Cranach natürlich: Hieronymus in der Wildnis
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Lukas Cranach der Ältere: einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Renaissance
Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) ist einer der wichtigsten und populärsten Maler der Dürerzeit - bis heute. Alle Welt kennt seine Porträts des Reformators Martin Luther. Doch Cranach hat noch mehr zu bieten: Der Künstler ist auch ein virtuoser "Naturmaler". Ob Landschaft, Tier oder Pflanze: Sein rascher Pinselhieb erweckt die auf der Leinwand verewigte Natur erneut zum Leben, verblüfft durch wissenschaftlich anmutenden Realismus ebenso wie durch tiefsinnige Symbolik. Zeit, einen frischen Blick auf einen alten Bekannten zu werfen!
Natur im Fokus: Cranachs Hieronymus-Bilder
Der bislang kaum beachtete "Naturmaler Cranach" steht im Zentrum dieses reich bebilderten Kunstbandes: In seinen Hieronymus-Bildern nimmt Lucas Cranach der Ältere den Kirchenvater Hieronymus als beliebtes religiöses Sujet der Renaissance auf. Bemerkenswerterweise übersteigt die Natur in seiner Darstellung ihre Funktion als "Hintergrundlandschaft". Nie zeigt sich der Naturmaler Cranach so originell, kreativ und wundersam wie hier: Warum verwandelt er die syrische Wüste, in der Hieronymus seine Buße tat, in einen üppigen Wald voller eigenartiger Tiere? Und wie nur sind Papagei und Biber ins Studierzimmer des Hieronymus gelangt?
Cranach und die Natur im Spiegel der Renaissance
Die Autoren dieses Bandes präsentieren Antworten auf diese und andere Fragen und verorten Cranach im Kontext seiner Epoche: zwischen Naturwissenschaft und Natursymbolik, aber auch zwischen altem und neuem Glauben. Mit Beiträgen von Nils Büttner, Gábor Endrödi, Christian Hecht, Michael Hofbauer, Peter Morass, Dominic Olariu, Helena Pereña, Laura Resenberg, Andreas Tacke, Michael Thalinger und Agnes Thum.
Ausstellung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum: 1.3.2018-7.10.2018
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Cranach natürlich - Haymon Verlag
CRANACHS HIERONYMUSBILDER UND DIE NATUR
Agnes Thum
Das Innsbrucker Hieronymus-Gemälde (Kat. 2) 1 ist ein außergewöhnliches Werk – außergewöhnlich sowohl im Œuvre von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) als auch im Kontext der Hieronymus-Darstellung der nordalpinen Renaissance. Zugleich ist es für beide Bezugsräume typisch: Der Kirchenvater Hieronymus (um 347–419/420) als Büßer in der Landschaft war schließlich ein echtes Lieblingsthema der Epoche, dem sich auch Cranach und seine Werkstattmitarbeiter zahlreich widmeten. Innerhalb dieser Bildaufgabe hatten Cranach und seine Zeitgenossen nicht nur die Möglichkeit, einen echten Modeheiligen darzustellen und dabei malerisch über das im Zeitalter Luthers heftig umstrittene Wesen der Buße zu sinnieren. Sie konnten auch, und nicht zuletzt, ihre Fähigkeiten im Naturbild beweisen: Der landschaftliche Rückzugsort des Hieronymus, eine Wüste nur der Idee nach, war vielen Malern mindestens ebenso wichtig wie die Darstellung des Kirchenvaters selbst. Lucas Cranach d. Ä. zeigte sich dabei mehr als einmal höchst kreativ.2 Dieses Phänomen ist es, dem die Beiträge dieses Bandes und die sie begleitende Ausstellung auf verschiedenen Wegen nachspüren wollen. Schon in einem seiner frühesten bekannten Gemälde, dem auf 1502 datierten, in der Körperdarstellung wie in der Landschaft ausnehmend expressiven Tafelbild aus Wien (Kat. 1), widmete Cranach sich dem hl. Hieronymus als Büßer. Der wilde Wald, der den Kirchenvater hier anstelle der historisch geforderten syrischen Wüste umfängt, ist dem Menschen gleichberechtigter ekstatischer Ausdrucksträger und zugleich Hort subtiler Symbolik.3
Die nächste durch Datierung bezeugte Beschäftigung Cranachs mit dem Sujet erfolgte 1509. In diesem Jahr entstand der beruhigte, geradezu idealisiert anmutende Holzschnitt (Kat. 5), der Hieronymus in einer fast schon romantisch zu nennenden Gegend lokalisiert: Unter einem luftigen, solitären Eichenbaum kniet der Heilige am lichten Rand eines windstillen Waldes, nahe einer sprudelnden Quelle und einer kleinen, halb verfallenen Kirche – einem waldigen Paradies ist der Büßer hier zumindest landschaftlich bereits nahe.
