reibungselektrizität, während die ersten Tropfen das Laubdach des Waldes durchdrangen, das dann aber schnell zu einem tosenden Lärm anschwoll, als sich Millionen Hektoliter Wasser auf die Insel ergossen.

    Schließlich fegte das Gewitter auch über uns hinweg.

    An Bord liefen wir zwar weniger Gefahr als im Wasser, vom Blitz getroffen zu werden, doch ungeachtet dieses Schutzes vor dem Strom-Tod konnten wir uns dem Schlagregen trotzdem nicht entziehen. Innerhalb von nur wenigen Sekunden waren wir nass bis auf die Knochen, und unsere Bierflaschen füllten sich zusehends mit Wasser, als seien es Miniaturpegelmesser. Tropfen mit dem Durchmesser kleiner Münzen prasselten auf das Meer, ein einziges Gekräusel infolge aufgehobener Oberflächenspannung, das die ganze Lagune aussehen ließ wie den Mantel eines Golfballes.

    Dann zuckte auf einmal der erste Blitz – im Grunde nur unbestimmt gleißendes Licht ohne erkennbaren Ursprung. Er erhellte die gesamte Umgebung, doch da die Sichtweite momentan allerhöchstens ein paar Meter betrug, schien er von allen Seiten auf einmal über uns hereinzubrechen. Ich wollte die Sekunden zählen, kam aber nicht einmal bis zwei, bevor uns der Donner in gleicher Weise durch Mark und Bein ging, wie er das Boot zum Erzittern brachte. Wir spürten die Erschütterung sogar in unseren Eingeweiden, und entweder ließ die elektrisch aufgeladene Luft unsere Haut wirklich kribbeln, oder wir bildeten es uns lediglich ein.

    »Oh Gott!«, rief Bill. »Es ist direkt über uns!«

    Als gebürtiger Inuit war er im Polarkreis aufgewachsen und dann Marine geworden, bis es ihn schließlich nach ärztlicher Entlassung auf Kwaj verschlagen hatte. Die Fitness eines Soldaten hatte er sich aber bis heute bewahrt. Mit 1,92 cm Körpergröße und zweihundertvierzig Pfund war er ein regelrechter Muskelberg. Wegen seiner schulterlangen, schwarzen Haare und einem Schnurrbart, wirkte er auf andere stets bedrohlich, von seinem dunkelhäutigen Gesicht mit dem permanent mürrischen Ausdruck ganz zu schweigen. Eine Schwäche hatte Bill allerdings: Er fürchtete sich vor Blitzen. Denn in seiner Kindheit war er niemals in ein Gewitter geraten, und nachdem er herausgefunden hatte, dass ich Meteorologe bin, hatte er mir eines Tages gestanden, dass sie ihm schreckliche Angst einjagten.

    »Ein paar Hundert Meter«, antwortete ich nach schnellem Kopfrechnen wegen der Differenz von Licht- und Schallgeschwindigkeit.

    »Vielleicht sollten wir doch zurückfahren«, legte uns Bill nahe.

    Jeff ging nicht darauf ein, sondern konzentrierte sich stattdessen auf das Steuer.

    »Beruhige dich, Bill«, sagte ich. »Die Wahrscheinlichkeit, dass wir getroffen werden, ist äußerst gering.«

    »Gering ist aber immer noch viel höher als Null«, seufzte er. Dann tastete er fahrig seine Taschen ab wie ein Raucher, der seine Zigaretten sucht.

    »Außerdem habe ich keine Zahnstocher mehr dabei«, fügte er hinzu. Ohne einen im Mund sah man ihn so gut wie nie.

    Der Regenguss zog jetzt den Wind nach unten, sodass er über die Wipfel brauste und uns bedrängte. Das Boot schaukelte und schwankte so heftig, als wolle der Anker aus dem Meeresboden reißen. Es flackerte erneut, doch dieses Mal sahen wir den Blitz nicht weit nördlich von uns. Ich zählte bis zwei, dann folgte der Donner. Die Sonnenbrille von jemanden rutschte über das Deck.

