Alles, was bleibt oder Ein Haus in Wien
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Ein kauziger Antiquitätenhändler will seine Jugendliebe wiederfinden. Ein Sohn versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Eine junge Frau kommt hinter das Geheimnis ihres Lebens. Und dann sind da noch eine mäßig erfolgreiche Schriftstellerin, eine gealterte Primaballerina und eine gescheiterte Buchhändlerin: Sie alle verbindet nicht mehr als das Haus, in dem sie leben - oder ist da doch noch etwas?
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Book preview
Alles, was bleibt oder Ein Haus in Wien - Doris Fleischmann
ALLES, WAS BLEIBT ODER
EIN HAUS IN WIEN
DORIS FLEISCHMANN
ALLES, WAS BLEIBT ODER
EIN HAUS IN WIEN
Roman
Literaturgruppe Textmotor
Lektorat: Teresa Profanter
Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović
Satz: Daniela Seiler
Hergestellt in der EU
Doris Fleischmann
Alles, was bleibt oder Ein Haus in Wien
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:
MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien
Land Niederösterreich
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2018
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-461-1
Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa (Der Leopard)
PROLOG
Christiane Winter blieb vor ihrem Wohnhaus stehen. Auch Touristen taten dies oft, um die bereits verblasste Inschrift auf der Tafel zu entziffern, die links neben dem Eingang zur Buchhandlung angebracht war.
Zur Erinnerung an den Lyriker Georg Trakl, der hier im Oktober 1912 die Räumlichkeiten im vierten Stock bewohnte, um an seinen Herbstgedichten zu arbeiten.
„Sonne, herbstlich dünn und zag,
Und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
Einen langen Nachmittag …"
Ob Trakl damals schon geahnt hatte, welche Tragödie sich viele Jahre später im vierten Stock ereignen sollte? Diese furchtbare Stille an jenem Nachmittag vor sieben Jahren war Christiane noch deutlich in Erinnerung.
Es war ein eigenwilliges Haus, in dem sie wohnte. Anfang 1912 war es als Hotel im ländlichen Stil eröffnet worden. Über der einzigen Auslage der Buchhandlung war noch der schnörkelige Schriftzug „Weidmannsheil" zu lesen. Das Gebäude konnte schon damals nicht in diese Straße gepasst haben, die heute den Autoverkehr mehrspurig in die Innenstadt führte. Das Haus war schmal und hoch, jede Partei bewohnte eine eigene Etage, aber die Wohnungen waren nicht besonders groß. Es gab – sie eingeschlossen – fünf Eigentümer und Frau Wolf, die seit einigen Jahren die Buchhandlung im Erdgeschoss betrieb.
Lange Zeit war das Gebäude als Studentenwohnheim geführt worden, dass es zuvor auch ein Stundenhotel gewesen war, wussten nicht sehr viele. Sie war auch nur durch Zufall darauf gestoßen, bei ihrer Recherche im Bezirksmuseum Margareten. Vor Frau Wolf hatte es hier noch andere Gewerbetreibende gegeben. Vierzig Jahre lang konnte man im Erdgeschoss ein plüschiges Programmkino besuchen, danach jahrelang in einer Diskothek abtanzen, vorübergehend in einem Billigmarkt einkaufen und zum Schluss in einem jugoslawischen Boxclub trainieren.
Christiane öffnete die Eingangstür und betrat das Foyer. Hier hing ein Foto der ehemaligen Jugendboxmannschaft, allerdings etwas schief. Sie rückte es gerade. Durch die Glastür konnte sie in den kleinen Innenhof sehen. Einmal im Jahr traf man sich dort, um das Hausfest zu feiern, ein paar Tage noch, dann war es soweit. Der Wetterdienst hatte ein Hoch angekündigt, aber im Monat April konnte man nie sicher sein …
Christiane hatte die Einladungen vom Copyshop geholt, um sie zu verteilen. Sie nahm eine für Frau Wolf aus der Tasche und steckte sie in deren Postfach. Die Buchhandlung öffnete erst um zehn Uhr. Christiane musste an die Speisen denken, die Frau Wolf in den vergangenen Jahren zum Fest mitgebracht hatte. Wenigstens ernährte sie sich seit einem Jahr nicht mehr vegan. Es war aber auch ein Spaß gewesen, das Essen von Frau Wolf zu bekritteln: ihre staubtrockenen Bröselkuchen, die sich bei der ersten Berührung pulverisierten; ihr Boeuf Stroganoff aus Fleischersatz, das wie Styropor quietschte, wenn man es zwischen den Zähnen zermalmte; ihre Vegiwürstchen, die man auf einen eigenen Griller zu legen hatte, damit sie mit den Bratwürsten und Koteletts der anderen nicht in Berührung kamen.