Zwischen dieser Druckgrafik und einem erst kürzlich wieder aufgetauchten Hieronymus-Gemälde, das offenbar der Werkstatt Cranachs d. Ä. zuzuweisen ist (Kat. 3),4 sind, der abweichenden Technik ungeachtet, einige frappierende Vergleichspunkte festzustellen: Der Heilige selbst mit dem stark in den Nacken gelegten Haupt und dem „dürerisch betonten Oberschenkel, über dem sich das üppig gefältelte Gewand glättet (vgl. Kat. 6) bietet ebenso eine Anknüpfungsmöglichkeit wie die Auffassung der Landschaft mit ihren dürren, nur spärlich belaubten Bäumen. Die stilistische Verhärtung, gleichwohl sie im Falle des Holzschnitts freilich zu einem Teil der Technik zuzuschreiben ist, hat das Gemälde ebenfalls mit der Grafik gemein. Es erscheint vor diesem Hintergrund legitim, als Anreiz zur weiteren wissenschaftlichen Diskussion dieses Bildes die Frage aufzuwerfen, ob es in zeitlicher Nähe zum Holzschnitt von 1509 entstanden sein könnte, vielleicht also noch vor dem angenommenen Beginn der Hieronymus-Serienproduktion datiert. Wäre es dann möglicherweise sogar denkbar, dass dieses Werk gemeinsam mit dem Wiener Bild (Kat. 1) und dem Holzschnitt (Kat. 5) eine Trias „früher
Solitäre Cranachs zum Thema des büßenden Hieronymus formt? Hier sind die Ergebnisse vertiefender Forschung abzuwarten.
In der Landschaftsauffassung zeigt das Bild jedenfalls eine für die Epoche typische Mischung aus felsigen und waldigen Elementen. Mit einer Felsformation wie der Wüste Siph, die Cranach in anderem malerischen Kontext darstellt, hat diese „Hieronymus-Wüste" nur wenig gemein (Kat. 30).5 Erhellend ist dagegen ein Vergleich mit dem bereits um 1470 entstandenen Hieronymusbild des Meisters der Heiligen Sippe (Kat. 12). Denn hier offenbart sich der symbolische Ursprung dieser Landschaftsformation: Karge Zweige und üppig belaubte Bäume stehen einander gegenüber wie Buße und Erlösung, der Fels mit der Kirche steht wohl für den vielzitierten Christusfelsen, und im Hintergrund ergänzen Vögel diese natürliche Allegorie.6 In dem Gemälde aus der Cranach-Werkstatt (Kat. 3) gehen vergleichbare Elemente fruchtbarer und unfruchtbarer Natur dagegen in (scheinbar) realistischer Landschaftsschilderung auf.
Als große Zeit der Cranach’schen „Hieronymusse" werden die Jahre um 1515–1520 angenommen. Zahlreiche Tafelbildchen mit dem büßenden Kirchenvater verließen nun die florierende Werkstatt. Vorbild war, wie so oft zu dieser Zeit, Albrecht Dürer (1471–1528), der sich mit der Thematik vor allem in der Druckgrafik intensiv auseinandergesetzt hatte (Kat. 6, 7, 9, 10). So hallt dessen Kupferstich „Hieronymus unter dem Weidenbaum von 1512 in Cranachs Bildformulierung des schreibenden Kirchenvaters im Wald nach Kat. 4), der eine für die Zeit äußerst charakteristische Vermengung mit dem Wissenschaftspatron „Hieronymus im Gehäuse
darstellt – doch dazu unten mehr.