    Ich beobachtete das Unwetter eine Zeit lang, doch als ich kurz nach unten schaute, bemerkte ich, dass Sonny mit dem Rücken am Seitendeck auf dem Boden saß. Er ließ die Arme über seine Knie hängen, hielt lässig eine halbleere Bierflasche in der rechten Hand und sah so zufrieden aus, wie man nur sein konnte.

    Wasser strömte ihm am Gesicht hinunter, tropfte vom Kinn und von seiner Nase. Er trank noch einen Schluck und blickte zu mir hoch. Um nicht zu prusten, schürzte er die Lippen, ließ sich aber zu einem vergnügten Lächeln hinreißen und wies mit einem Nicken nach oben, als wenn er auszudrücken wollte, dass er bis zu einem gewissen Grad seine Freude, aber auch Bedenken hatte, was eine etwaige Gefahr anging. Das Wasser lief ihm in die Augen, also beugte er den Kopf wieder nach vorne und starrte seine Flasche an, furchtlos und scheinbar gänzlich unbeeindruckt von der Situation.

    Plötzlich knackte der Lautsprecher des Funkgeräts. »Kilo-six … uns hören?« Störgeräusche unterbrachen die Verbindung immer wieder.

    »Kilo-six-five hier, bitte wiederholen«, bat Jeff, der sofort zum Sprechteil gegriffen hatte.

    Vorübergehend verstand man den Funker: »Kilo-six-five. Bitte beachten Sie, dass der Wind um fünfundzwanzig Stundenkilometer … und … dass … vierzig bis fünfzig Knoten …« Dann ertönte wieder nur Knistern.

    »Hafenkontrolle, bitte den Schluss wiederholen. Vierzig bis fünfzig Knoten was?«

    »Wiederhole … Knoten … Stundenkilometer. Ist … Anderssen …?«

    Der Zusammenhang fehlte uns aufgrund der Aussetzer komplett. Jeff schaute mich an und zog die Schultern hoch, ich ebenfalls.

    »Ja, er ist hier. Bitte wiederholen Sie den Schluss.«

    »… gebraucht … Station.«

    »Ich würde vermuten, die wollen dich auf der Wetterstation haben«, schlussfolgerte Jeff.

    Da wir praktisch alle für die Regierung arbeiteten, konnte man uns relativ leicht aufspüren, wenn wir gebraucht wurden. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wozu ich gerade jetzt gebraucht wurde. Es war Mai, und ein ruhiger, trockener Frühling ging zu Ende. Vielleicht hatte sich einer meiner Angestellten verletzt oder krankgemeldet?

    Wieder hörten wir nur Rauschen, nachdem Jeff noch mehrere Male um Klarstellung gebeten hatte. Jetzt blitzte und donnerte es fast simultan, Letzteres lauter als der strömende Regen.

    »Okay, das reicht, wir brechen auf!«, rief Jeff kaum hörbar im Getöse des Unwetters.

    »Aber hier sind wir wenigstens geschützt«, entgegnete Ed nervös. »Draußen im Kanal wird es zehn Mal so schlimm sein.«

    »Ich weiß, aber das mit den vierzig bis fünfzig Knoten ist mir nicht geheuer. Außerdem will ich nicht hierbleiben und darauf warten, dass wir irgendwann vom Blitz getroffen werden. Noch 'ne Stunde, dann ist es dunkel, und bei Nacht dürfte es noch ätzender, als bei Tageslicht sein, durch diesen Scheiß zu segeln, verlass dich drauf.«

    Ich für meinen Teil tat dies durchaus, denn er fuhr schließlich schon jahrzehntelang zur See. Falls es einen Mann gab, der wusste, was man unter diesen Umständen am besten tat, dann er. Ed war jedoch nicht so überzeugt von ihm wie ich und suchte deshalb jetzt Sonnys Blick, wohl weil er dachte, dass dieser und Jeff gelegentlich wegen bestimmter Methoden an Bord aneinandergerieten.

