Unscheinbarkeiten
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Book preview
Unscheinbarkeiten - Dorothea Seth-Blendinger
Unscheinbarkeiten
Dorothea Seth-Blendinger
Prof. Dr. Stefan W. Hockertz
UNSCHEINBARKEITEN
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2013
Bibliografische Information durch die
Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Illustrationen © Martin Hoffmann
ISBN 9783954889150
www.engelsdorfer-verlag.de
Inhalt
Cover
Titelseite
Impressum
Prolog
Das Silberfischchen
Die Assel
Der Ohrwurm
Der Bücherskorpion
Der Kakerlak
Der Floh
Die Stubenfliege
Der Mehlwurm
Die Spinne
Die Ameise
Die Blattlaus
Die Motte
Die Mücke
Der Marienkäfer
Die Florfliege
Finale
Anhang
Protagonisten
Kurzbiographien
Quellen
Fussnoten
Es gibt auf der Welt
keine Unscheinbarkeiten.
Es gibt nur solche,
die uns unscheinbar erscheinen.
Prolog
Das Silberfischchen verliebt sich in den Fuß, der jeden Tag ins Badezimmer kommt und vergisst darüber fast seine Vorliebe für Zucker. Der Ohrwurm ist ein Messie und sammelt alles, was er finden kann, in seiner Bodenritze. Der Kakerlak prahlt mit seinen Abenteuern in New York, das er angeblich als blinder Passagier in einer Schuhsohle verlassen hat. Die Spinne pflegt eifrig ihr Netzwerk und behält über alles die Kontrolle – zumindest strebt sie das an. Die ängstliche und wegen ihrer kurzen Beinchen und ihres fülligen Körpers leicht depressive Assel ist ein ideales Opfer für die Spinne. Sie muss diese ständig mit Informationen versorgen, denn die Spinne verlässt ungern ihr Netz. Die Stubenfliege ist extrem neugierig, muss überall und nirgends sein und bemerkt nicht die golden glänzende Leimfalle, die von der Küchendecke herab hängt. Der Bücherskorpion, der über ein schier unendliches Wissen verfügt, wohnt im Band 5 des 52-bändigen „Meyers Konversationslexikon". Die Ameise ist der lasziven Laus und ihrem süßen Saft völlig verfallen und ist dadurch ständig im Zwiespalt mit ihrer kommunistischen Gesinnung.
In 15 Episoden, in denen jeweils ein Kleintier die „Hauptrolle" spielt, durchleben die Protagonisten alle Höhen und Tiefen ihres Daseins.
Die kleinen Tiere bringen bei dieser Geschichte ihre speziellen Eigenarten und Attribute mit ein. So flattert und fliegt, krabbelt, kriecht und klettert es – und dabei menschelt es ganz gewaltig! Es geht um Macht, Liebe, Enttäuschung, Angst, Revierkampf, Mut, Phantasie, Kooperation – ein kurioses und überaus witziges Miteinander. Eng orientiert an ihren jeweiligen biologischen Besonderheiten agieren die kleinen Lebewesen mal miteinander, mal gegeneinander.
Die Bewohner – so werden die Menschen genannt – bekommen von dem Kleinkosmos im „gemeinsamen Haushalt" nur wenig mit. Sie ahnen nicht, dass die unscheinbaren Kleinlebewesen nur scheinbar unscheinbar sind!
Kapitel 1
Das Silberfischchen
Das Silberfischchen streckte vorsichtig seine Fühler aus der Ritze im Badezimmerboden. Es prüfte die Lage – alles war dunkel und leise! Genau der richtige Zeitpunkt, um sich aus dem sicheren Versteck zu wagen. Das Silberfischchen war nicht gerade ein Held und die anderen rissen ab und zu darüber ihre Witze. Das machte ihm aber nicht viel aus. Schon manchem war seine unvorsichtige Art zum Verhängnis geworden. Mit Schaudern erinnerte es sich an die Mücke, die einem Kamikaze-Flieger gleich den Bewohnern immer wieder ins Gesicht geflogen war. Bis … das Silberfischchen wollte gar nicht weiter daran denken.
Lieber an etwas Schönes denken! Zum Beispiel an das kleine Zuckertütchen, das seit dem Vormittag unter dem Waschbecken lag. Wie es da hingekommen war wusste das Fischchen nicht. Plötzlich war es da!
Schon den ganzen Tag über musste das Silberfischchen an dieses Zuckertütchen denken.