Klarer erkennbar ist das Vorbild Dürer in einem zweiten, weiter verbreiteten Bildtypus aus der Cranach-Werkstatt,7 der im 16. Jahrhundert äußerst bekannt und beliebt gewesen sein muss. Zahlreiche nahezu identische, wenngleich in der malerischen Qualität durchaus variantenreiche Wiederholungen bezeugen die große Popularität dieser Bilderfindung. Eine Tafel aus Privatbesitz (Kat. 8) gibt die Komposition wieder: Der Heilige mit dem „dürerisch" gerafften Gewandbausch und dem auffordernd aus dem Bild herausblickenden Löwen ist umgeben von einer Landschaft, die ganz auf (symbolischen) Dualismus zurückgeführt ist. Die Vielfalt des Naturraums, die Dürers Stich (Kat. 6) vorgibt, wird dabei durch prägnante Gegensatzpaare ersetzt: Karger Fels kontrastiert mit üppiger Bewaldung, ein einsamer Bußwinkel mit der fernen Stadt. Diese einfache Lesbarkeit von Cranachs Bilderfindung, die auch ihre Naturdarstellung einschließt, dürfte zu deren Popularität einiges beigetragen haben.
Dass es gerade das Landschaftliche ist, das Cranachs Zeitgenossen an den Hieronymusbildern reizte, bezeugt eine Variante des oben beschriebenen Typus. Die Komposition verlegt den Fokus vom hl. Hieronymus deutlicher auf die ihn umgebende Landschaft (Abb. 1): Ein sumpfiges Wasserloch ist ebenso hinzugefügt wie zwei Bäume, deren einer dem Kruzifix zugewiesen ist, während der andere, instabilere wohl den Kirchenvater meint.8
Auch das Innsbrucker Hieronymus-Bild nimmt vergleichbar den Ausgangspunkt bei Cranachs populärem Serien-Motiv und erweitert dessen Landschaftsausschnitt (Kat. 2, vgl. Kat. 8). In diesem Werk, seiner nicht nur größten und detailreichsten, sondern wohl auch letzten Beschäftigung mit der Thematik des büßenden Hieronymus in der Wildnis, geht Cranach aber deutlich über alle Vorgaben früherer Jahre hinaus: In atmosphärisch dichtem, felsigem Waldwinkel vor niederländisch anmutendem Landschaftsausblick avancieren Tiere und Pflanzen zu geheimen Hauptdarstellern.
NATURBILDER ZWISCHEN EMPIRIE UND SYMBOLIK
Im Detail verblüfft dabei Cranachs Treffsicherheit in der Naturerfassung.9 Die einzelnen Arten sind im Innsbrucker Gemälde botanisch und zoologisch meist gut identifizierbar (vgl. S. 194–195). Mit diesem offensichtlichen Interesse an den charakteristischen Eigenarten von Flora und Fauna, das sich vergleichbar in Naturstudien und Grafiken (Kat. 36, 54–56, 58), aber auch in Gemälden wie dem „Hl. Eustachius Kat. 57) zeigt, ist Cranach ein Kind seiner Zeit.10 Denn in der Renaissance erwachte das Interesse für naturkundliche Forschung und Illustration (Kat. 70–76), wovon auch die Kunst nicht unbeeinflusst blieb. Im Rahmen dieser Wechselbeziehung entstanden langsam, zunächst insbesondere in den „dienenden Gattungen
der Naturstudien und in den sich mehr und mehr ausweitenden Hintergründen religiöser Szenen, die Vorboten freier, empirischer Naturschilderungen und Landschaftsmalereien.