    Sonny reagierte allerdings nicht, sondern genehmigte sich nur einen weiteren Schluck Bier.

    »Ich wollte nur sagen, dass wir meines Erachtens hier sicherer sind, mehr nicht«, fügte Ed hinzu.

    »Ich lasse es lieber auf den Wellengang als auf die Blitze ankommen«, hielt Bill dagegen, als wenn er ihn überstimmen wollte.

    »Wir verschwinden«, entschied Jeff schließlich. »Anker lichten.«

    Ich konnte die Wasseroberfläche kaum erkennen, während ich mich ins Zeug legte, das Boot auf den Anker zu zuziehen. Ed saß hinter mir und übernahm das Aufschießen der Leine. Jeff jagte den Motor hoch, um vorwärtszufahren, und ließ uns über dem Anker ausgleiten, wobei sich dieser nur aus dem Grund löste, weil ich das Boot jetzt nicht mehr gegen den Wind beziehungsweise die Strömung ziehen musste. Danach war es ein Leichtes, das Eigengewicht des Metalls einzuholen und über den Bug an Deck zu hieven.

    Es blitzte weiterhin, während der Wind den Regen mit ungefähr dreißig Knoten herumwirbelte und uns klitschnass machte. Unser einziger Lichtblick bestand darin, dass es dem Sturm zum Trotz immer noch relativ warm war. Die Temperatur fiel selbst bei Starkregen nur selten unter dreiundzwanzig Grad.

    Nachdem ich etwa fünfzig Fuß Nylonleine eingezogen hatte, folgte die Kette mit dem Anker. Ich konnte mein Gleichgewicht bei dem Gewackel kaum halten, schaffte es aber irgendwie, das ganze Ding einzuholen und in den Stauraum fallenzulassen, dessen Luke Ed dann hastig schloss. Als ich mich hinsetzte, fiel er auf mich.

    »Mensch!«, fuhr ich ihn an.

    Er lachte nur.

    »Wie lange wird das ungefähr dauern, was meinst du?«, fragte er beunruhigt, während er sich nur mit Mühe von meinem Schoß aufraffen konnte.

    Das konnte ich ihm leider auch nicht beantworten.

    Während sich das Boot jetzt langsam vorwärtsbewegte, spürten wir wohl alle, dass sich der Kanal näherte, denn der Wellengang wurde nun immer stärker. Der Moment, in dem wir den Schutz der Insel hinter uns ließen, war einschneidend: Im Wind neigte sich das Boot ruckartig nach Steuerbord, weshalb wir befürchten mussten, dass wir kentern würden. Gemeinsam lehnten wir uns in die Gegenrichtung. Der Stoff des Bimini-Verdecks flatterte in den Böen, die Jeff die Baseballmütze vom Kopf rissen und fortwehten.

    Er schlug das Steuerrad hart nach Backbord ein, um den Bug in den Wind zu richten, und gab dann dem Motor Zunder. Anschließend entstand die größte Welle, die wir jemals im Leben gesehen hatten, und rollte genau auf uns zu. Von Tal bis Kamm war sie mindestens zehn Fuß hoch. Unser Bug schoss in die Höhe, und gleich darauf das gesamte Boot. Wir sausten über die Welle, wobei eine Menge Wasser über das Deck strömte. Da das Boot dank seiner Konstruktion auch für Fahrten bei ungünstiger Witterung taugte, flossen die Massen zwar einigermaßen ab, doch die gewaltige Menge an Regen und Meerwasser in seinem Kielraum machten es natürlich deutlich langsamer.