Christiane stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf. Es war so still im Haus, dass sie das Gefühl hatte, alleine auf der Welt zu sein. Das Gebäude war leider zu schmal, um nachträglich noch einen Lift einzubauen, und ihr Atem ging etwas schneller, wie immer, wenn sie die Stufen hinauf- oder hinunterlief.
Im ersten Stock wohnte Frau Bäumer, die um diese Zeit noch schlief. Christiane warf die Einladung durch den Türschlitz. Frau Bäumer war seit zwanzig Jahren verwitwet. Als junge Frau war sie eine hübsche Ballerina gewesen, noch heute ließen sie ihre modische Garderobe und ihre perfekte Frisur weit jünger erscheinen, als sie tatsächlich war.
Christiane stieg die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Hier wohnte sie selbst. Sie war Schriftstellerin, leider keine sehr erfolgreiche. Ihre Eltern hatten ihr etwas Geld hinterlassen, damit bestritt sie ihre täglichen Ausgaben, nahm immer wieder Nebenjobs an. Wenn sie darüber nachdachte, war es früher auch nicht besser gewesen. Warum war sie nur so lange bei ihrem depressiven Mann, einem glücklosen Baumeister, geblieben? Schlussendlich war er gegangen und hatte ihr die Wohnung überlassen.
Christiane ging weiter in den dritten Stock hinauf. Hier lebte Familie Hartmann. Er war Abteilungsleiter in einem internationalen Pharmakonzern, seine Frau arbeitete in derselben Firma als Sekretärin. Langweilige Menschen, stets auf Distanz, nahmen nie am Hausfest teil, bis auf ihren Sohn Sebastian, der mit seinen neunzehn Jahren der jüngste Hausbewohner war. Christiane schrieb Sebastians Namen auf die Einladung und warf sie durch den Türschlitz. Sie hatte keine Lust zu klingeln und eventuell auf das Ehepaar Hartmann zu treffen. Sebastian war um diese Zeit bereits in der Schule. Er wiederholte die letzte Klasse der Handelsakademie und mittlerweile zweifelte jeder im Haus daran, ob er diese jemals mit Matura abschließen würde. Ihm selbst schien das egal zu sein. Er engagierte sich in sozialen Projekten, wusste aber nicht, was er später einmal beruflich machen wollte.
Im vierten Stock angekommen, legte Christiane die Einladung auf den Fußabstreifer. Der Türschlitz war seit Jahren zugeklebt. Hier wohnten Selma und Sofia, zwei junge Studentinnen. Selma schlief höchstwahrscheinlich noch, Sofia war wohl bereits auf dem Weg zur Uni. Selmas Mutter Katharina war Christianes beste Freundin gewesen. Sie hatten in einer Bäckerei gearbeitet, waren ein eingespieltes Team gewesen, das sich gegenseitig Halt gab, wenn es zu Hause wieder einmal krachte. Selma war ein schwieriges Kind gewesen. Katharina, als Alleinerzieherin, war nie gut mit ihr zurechtgekommen, und Christiane hatte regelmäßig als Ersatzmutter einspringen müssen. Der Aufdruck „My home is my castle" auf dem alten Fußabstreifer war beinahe nicht mehr zu lesen. Christiane hatte diese Matte vor Jahren gekauft und sie Katharina geschenkt. Nachdem Selma mit vierzehn ihren ersten Nervenzusammenbruch hatte, wurde sie lange Zeit psychiatrisch betreut. Als endlich der Eindruck entstand, Selma wäre wieder gesund, passierte das Unglück mit ihrer Mutter. Katharina sprang aus dem Küchenfenster im vierten Stock. Sie könne ihr Leben nicht mehr länger ertragen, die finanziellen Schwierigkeiten und die Sorgen um ihre kranke Tochter seien ihr über den Kopf gewachsen, so hatte sie es zumindest auf den Küchenblock gekritzelt.
Am Tag nach Katharinas Begräbnis verabschiedete sich Christianes Mann aus ihrem Leben. Roberts jahrelanger Alkoholkonsum hatte sein Wesen so stark verändert, dass ein Zusammenleben mit ihm unerträglich geworden war – nicht nur für Christiane. Niemand im Haus fragte jemals wieder nach ihm, was auch nicht verwunderlich war, vor allem nach dem Skandal mit