Und doch ist das Innsbrucker Gemälde (Kat. 2) von echtem „Naturalismus noch weit entfernt. Sowohl die additiv anmutende Gesamtkomposition als auch die Kombination der Naturdarstellung mit dem religiösen Bildthema des büßenden hl. Hieronymus machen deutlich, dass es Cranach nicht nur um die Natur um ihrer selbst willen gegangen sein kann. Im 16. Jahrhundert standen die Naturwissenschaften erst am Beginn ihres langen Ablösungsprozesses von der Religion. Über Jahrhunderte war schließlich alle Beschäftigung mit der Natur überhaupt nur religiös zu rechtfertigen gewesen. Erforschung der sinnlich wahrnehmbaren Natur war Ergründung ihrer übersinnlichen Ursachen. Diese vormoderne, durch und durch symbolhafte Sichtweise, in der jedes Lebewesen ein Abbild des Schöpfungsgeheimnisses (und zugleich meist auch ein konkretes, religiös-moralisches Sinnbild) war, wirkte mit Kraft in die Frühe Neuzeit hinein. Denn auch nach 1500 war die allegorische Lesart der Natur allgegenwärtig: Noch immer kannte man die christlichen Tierdeutungen des Physiologus und der Bestiarien, die Tier- und Pflanzensymbolik der moraltheologischen Traktate oder die „naturkundliche
Marien- und Passionsikonographie (vgl. Kat. 37–40, 43–51), und noch immer erfuhr auch Konrad von Megenbergs (1309–1374) mittelalterliche Naturkunde, das „Buch der Natur" (Kat. 42), neue Auflagen. Hinzu kamen humanistische Impulse wie die sukzessiv erblühende Emblematik sowie die im 16. Jahrhundert wieder modern gewordene Tierfabel (vgl. Kat. 52).
Abb. 1 Lucas Cranach d. Ä. und Werkstatt, Büßender hl. Hieronymus, um 1515–1518, Malerei auf Lindenholz, Privatbesitz
Das Naturbild Cranachs und seiner Zeitgenossen beiderseits der Alpen bedient also zwei Betrachtungsweisen. Es liegt in einem Spannungsfeld zwischen Empirie und Symbol, Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit, neuem und tradiertem Wissen. Im Innsbrucker Gemälde wird eben dieses Spannungsfeld auf den ersten Blick anschaulich: Auf der einen Seite sind die Lebewesen durchaus detailliert und oft nahezu exakt dargestellt (vgl. S. 194–195). Auf der anderen Seite wird jedoch eine symbolische Ebene unmittelbar augenscheinlich: So finden sich etwa Fabelwesen in diesem doch nur scheinbar realistischen Naturraum, der in der Gesamtschau völlig der Empirie entbehrt. Der additive, ja „künstliche Charakter dieses Arrangements von Tieren und Pflanzen ist grundlegend vergleichbar mit den einleitenden Holzschnitten in den spätmittelalterlichen Inkunabeln des genannten „Buchs der Natur
, das Cranach, wie noch zu zeigen sein wird, als Inspiration für sein Innsbrucker Gemälde nutzte.
Bevor aber die Symbolsprache der Tiere und Pflanzen im Einzelnen betrachtet wird,11 stellt sich eine Frage: Was hat der Kirchenvater Hieronymus überhaupt mit der Natur zu tun?
LÖWE, SCHLANGEN, SKORPIONE HIERONYMUS IN DER BUßLANDSCHAFT
Der hl. Hieronymus wurde in der Renaissance in verschiedenen Rollen verehrt und dargestellt:12 Als Philologe, Bibelübersetzer und Kenner der paganen Literatur war er der Patron der Humanisten und der Wissenschaftler, was den Bildtypus „Hieronymus im Gehäuse generierte (Abb. 6, 7 & Kat. 9, 10). In der heraldischen Heiligenfigur (Kat. 13, 16) spiegelt sich seine Verehrung als Papstvertrauter, Kirchenvater und Autorität in Glaubensfragen wider. Die Darstellung in der Natur bedient dagegen einen dritten Aspekt: Hieronymus ist Vorbild für monastische Ideale, für das Leben in der Abgeschiedenheit, für Entbehrungen, Askese und Buße. Und mit eben diesen Ideen ist die Naturdarstellung verknüpft, insbesondere die Einsamkeit einer öden, kargen „Wüstenei
.13 Dieser von Viten und Legenden getragene Topos ist es, der die Verbindung von Bußvorbildern wie Hieronymus, aber auch Maria Magdalena, dem König David der Bußpsalmen oder Johannes Baptist mit der Naturdarstellung generierte (vgl. Kat. 29).