    Jeff, dem die heikle Situation und die Gewichtsverlagerung nicht entgangen waren, nutzte eine kurze Flaute inmitten der Wellen und gab erneut Gas. Daraufhin ging es mühsam voran, ehe wir wieder Fahrt aufnahmen, als wir immer mehr Wasser durch die Abläufe am Achterdeck loswurden. Bill stand jetzt neben Jeff und verlor die Balance, als das Boot einen unerwarteten Satz nach vorne machte. Er schien sich zuerst wieder zu fangen, rutschte dann aber von dem glitschigen Handlauf ab, wo er sich festhielt, und fiel schreiend über Bord in die schäumende See des Kanals. Dabei schlug sein Kopf mit einem dumpfen Knall gegen die Seitenwand.

    Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was wir jetzt tun sollten, huschte etwas Oranges an mir vorbei. Sonny hatte sich einen Rettungsring geschnappt und war auch schon ins Wasser gesprungen. Während er zu Bill schwamm, stellte ich mir vor, dass ein Großteil der Gesellschaft bestimmt einen Actionhelden in ihm sehen würde.

    Ebenfalls ohne zu zögern, drehte Jeff unser Heck von den beiden über Bord gegangenen Männern ab, damit sie nicht in den Propeller gerieten. Kurz stand das Boot quer zur Wind- und Meeresströmung, sodass es sich erneut mit einem Ruck nach Steuerbord neigte. Wir alle machten uns innerlich schon auf das Kentern gefasst, doch dazu sollte es zum Glück nicht kommen. Stattdessen vollzog Jeff eine ganze Drehung und brachte das Boot in einem Zug auf Kurs mit dem Wind, gleich hinter Billy und Sonny. Die zwei gingen mittlerweile wie Korken im Wasser auf und nieder, während sie sich gegenseitig umklammerten und an dem Ring festhielten. Bill hatte sein Bewusstsein also nicht verloren, war aber benommen, und Sonny grinste optimistisch wie immer.

    Ohne Bill loszulassen, legte er die letzten paar Fuß bis zum Boot zurück. Dann ergriff ich Bills Arm und wollte ihn gerade hochziehen, doch sein wuchtiger Leib bewegte sich kaum. Ed packte daraufhin mit an, während sich Jeff als Gegengewicht auf die andere Seite stellte. So zerrten wir mit aller Gewalt, und Sonny drückte gleichzeitig von unten. Als wir Bills Oberkörper endlich über die Bordwand gezogen hatten, rutschten die Beine langsam hinterher, und er plumpste auf den Boden wie ein nasses Segel.

    Er starrte nur entsetzt in den Himmel. Ein Tropfen Blut trat aus einer leichten Schnittwunde an seiner Stirn und vermischte sich mit dem Wasser, das an seinem Kopf hinunterlief.

    »Hab doch noch einen gefunden«, rief Ed und steckte Bill einen Zahnstocher in den Mund. Der Liegende schloss die Augen und atmete erleichtert auf.

    Der Sturm hatte jetzt ein wenig nachgelassen, sodass wir den Rest der Fahrt durch den Kanal ohne allzu große Anstrengungen zurücklegen konnten. Sobald wir den Inseln auf der anderen Seite näher kamen, brausten wir in ihrem Schutz über die aufgewühlte See in Richtung Heimat. Die bedrohliche Wolkenbank blieb uns dabei die ganze Zeit dicht auf den Fersen.

    Kapitel 3

    17:30 Uhr – Kwajalein

    Als wir im Hafenbecken einfuhren, schien es Bill wieder gut zu gehen. Ich überließ es Sonny, Jeff und Ed, ihn ins Krankenhaus zu bringen und ihn dort untersuchen zu lassen – auch falls sie ihn dazu zwingen mussten –, und radelte durch den heftigen Regen zur Wetterstation.

    Auf Kwaj war es stets warm, also störte mich das Verbot von Kraftfahrzeugen auf der Insel normalerweise nicht. Bei solchem Wetter wie gerade ärgerte man sich allerdings über diese Verordnung. Die Telefonleitungen am Hafen waren alle tot – was wahrscheinlich der salzigen Luft geschuldet war, wie so vieles hier – doch ich rechnete fest damit, heute eine Nachtschicht wegen eines ausgefallenen Mitarbeiters schieben zu müssen. Wozu sie mich an einem Sonntag sonst brauchen könnten, konnte ich mir nicht vorstellen.

