Wolfsmänner: Zur Geschichte einer schwierigen Figur
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About this ebook
Der Band ist für Literaturwissenschaftler ebenso interessant wie für Medien- und Filmwissenschaftler, darüber hinaus aber auch für ein breiteres Publikum lesenswert.
Achim Geisenhanslüke
Achim Geisenhanslüke, geb. 1965, lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur vom 17.-21. Jahrhundert.
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Wolfsmänner - Achim Geisenhanslüke
I.Das Märchen vom bösen Wolf
1.DER BÖSE WOLF IM MÄRCHEN
Dem Wolf ergeht es im Märchen schlecht. Ihm wird der Bauch aufgeschnitten, er wird ertränkt, erschlagen und auf alle erdenkliche Art und Weise malträtiert. Gerade in der extrem vereinfachten Form des Märchens, das sich v.a. durch Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit und abstrakten Stil auszeichnet,¹ kann der Wolf – in ähnlicher Weise wie seine weiblichen Pendants die Hexe oder die böse Stiefmutter – gar nicht anders denn als Stereotyp erscheinen. Seine hervorstechenden Eigenschaften sind seine Gier und seine Dummheit. Der Wolf ist immer gefräßig, ein wahrer Nimmersatt, der nie zufrieden ist mit dem, was er hat. Seine Gier aber wird ihm stets zum Verhängnis: ein vollgefressener Wolf, so die Moral der Geschichte, lässt sich leichter erschlagen als ein hungriger. Zahllose Märchen können als Beispiel für die Geschichte des tumben verfressenen Wolfes dienen, der am Ende doch ausgetrickst wird. Seine Reinform stellt vielleicht das Märchen Der Wolf und die sieben jungen Geißlein dar, die Geschichte der armen Mutter, die ihre Kinder an den Wolf verliert und dann durch die eigene Tatkraft wiedergewinnt: »Eine Geiß hatte sieben junge Geißlein, die sie mütterlich liebte, und sorgfältig vor dem Wolf hütete«², so lautet der erste Satz des Märchens, das von Anfang an eine räumliche Konstellation aufbaut, derzufolge ein häuslich und mütterlich besetzter Raum gegen den männlichen Eindringling beschützt werden muss, den der Wolf repräsentiert. Die Geschichte entfaltet sich so als Bedrohung und schließlich Eroberung des mütterlichen Schutzraumes durch den männlichen Aggressor. Die Haustür dient weniger als Schwelle denn als Grenze, die das Innen eindeutig vom Außen trennt: Das Märchen präsentiert einen scheinbar in sich geschlossenen Innenraum, der sich durch das mütterliche Verbot konstituiert, den Wolf hineinzulassen. Ausgeschlossen wird der Wolf aus diesem Innenraum in seiner Funktion als räuberischer Eindringling. Das Märchen übersetzt eine aus der Realität als Bedrohung bekannte Situation – der Wolf, der eine Herde angreift und es vor allem auf die schwächeren Tiere, in diesem Fall die Kinder, absieht – in eine Szene, die sich vor dem Auge des Lesers abspielt. Auf dieser symbolischen Ebene lässt sich ein Szenario der Bedrohung durchspielen, das zunächst vom Erfolg des Wolfes und dann von seinem verdienten Ende berichten kann.
Wenn das Bild des Wolfes das eines Räubers ist, dann ist es wesentlich von Bildern der Gewalt bestimmt. Das Märchen verlagert die Gewalt, die vom räuberischen Tier ausgeht, in den Bereich der List. Was die Handlung bestimmt, ist eine Abfolge von Stratagemen der List, die aufeinander folgen: Die List der Kinder, die sich vom Wolf nicht hereinlegen lassen wollen, die List des Wolfes, der sich mit der Hilfe von Krämer, Bäcker und Müller dem Anschein nach in die Mutter verwandelt, schließlich die List der zurückgekehrten Mutter, die ihn endgültig besiegt, indem sie die Kinder befreit und seinen Bauch mit Wackersteinen beschwert. Das ist um so überraschender, als es »einen entscheidenden Grundzug unserer Kultur gibt, der nicht nur ›listenblind‹, sondern zumindest ›listenskeptisch‹, im Grund aber ›listenfeindlich‹ ist«³, wie Ute Guzzoni herausgearbeitet hat. Während andere Kulturen die List oft positiv besetzt haben, neigt die abendländisch-christliche Tradition der Aufrichtigkeit dazu, die List als Trug, Täuschung, Hinterlist und Niederträchtigkeit zu verteufeln. Dass in der Konfrontation des Wolfes und der Geißlein dennoch zunächst die List und nicht die Gewalt aufgerufen wird, zeigt, dass es im Märchen nicht nur um den Wolf als Natur-, sondern zugleich als Kulturwesen geht, dem menschliche Eigenschaften zugesprochen werden, damit er um so sicherer von diesen in Schach gehalten werden kann.
Der Erfolg seiner dreifachen List kann daher nicht dauerhaft sein. Die Kinder verwehren ihm zunächst erfolgreich den Zugang in das Haus. Einmal mit dem Eindringling konfrontiert, verstecken sie sich mit der Ausnahme des Jüngsten jedoch vergeblich: »Aber der Wolf fand sie alle, und verschluckte sie, außer das jüngste in der Wanduhr, das blieb am Leben.«⁴ Der Schutzraum des Hauses wird im Falle des jüngsten Geißleins, in seiner mythischen Funktion als Jüngstes der Mutter am nächsten, um einen weiteren Innenraum erweitert, den der Wanduhr, in der sich das Kind versteckt. Das Haus erscheint so als Folge in sich gefalteter Innenräume, die vor dem Eingriff von außen schützen. Umgekehrt aber ist die Aufnahme durch den Wolf, der die Geißlein verschluckt, wiederum als ein Innenraum gezeichnet, ein nicht mütterlich, sondern männlich bzw. väterlich besetzter Innenraum, der die sechs Kinder aufnimmt. Im Unterschied zum Schutzraum des Hauses erscheint dieser Raum in der Form eines »dunkeln Gefängnis«⁵, in das die Kinder eingesperrt werden. Die eigentümliche Raumstruktur des Märchens stellt somit in einer einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung einen positiv besetzten mütterlichen Schutzraum einem negativ besetzten männlichen Raum entgegen, der über die Geschlechterverteilung und Familienaufstellung zugleich einen ersten Aufschluss über das Phantasma gibt, das dem Mythos des Wolfes im Märchen zugrundeliegt: Es handelt sich offenkundig um eine Form der verbotenen Inkorporation (in diesem Fall zwecks Nahrungsaufnahme), für die derjenige, der sich ihr anheimgibt, bestraft werden muss. Die Sanktion, die das Märchen ausspricht, richtet sich gegen eine männliche Figur, die mit dem Bild des in der Familie zunächst fehlenden Vaters verschmilzt und die sich schuldig gemacht hat, etwas zu verschlingen, was ihm nicht zusteht. Die Bestrafung folgt daher auf den