Von der Kindheit bis zum Mauerfall: Roman
By Melissa May
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Von der Kindheit bis zum Mauerfall - Melissa May
Von der Kindheit
bis zum Mauerfall
Melissa May
Roman
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Alle Namen sind geändert worden.
Eventuelle Namensgleichheiten sind zufällig.
www.net-verlag.de
Erste Auflage 2014
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
© net-Verlag, 39517 Tangerhütte
© Coverbild: Jenny Schneider
Covergestaltung: net-Verlag
Lektorat: Miriam Steinröhder
ISBN 978 - 3-944284 - 82-8
Dieses Buch widme ich allen ehemaligen
DDR-Bürgern
, die den Zerfall dieses Landes selbst miterlebt haben und deren heile Welt auch zerbrochen ist.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Der Schulwechsel
Zerplatzte Berufsträume
Markolf und das Stasi-Verhör
Ost-West-Treffen in der Tschechei
Berufs- und Studienwahl in der DDR
Vom Kinderferienlager zur Erdbeerernte
Das Studium in Leipzig
Einblick in die Arbeitswelt
Ausbildung zur Finanzkauffrau
Silvester 1987
Geheimnisvoller Besuch
Eine »anspruchsvolle Tätigkeit«
Maresas Strohwitwenzeit
Aufrührerische Aktivitäten
Die Wende
Über die Autorin
Buchempfehlungen
Der Schulwechsel
Schönes, sonniges Wetter unterstrich den schicksalsreichen Maitag des Jahres 1976, der für ein kleines Mädchen namens Maresa zur Lebensweiche, zum bestimmenden Moment seiner weiteren Entwicklung ernannt wurde, da an diesem Tage seine Eltern ein entscheidendes Gespräch mit der Lehrerin, Frau Helbe, führten.
Maresa besuchte gerade die zweite Klasse einer ganz normalen Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule in Karl-Marx-Stadt. Das Lernen fiel ihr leicht, was sich auch am Notendurchschnitt widerspiegelte: Sie hatte fast alles Einsen auf ihrem Zeugnis.
Maresa war ein kleines Mädchen, das noch nicht ahnte, in welchem Land es lebte und unter welchen Strukturen: Maresa hatte noch eine heile Welt vor Augen wie alle Kinder dieses Alters der damaligen Zeit.
Politik ist auch etwas, was Kinder nicht verstehen. Wozu auch? Sie haben ihre Familie, Freunde; die Schule ist auch selbstverständlich. Ihnen will keiner etwas tun, und die Gedanken der Erwachsenen können sie (zum Glück!) nicht lesen.
Und nun war das Mädchen von Frau Helbe dazu auserkoren worden, ab der dritten Klasse eine Schule mit erweitertem Russischunterricht zu besuchen. Das war eine enorme Auszeichnung für Maresa, da nur die Besten aus der ganzen Stadt dafür in Betracht gezogen und zu einer Klasse zusammengefasst wurden.
Maresa war äußerlich ein eher unscheinbares Mädchen mit glatten, braunen Haaren und musste seit Beginn der ersten Klasse eine Brille tragen, was sie mit sichtbarem Stolz erfüllte. Eine Brille war etwas, das nicht jeder hatte. So dachte Maresa zumindest. Und es war etwas, das sie sich eigenartigerweise gewünscht hatte. Also kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nur etwas ganz sehr zu wünschen brauchte, und es ginge dann auch irgendwann einmal in Erfüllung. Wie in einem Märchen. Und Kinder leben nun einmal in einer eigenen Welt, manchmal eben in einer Traumwelt.
Im jetzigen Klassenteam – oder wie man das damals eher gesagt hätte: im Klassenkollektiv – hatte sich Maresa sehr gut eingefügt, war unter ihren Mitschülern sehr beliebt und stand oft im Mittelpunkt des Geschehens, was ihr sehr behagte.
Ihre Cousine Elenor, welche einige Monate jünger war als Maresa, war ebenfalls in ihrer Klasse. Elenor war ein niedliches, kleines Mädchen mit listigen Gesichtszügen. Maresa beneidete sie manchmal wegen ihres Aussehens und wollte, wenn sie einmal groß wäre, schöner und klüger sein als Elenor oder andere.
Doch beide waren gut miteinander befreundet und heckten so allerlei Sachen gemeinsam aus. Wie zum Beispiel einmal, als Elenor einen Eintrag ins Hausaufgabenheft bekommen hatte, und Maresa, um ihr zu helfen, die Unterschrift von ihrem Onkel gefälscht hatte, weil sie der Meinung war, es würde nicht auffallen. Diese schlimme Tat war natürlich aufgeflogen, was zur Folge hatte, dass sich Maresa geschworen hatte, nie wieder etwas Unrechtes zu tun. Sie hatte schließlich ihrer Cousine nur helfen wollen und war dadurch selbst in Schwierigkeiten geraten.