Zur Einsiedelei gehören auch wilde, gefährliche Tiere, die zu zahmen Gefährten des Büßers werden. Durch seine Askese kommt der Eremit dem paradiesischen Urzustand vor dem Sündenfall nahe, in dem die Ureltern friedlich mit den Tieren zusammenlebten wie Hieronymus mit seinem Löwen. Die Tierzähmung ist aber auch ein hergebrachtes Symbol für die Zähmung der eigenen sündhaften Natur – so wurde es gedeutet, wenn Hieronymus seinem Löwen den Dorn aus der Pfote zog (vgl. Kat. 19, Abb. auf S. 30, 32f.).14
Der Bezug wilder Tiere auf menschliche Sünden ist auch unabhängig vom Löwen mit Hieronymus verbunden. Im zu Cranachs Zeiten meistzitierten Werk des Kirchenvaters, dem auch volkssprachlich verbreiteten Brief an Eustochium (um 368–419/420),15 bekennt Hieronymus, die Einsiedelei „in der einzigen Gesellschaft von Skorpionen und wilden Tieren sei der „Kerker
für sein „sündiges Fleisch. „Dieses Leben ist für uns Sterbliche ein Kampfplatz
, sinniert Hieronymus. „Hier müssen wir um die jenseitige Krone ringen. Wer sich zwischen Schlangen und Skorpionen bewegt, bleibt nicht ungefährdet. […] Wir haben den Kampf nicht gegen Fleisch und Blut zu führen, sondern gegen die Mächte und die Gewalten dieser Welt und dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in der Luft.16 Die wilden Tiere sind also für Hieronymus, wiederholt in der weitverbreiteten „Legenda aurea
oder in den nicht minder populären angeblichen Hieronymusbriefen (Kat. 18–20),17 Sinnbilder von Sünden und moralischen Versuchungen. Im Falle des Kirchenvaters, in dem „das Feuer sündlicher Begier" tobte, betraf das vor allem die fleischlichen Lüste.
Mit dem Umbruch zum 15. Jahrhundert entwickelte sich aus diesen Vorgaben eine besonders in Italien lebendige Bildtradition des Hieronymus als Büßer in der Landschaft. Umgebung, Tier- und Pflanzenwelt spielen dabei wichtige Rollen. Neben dem attributiven Löwen sowie Kamelen und Esel der gelegentlich gezeigten Karawanenlegende (Kat. 1, 4, vgl. S. 164) stehen zunächst vor allem die genannten „Wüstentiere", Skorpione und Schlangen, im Fokus (Abb. auf S. 72). Auch Drachen, Leoparden und andere Wesen, die Gefahr versinnbildlichen, lassen sich bald im Gefolge des Hieronymus finden. Den Zeitgenossen waren es leicht verständliche Sinnbilder der Sündenbedrohung.
Abb. 2 Giovanni Bellini, Der lesende hl. Hieronymus, 1505, Malerei auf Holz, National Gallery of Art, Samuel H. Kress Collection, Washington
Abb. 3 Anonym, König David als Büßer und die Todsünden, 15. Jh., Malerei auf Pergament (Stundenbuch), Bibliotheque nationale de France, Département des Manuscrits, Paris, NAL 215, fol. 122v
DIE BUßLANDSCHAFT ALS TIERGARTEN
Doch dabei bleibt es nicht. Im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts finden sich zunehmend Tier- und Pflanzensymbole in den Hieronymuslandschaften, die mit der Wüsteneinsiedelei nichts zu tun haben. Die Künstler setzten nun auch die heimischen, aus direkter Anschauung bekannten Arten ins Gefolge des Büßers. Hirsche, Singund Greifvögel, Hasen, Rebhühner, Frösche, Bären und viele andere Wesen, darunter auch exotische Papageien, bevölkern bald die Bußlandschaften besonders der norditalienischen Malerschulen (Abb. 2, Abb. auf S. 74).