    Ich platzte durch die Eingangstür hinein und blieb kurz stehen, um etwas von dem Regenwasser von meinen Kleidern zu streichen. Dabei hörte ich schon Chris, einen anderen Meteorologen, aufgeregt am Telefon und wusste sofort, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

    »Das lässt sich momentan nur schwer abschätzen, Sir.«

    Er streckte seinen Kopf durch die Tür des Büros, in dem die Vorhersagen getroffen wurden. So, als wolle er um Hilfe rufen, neigte er ihn zur Seite und machte dabei große Augen.

    »Er ist gerade erst reingekommen. Ich bringe ihn zuerst einmal auf den neuesten Stand und sage ihm dann, dass er Sie zurückrufen soll.« Die Klingel in dem alten Scheibentelefon dröhnte, als Chris den Hörer auf die Gabel knallte.

    »Was ist los?«, fragte ich verwirrt.

    »T.D. null eins.«

    »Eine tropische Depression?«, erwiderte ich fassungslos. »Du machst Witze.«

    »Keineswegs, schau her.«

    Er übertrug das Bild seines PC-Monitors nun per Tastendruck auf den Wandbildschirm. Es war eine vergrößerte Satellitenaufnahme der Sturmfront.

    »Beeindruckend, diese Zirkulation«, sagte ich und trat näher. Jetzt erkannte ich auch endlich, was ich da vor mir hatte. »Wie lang ist dieser Zeitraffer?«

    »Vier Stunden.«

    »Scheiße. Die hat sich aber schnell entwickelt. Wo ist das denn?« Ich ging davon aus, dass sich das Ganze wie üblich westlich von uns oder südlich von Hawaii zusammenbraute.

    »Acht, eins-siebzig-zwei.«

    »Hundertsiebzig … östlicher Breite?, hakte ich entsetzt nach.

    »Genau.«

    Indem er am Rad der Maus drehte, verkleinerte er das Bild um eine Stufe. Nun erschienen die Umrisse von Kwajalein unmittelbar westlich der Wirbel. Mir blieb kurz das Herz stehen. Die Suppe stand ungefähr dreihundert Meilen südöstlich von uns und bewegte sich kaum.

    »Was hält das JTWC davon?«, fragte ich. Die Abkürzung stand für Joint Typhoon Warning Center, das Zentrum der US Navy für tropische Wirbelstürme in Pearl Harbor, Hawaii.

    »Mit jemandem von dort habe ich vor einer Viertelstunde telefoniert. Sehr warmes Wasser, schwacher Scherwind, rapider Auftrieb. Den Hochrechnungen zufolge wird er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Stärke eines Taifuns erreichen. Vor ein paar Stunden gab noch niemand etwas auf diese Prognose, ich selber auch nicht. Aber jetzt hat plötzlich keiner mehr einen Grund dafür, sie anzufechten.«

    »Was genau hältst du davon, Chris?«

    Dies war nicht sein erster Tropensturm. Er arbeitete schon seit mehr als zehn Jahren als Spezialist für diese Klimazone und war Meteorologe bei der Navy gewesen, weshalb er so einiges an schlechtem Wetter erlebt hatte. Ich gab aus diesem Grund viel auf seine Meinung.

    Chris schob seine Brille auf die Nasenspitze hinunter und schaute über die Gläser auf den Monitor. Als er sich in seinen Sessel zurücksacken ließ, quoll sein stattlicher Bauch über den Gürtel seiner Hose und berührte die Oberschenkel. Er stieß einen leisen Seufzer aus.

    »Mir gefällt das überhaupt nicht«, antwortete er.

    Ich fühlte mich, als würden sich meine Gedanken überschlagen – Vorstellungen von Sturmfluten, Überreaktionen, Windschäden und irrtümlicher Prognosen rasten durch meinen Kopf.

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