Da beide, Maresa und Elenor, unzertrennlich waren, schlug die Lehrerin natürlich vor, Elenor ebenfalls auf die Russischschule (wie sie im Volksmunde genannt wurde) zu schicken. Deren Eltern waren natürlich begeistert von dieser Tatsache, wogegen Maresas Eltern Zweifel hegten, ob das denn eine gute Entscheidung wäre. Es ging hauptsächlich um den weiten Schulweg, den die Kinder dann täglich zu bewältigen hätten. Diese Spezialschule war nämlich am anderen Ende der Stadt.
Weil Elenor aber nur gleichzeitig mit Maresa die Schule wechseln konnte, weil sie im Notendurchschnitt etwas schlechter war, setzten sich Elenors Eltern für ihre Tochter ein und überredeten Maresas Eltern, dem Schulwechsel im Interesse ihrer beider Kinder zuzustimmen.
Und jetzt war es so weit: Die zwei Elternpaare saßen zusammen mit Frau Helbe, der netten Lehrerin, und besprachen alle Einzelheiten, die mit einem Schulwechsel auf sie zukamen.
Am letzten Schultag, es war Ende Juni im Jahre 1976, versammelten sich alle Schüler und Lehrer zu einem Abschlussappell auf dem Schulhof, wo unter anderem auch Maresa und Elenor offiziell verabschiedet wurden. Übrigens war ein Appell in der damaligen Zeit ein wöchentliches Muss. Dazu versammelten sich alle Schüler der Schule – von klein bis groß – auf dem Schulhof und hörten sich die Neuigkeiten und Anweisungen des Direktors und anderer Lehrer an. Traditionell in weißen Blusen und dunkelblauen Röcken oder Hosen marschierten die Jungpioniere in Dreierreihen im Gleichschritt auf. Die blauen Halstücher, im Pionierknoten gebunden (Das war eine spezielle Bindeweise; eine andere war nicht erlaubt!), wehten im lauen Frühsommerwind.
Die größeren Klassen, ab dem vierten Schuljahr, durften sich bereits rote Tücher um den Hals binden und sich Thälmann-Pioniere nennen. Jeder Schüler am Ende der dritten Klasse war froh, dass er ab dem nächsten Schuljahr nicht mehr das blaue Tuch tragen musste, das die Kleinen auszeichnete. Als Thälmann-Pionier gehörte man schließlich schon zu den Senioren unter den Pionieren. Am Anfang machte es immer Spaß zu demonstrieren, dass man zu den Größeren gehörte. Doch schon einige Zeit später wurden die roten Fetzen nur noch zu den Pflichtveranstaltungen umgebunden. Ansonsten wurden sie ganz unsanft in den Schultaschen deponiert. Es war nicht mehr in, diese Dinger offen zur Schau zu stellen.
Ganz anders sah es dann schon wieder aus, wenn man in die achte Klasse kam. Das weiße Hemd oder die weiße Bluse, die die Schüler seit der ersten Klasse begleitet hatten, waren nun tabu. Endlich weg mit diesen hässlichen, schmutzanfälligen Uniformen! Immerhin gehörte man jetzt der Freien Deutschen Jugend an. Das war doch was! Ganz stolz präsentierten die Jugendlichen der achten Klassen ihren neuen Ausweis, der sie als Jugendliche deklarierte. Doch wie zuvor mit den roten Halstüchern bekam man auch diese Art der gezwungenen Aufmachung, der allgemeinen Angleichung und der Demonstration des Sozialismus satt. Fanden Veranstaltungen statt, wo die dunkelblaue Uniform Pflicht war, kam man morgens im
T-Shirt
zur Schule und holte dann am Nachmittag die inzwischen zerknitterte Uniform aus der Schultasche, um zumindest bei der angesetzten Veranstaltung nicht negativ aufzufallen.
So funktionierte die offizielle Darstellung des sozialistischen Staates. Keiner stand dazu, und doch getraute sich fast keiner, generell gegen den Sozialismus mit seinen Traditionen anzugehen. Nur vereinzelte Schüler – bei Maresa war es einer in ihrer Klasse – wurden von ihren Eltern von dieser Pflicht befreit. Diejenigen, die so rigoros ihre Einstellung kundtaten, waren meist offizielle Anhänger der Kirche oder Ausreisewillige, denen die Konsequenzen sowieso egal waren.
Das Thema Kirche war für Maresa auch so eine unliebsame Angelegenheit. Von Haus aus war sie katholisch. Das heißt eigentlich, dass ihre Großeltern noch richtig gläubig waren und regelmäßig in die Kirche gingen. Die Eltern Maresas gingen bloß noch zu Weihnachten und zu Ostern zur Kirche, nur um der Tradition willen.