Der Grund für diese Ausweitung der Hieronymus-Thematik zu einer breiten natürlichen Allegorie ist die über Jahrhunderte festgefügte Verbindung von Tieren und Pflanzen mit christlich-moralischen Inhalten, im Besonderen mit Tugenden, Lastern oder Sünden (vgl. Kat. 39, 43–51).18 Da der Dualismus von Sünde und Tugend eng mit der Bußidee verbunden ist, lässt sich, vor allem nördlich der Alpen, auch an anderen Stellen der „Bußikonographie"
Vergleichbares beobachten: bei Johannes dem Täufer19 oder, die Symbolhaftigkeit besonders prägnant vor Augen führend, bei König David als Büßer. Schon hier, auf den Startseiten vieler Bußpsalmensektionen im spätmittelalterlichen „Massenmedium Stundenbuch", findet sich als Sonderlösung die Zusammenstellung mit den Tiersymbolen der sieben Todsünden (Abb. 3, vgl. Kat. 43–49).20 Hier ist vüllig unmissverständlich ausgesprochen, was die Tiere beim Büßer zu bedeuten haben.
Dennoch ist Hieronymus in üppiger Tierlandschaft nördlich der Alpen eher selten anzutreffen. Lediglich Vogelsymbole, die in der einheimischen Malerei einige Tradition hatten, sind auch hier häufig.21
Mit seinem frühen Wiener Hieronymusbild steht Cranach, ebenso wie vor ihm der Meister der Heiligen Sippe, in dieser Tradition (Kat. 1, 12).22 In den übrigen Darstellungen des büßenden Kirchenvaters verzichtet er dagegen auf umfangreiche natürliche Symbolik – mit Ausnahme des Innsbrucker Bildes (Kat. 2).
Dieses Gemälde ist ein echtes Unikum. Ein konkretes oder auch nur allgemeines Vorbild, etwa aus dem Umkreis Dürers, konnte für diesen „Tiergarten" bislang nicht ausgemacht werden. Ein Zusammenhang scheint einzig mit einem Hans Wechtlin (* um 1480/85)23 zugewiesenen Holzschnitt zu bestehen (Abb. 4). Denn auch hier finden sich, angeregt in diesem Fall wohl von Giovanni Bellini (1435/38–1516, Abb. 2), zahlreiche Tiere in der Bußlandschaft. Über diese allgemeine Vergleichbarkeit hinaus schafft ein seltenes Sondermotiv24 die Verbindung zum Innsbrucker Bild: der saufende Löwe. Da Cranach mit Wechtlin, zu seiner Zeit einer der Vorreiter des Farbholzschnittes (Kat. 38), um 1506 zusammengetroffen sein muss, wäre eine Anregung durchaus denkbar. An enzyklopädischer Breite der Naturdarstellung übertrifft Cranach den Grafiker jedoch bei Weitem.
EIN KIRCHENVATER IM PARADIES
In dieser Naturdarstellung eröffnet sich im Detail eine betont altgläubige Buß- und Rechtfertigungsallegorie: Derjenige, der dem Vorbild des Hieronymus nacheifert, seine Sünden erkennt, bereut und sich in Tugenden übt, wird am Ende seiner Tage die Seligkeit erlangen.25 Die weitgehende Konzentration auf die heimische Tier- und Pflanzenwelt suggeriert dabei eine Vertrautheit, die didaktisch wirksam werden kann. In heimischer Umgebung kann Hieronymus leichter zur Identifikationsfigur, zum Buß- und Frömmigkeitsvorbild jedes einzelnen Betrachters werden.