Silberfischchen lieben Zucker!¹ Nun war es endlich soweit. Es schlüpfte behände aus dem Bodenversteck heraus und glitt über die glatten Fliesen Richtung Waschbecken. Das Silberfischchen war noch nicht ganz erwachsen, aber auch kein Kind mehr, immerhin schon acht Millimeter lang. Bereits fünfmal hatte es seine alte Haut abgestreift und eine neue bekommen – um jeweils ein Stück weiter zu reifen und zu wachsen.
Seit ein paar Monaten bewohnte es nun eine eigene kleine Spalte im Badezimmerboden. Manche Familienmitglieder gaben mächtig an mit ihren Häutungen. Sie prahlten und protzten mit ihrer neuen Haut und betrachteten ständig ihre silbrigen Schuppen im Spiegel der Badewannenarmatur. Da gab sich unser Silberfischchen bescheidener, ließ jedoch keine Gelegenheit aus sich zu putzen und mit den Fühlern auf Hochglanz zu polieren.
Das Mondlicht fiel durch das Fenster und zauberte einen silbrigen Glanz auf den Körper des kleinen Wesens.
Da geschah es! Die Türe ging auf, das Licht explodierte hell und ein Fuß betrat den Raum. Das Silberfischchen war starr vor Schreck und verharrte regungslos. Wie ein kleiner dunkelgrauer Strich hob es sich vom Weiß des Fliesenbodens ab. Der Fuß setzte direkt neben dem Silberfischchen auf dem Boden auf. Eigentlich waren es zwei Füße, die das Bad betraten, das kleine Fischchen konnte jedoch nur den einen erkennen, der ihm so nahe war. Wie ein großes Schiff vor Anker ruhte der Fuß auf den Fliesen. „Ah, ein Silberfisch! Wie der glänzt! Sieht hübsch aus!"
Silberfischchen traute seinen Ohren nicht. Der Fuß hatte gesprochen! Er hatte gesagt, dass es hübsch aussehe. Ganz sachte streckte es seine Fühler aus, blieb jedoch unbeweglich stehen. Der Fuß: er war breit und kräftig, bewegte sich jedoch geschickt und vorsichtig, um das kleine Lebewesen nicht zu verletzen. Und dann berührte er es ganz sanft mit seinem großen Zeh.
Da war es um das Silberfischchen geschehen! Das Zuckertütchen war vergessen, ebenso die Angst vor dem explodierenden Licht. Nach einer Weile verließ der Fuß wieder den Raum, das Licht erlosch und alles war so wie zuvor. Alles? Nicht alles! Das Silberfischchen hatte sich verliebt. Verliebt in den Fuß.²
„Hey, Silver!, ließ sich plötzlich eine knatternde Stimme vernehmen. „What are you doing here? Go home, die Nacht ist vorüber!
Der Kakerlak – wer sonst?! Mit den ersten Strahlen der Morgensonne quetschte er sich unter der Badezimmertür durch und ließ seinen Blick gebieterisch über den Raum schweifen – bis er am Silberfischchen mitten auf dem Fliesenboden hängen blieb.
Der Kakerlak hielt sich für etwas ganz Besonderes! Er erzählte den lieben langen Tag von seinen Heldentaten in New York. Er behauptete, er sei in einem großen Koffer von Amerika hierher gelangt. Daher spielte er sich auf wie ein Mann von Welt und durchsetzte seine Sprache mit amerikanischen Wörtern.
Dabei lebte der Kakerlak sehr gefährlich, denn wenn die Bewohner ihn entdeckten, würden sie vermutlich kurzen Prozess mit ihm machen. Die Spinne meinte, wahrscheinlich wäre er nie in New York gewesen, sondern käme direkt von der Toilette im Nachbarhaus, nachdem die Bewohner ihn vor die Tür gesetzt hätten. Aber beweisen konnte das natürlich niemand!
„Hey, Silver, what’s the matter with you? Bist du tot?", herrschte der Kakerlak den kleinen Strich an, der da immer noch vor ihm auf dem Fußboden verharrte. Unverschämt, sich ihm in den Weg zu stellen!
Doch das Silberfischchen hörte nicht die rauen Worte des Kakerlak. Es seufzte hörbar auf und zeichnete mit seinen Tastfühlern ein Herz in die Luft. „Ich habe noch nie so einen schönen Fuß gesehen. Und er sagte, ich sei hübsch. Ob er wohl bald wiederkommt?", lispelte das Silberfischchen und seine Fühler färbten sich leicht rosé.