Maresa wurde in der sozialistischen Epoche groß, wo die Kirche in den Schulen verpönt war, und diejenigen, die gläubig waren, von den Mitschülern gehänselt wurden. Maresa glaubte auch nicht an das, was in der Kirche gepredigt wurde. In eben diesen Zwiespalt geriet Maresa, da ihre Großmutter darauf gepocht hatte, dass Maresa den Religionsunterricht besuchen sollte, der direkt von den Kirchen veranstaltet wurde. Sie konnte die zwei verschiedenen Meinungen, welche sie zu hören bekam, nicht miteinander vereinbaren: Die Kirche predigte das eine, im Unterricht wurden den Kindern völlig entgegengesetzte Ansichten eingetrichtert. Diese Tatsache machte Maresa ziemlich zu schaffen. Daher konnte sie sich aus Gewissensgründen nicht zweiteilen und entschied sich für die Philosophie der Schule; mit den kirchlichen Ansichten konnte sie sich nicht identifizieren. Die Schule trug aber auch genügend dazu bei, die Kinder von den eigenen Ansichten zu überzeugen.
Es begann damit, dass Maresa nicht mehr zum Religionsunterricht ging, der nur nachmittags in der Kirche stattfand. Ihrer Oma gegenüber erwähnte sie das zunächst nicht, da sie sich den Auseinandersetzungen nicht stellen wollte. Sie wollte einfach nicht mehr in die Kirche gehen! Bereits nach ihrer Erstkommunion nicht. Erst danach fühlte sie sich wieder wohl und erleichtert. Kirche – nein, danke! Das war einfach nichts für sie. Der Sozialismus hatte gewonnen.
Elenor, Maresas Cousine, war da anders. Ihr machte es in der Kirche Spaß, sie ging darin auf und besuchte ihren Unterricht regelmäßig weiter. Maresa konnte das nicht verstehen, wie man gleichzeitig die antikirchliche, sozialistische Meinung in der Schule und die antisozialistische Meinung in der Kirche vertreten konnte. Doch Elenor machte das, wie gesagt, nichts aus. Sie war das Sprachrohr beider Weltanschauungen und konnte das anscheinend besser als Maresa miteinander verbinden.
Anfang des neuen Schuljahres wechselten die beiden Mädchen dann wie geplant auf die neue Schule. Es war für Maresa damals ein einmaliges Ereignis, eine unter wenigen zu sein, die diese Schule besuchen durften.
Es war zunächst alles ganz aufregend. Doch eines änderte sich vom ersten Schultag an in der neuen Schule: Maresa war nicht mehr herausragend und die Beste.
Für Elenor war alles noch schlimmer. Sie zog mit ihren Eltern zu dieser Zeit in das Neubaugebiet Fritz Heckert, das ziemlich außerhalb gelegen war, und musste jeden Morgen mit dem Bus eine lange Strecke bis ins Stadtzentrum fahren, um da noch einmal in die Straßenbahn umzusteigen, welche sie dann endgültig zur Schule brachte. Dabei passierte es ihr immer öfter, dass sie während der Busfahrt einschlief und so die Haltestelle verpasste, an der sie aussteigen musste.
An der Bushaltestelle im Stadtzentrum, wo sich alle Kinder morgens immer trafen, begannen auch die Hänseleien gegenüber Elenor. Kinder können grausam sein, besonders, wenn sie sich aufgrund ihrer Herkunft für etwas Besseres halten. Bereits da machten sich die Klassenunterschiede bemerkbar. Elenors Eltern gehörten der Arbeiterklasse an, und dafür wurde Elenor bestraft.
Für Elenor war die Umstellung auf diese neue Schule einfach nicht zu bewältigen. Sie verschlechterte sich zusehends in fast allen Fächern, sodass ihre Eltern bereits nach der dritten Klasse erwogen, sie wieder in eine normale Schule unweit von ihrem neuen Wohnort zu schicken. Das setzten sie dann auch durch, obwohl es gar nicht so einfach war, da die Lehrer der Schule mit erweitertem Russischunterricht solche Vorgänge nicht gewohnt waren und nicht sofort ihre Zustimmung gaben.
Auch Maresa bekam Komplexe und Hemmungen in ihrer neuen Klasse, wurde zurückhaltender, wenn sie sah, was die anderen für einen Lerneifer an den Tag legten und wie schnell sie alles begriffen. Maresa erhielt bei dem immer schwieriger werdenden Lehrstoff und dem schneller werdenden Tempo dabei den eindeutigen Beweis dafür, dass viele ihrer Mitschüler einfach genial waren. Und sie selbst fand sich auf einmal so richtig mittelmäßig. Maresa landete im Notendurchschnitt mehr im hinteren Mittelfeld, was an und für sich immer noch eine gute Leistung war, denn ihr Notendurchschnitt lag immer bei Gut, auch wenn das Gut langsam zum Befriedigend tendierte. Doch in dieser Klasse war Gut eben nicht gut genug!
Es war einerseits eine positive Sache, dass Maresa in solch einer Schule lernen durfte, da sie das Gefühl hatte, mit den Besten mithalten zu müssen, und sich während ihrer ganzen, weiteren Schulzeit enorm anstrengte, um mit dem ziemlich schnellen Lerntempo