Abb. 4 Hans Wechtlin (zug.), Die Buße des hl. Hieronymus, um 1515, Holzschnitt, Privatbesitz
Abb. 5 Andrea del Castagno, Der hl. Hieronymus mit der Dreifaltigkeit, um 1453, Fresko, Santissima Annunziata, Florenz
Aber auch eine ganz grundsätzliche Aussage wird durch die Erweiterung des Bildthemas zum „Tiergarten" getroffen: Im Gesamt der Naturdarstellung, der friedvollen Fülle und Mannigfaltigkeit der Arten, ist auf die Schöpfung in ihrem paradiesischen Urzustand verwiesen.26 Seine Askese erlaubt Hieronymus, diesem Ideal nahe zu kommen. Zugleich deutet die paradiesische Natur in der Vorausschau auf seinen Eingang ins Himmelreich als Lohn für das entbehrungsreiche Leben hin. Diese Betrachtungsebene der Bußlandschaft legt nicht zuletzt der Vergleich mit anderen expliziten „Tierbildern Cranachs offen, auf denen die Artenvielfalt zweifellos das Paradiesische bezeichnet: die Londoner „Adam und Eva
-Tafel (Abb. auf S. 101),27 die Varianten des „Paradieses (Abb. auf S. 202–203) oder – im Profanen – das „Goldene Zeitalter
. Die exakte und detailreiche Darstellung der Arten ist vor diesem Hintergrund auch als Lob der Schöpfung und ihrer Weisheit zu verstehen.
HIERONYMUS UND DIE WEISHEIT DER SCHÖPFUNG
Diese Weisheit der Schöpfung ist es, die einer weiteren Betrachtungsebene des „Hieronymus in der Tierlandschaft das Stichwort gibt. Denn die geschaffene Natur wurde, einem dem gesamten Mittelalter geläufigen Topos folgend, auch im 16. Jahrhundert noch als „Buch
gesehen, in dem der Gottessuchende die Offenbarung „lesen kann. Analog zur Bibel galt die Natur als das „zweite Buch Gottes
,28 in dem gerade das einfache Volk, das des Lesens nicht mächtig ist und dem die gelehrte Welt der Bibel notgedrungen fremd bleibt, Gottes Weisheit erleben kann.
Dieses Sinnbild von den „zwei Büchern passt besonders gut zum Kirchenvater Hieronymus, der mit der Bibel als Übersetzer aufs Engste verbunden ist. Dass nun gerade dieses sonst fast obligatorische Buch im Innsbrucker Bild fehlt und die Natur, das Buch der Ungelehrten, gewissermaßen an seine Stelle tritt, ist durchaus symptomatisch: Offenbar soll jeder Hinweis auf Hieronymus als Wissenschaftler vermieden werden. Der Büßer hat seine Gelehrsamkeit ganz abgelegt und sich, umgeben vom „Buch der Natur
, der Weisheit des Schöpfergottes vollständig untergeordnet. Sicher nicht ohne Grund finden sich auf der Wiese zu Füßen des Kirchenvaters so viele „Trinitätsblumen", die in der Dreizahl von Blüten und Blättern auf die Dreifaltigkeit verweisen.29 Die Schöpfung nämlich galt als deren Abbild. Ganz ähnliche Schwerpunkte setzte bereits Jahrzehnte zuvor Andrea del Castagno (1419–1457) mit seinem Trinitätsfresko in Florenz (Abb. 5), wenn er den Büßer unter der Dreifaltigkeit darstellte.30 Während Andrea aber die personale Trinität als Adressaten der Demutsgeste des Hieronymus zeigt, präsentiert Cranach den Trinitätsverweis im „Buch der Natur".
In den Schriften des Kirchenvaters findet dieser Gestus seine Entsprechung. Mehrfach lehnt Hieronymus in seinen Überlegungen zum 91. Psalm31 die Erforschung der Trinität – also der Schöpfung – ab und weist sie dem Laster Neugier (curiositas) zu: „Ein aus Lehm gebildetes Gefäß läßt sich in Erwägungen über den Schöpfer ein und kann nicht einmal zur Ergründung seiner eigenen Natur gelangen. Voller Neugier sucht es über das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu wissen, was selbst die Engel des Himmels nicht zu ergründen vermögen. „Ist es nicht besser
, fragt Hieronymus, „demütig seine Unwissenheit einzugestehen, als aus Stolz sich eine Kenntnis anzumaßen? Am Tage des Gerichtes