Unbetitelt No. 2
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Weil seine Gesundheit eine Panne erleidet, unternimmt Josef Wucht eine Zugfahrt und gerät in eine illustre Gesellschaft, die sein Jüngstes Gericht spielt, das ihnen - unterschiedlichste Charaktere, weltlicher Einschlag, religiöser, zum Zeitvertreib dient. Wucht übernimmt selbstverständlich die Rolle dessen, über den beraten wird, denn sein achtbares Leben dient hierfür ganz gewiss.
Eren V. Vekselbergh
Ein weißes Blatt Papier birgt noch immer die größte Phantasie Eren V. Vekselbergh könnte alles sein und nichts, das wird vielleicht enttäuschen, aber nur den, der erwartet. Und was ändert es an dem Geschriebenen? Am Werk? Nichts. Im Gegenteil, alles ist möglich. Ich hielt diese Geschichte eines Tages in den Händen, urplötzlich. Fesselnd, auf dass sie nun auf andere in ihren Bann zieht. Zufälle gibt‘s.
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Book preview
Unbetitelt No. 2 - Eren V. Vekselbergh
Eine noch immer mögliche Geschichte
Routine, Pflicht immerhin, Gewohntes auch hier: M. Josef Wucht, um den Namen zu nennen, gewesener Richter, zweiundneunzig, schon welk und verblüht, doch beinahe ohne Mängel, eine unbemerkte Erscheinung alles in allem, mit genügend Schärfe, wenn auch eine gewisse Dressur verratend, indem Pedantisches, Haarspalterei durchschimmerte - dieses zwergenhafte Männlein hatte eben noch leichte Gartenarbeit im prachtvollen Grün seiner Villa verrichtet, konnte schon absehen in einer dreiviertel Stunde zu Abend zu essen, als sein Leib streikte, ein Schwächeanfall. Hilflos lag der Greis in Mitten duftender Rosenstöcke. Die hohen Tannen bogen sich rauschend in den warmen Himmel; von Westen her schien in hellen Lichtbändern noch die Sonne zwischen Bäumen und Hecken hindurch, den schmalen Kiesweg beglänzend. Wucht schloß die Augen und tat das Erforderliche. Der Arzt, der den Alten schließlich untersuchte, empfahl den Aufenthalt in einem Sanatorium, er habe kürzer zu treten, Schwäche des Herzens. Ob das stimmte war weder ausfindig zu machen, noch war es ratsam dieses zu versuchen, Medizinern ist man ausgeliefert wie Menschenrecht und Naturgesetz, später noch dem Jüngsten Gericht. Zu gehorsam, den Ratschlag des Arztes zu verweigern und die Reise gen Süden auszuschlagen, in mildes Wetter und Gesellschaft, beschloß Wucht zu fahren, warum nicht der Einsamkeit (sein einziger Sohn befand sich seit Jahren in den Vereinigten Staaten) einige Tage entfliehen. Es war sieben Uhr abends, tags darauf, schwül warm noch immer, Spätsommer, doch sein Ende nun nahe, die größere Stadt mit der Bahnstation lag verzettelt dar, bedrängt vor verrußten Häuserzeilen, eine dunkle Garage dahinter, alles uralt und marode. Auch war dort ein Gewölbe mit allerhand Lokalen und mehrere Schlote, Fabriklein, deren schwere Nebel Wucht schon öfter hatte beklagen gehört, nun trübten sie abermals den späten Himmel, zusätzliche Schicht in Mitten Hochkonjunktur, und der Pensionist wurde vom Grollen eines in weiter Ferne aufziehenden Gewitters nach dem Bahnsteig gewiesen, wo tatsächlich hin und wieder Züge hielten. Wucht zögerte. Noch war es möglich sich zurück in den Wagen des Taxlers zu setzen und umzukehren, doch entzückte ihn die Aussicht, irgendein Abenteuer zu erleben, gab es doch manchmal Alleinreisende, junge Damen beispielsweise, wie einst auf einer Nachtfahrt nach Luxemburg, die eine Bekanntschaft mit verdienten Herren zu schätzen wußten. So schlug er denn neubelebt den Weg zum Gleis ein. Wind frischte auf, Gestelle mit blaßen Ansichtskarten schlugen ihm entgegen. Reisende, wie er, flohen vor den sich auftürmenden Wolkenbergen in den Zug, schimpften. Sein Sitzplatz lag in einem annehmlichen Abteil, die Wände dunkel vertäfelt, ein Fenster, Gepäcknetze, stabil, solide alles und ordentlich vor allem, gegen die Seiten hin die Sitzbänke, zwei junge Mädchen darauf in leichten Kleidern, möglicherweise Schwestern oder wenigstens verwandt miteinander, in Journaille vertieft.
Wucht grüßte höflich und stellte sich vor.
Sie lächelten, freundlich, ihm zugewandt.
»Benötigen Sie Hilfe?« fragte die eine, erfreut darüber, ihren Zeitvertreib zu pausieren.
»Nicht notwendig«, erklärte der Pensionist souverän, nachdem er sein Gepäck verstaut hatte, er komme zurecht murmelte er etwa und fragte nach dem Reiseziel der jungen Damen.
»Die Adria.«
Der Alte musterte die beiden sorgfältig, nach der Weise der Weitsichtigen, über seine randlose Brille hinweg: »Aha! Also ein Erholungsurlaub.«
Sie verneinte, sie pflegten eine Tante dort zu besuchen, das Mütterchen zähle über Hundert Jahre und befinde sich tatsächlich noch immer bei bester Gesundheit, da fühle man sich gelegentlich verlangt.
Der Pensionist sah auf. Er war gerührt über den Anstand und das Pflichtdenken der Kinderchen und bemerkte, unter den Nachkommenden gebe es doch noch Treue und Gewissen. Wie schön.
Sie lächelten mit rosigen Wangen:
»Sie reisen allein?«
Wucht bestätigte und erklärte umständlich, der eigenen Gesundheit wegen zu fahren (»ein schwaches Herz, meine Damen«), er habe zwar seinen ehemaligen Posten als Richter längst quittiert und sei bereits vor Jahren aus dem Berufsleben ausgetreten, doch strafe ihn im Alter der gebotene Fleiß nun ab, wenn man so wolle. Ein gellender Pfiff ertönte und die Türen wurden geschlossen. Der Pensionist sah zufrieden aus dem Fenster. Reisende, Kofferwagen fuhren vorbei. Große Abschiedsszenen, von Wiederkehr trunkene Bilder.
Sie erwarte einige Pendler, Vielfahrer, heute Abend, sagte die andere, wie der Zug nun einen Bahnübergang querte, und sah aufmerksam den aufleuchtenden Lichtern nach. Reisende, die die günstige Verbindung nutzten, teils auf dem Heimweg,