Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Gerichtsdolmetschen: Grundwissen und -fertigkeiten
Gerichtsdolmetschen: Grundwissen und -fertigkeiten
Gerichtsdolmetschen: Grundwissen und -fertigkeiten
Ebook417 pages6 hours

Gerichtsdolmetschen: Grundwissen und -fertigkeiten

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Die anspruchsvolle Tätigkeit als ÜbersetzerIn und DolmetscherIn an Gerichten und Behörden erfordert neben hervorragenden Sprachkenntnissen auch juristisches Know-how sowie Erfahrung in den verschiedenen Dolmetsch-Techniken. Dieses Studienbuch vermittelt sowohl die unterschiedlichen translatorischen Kompetenzen als auch das nötige juristische Grundlagenwissen über Zivil- und Strafverfahren, die für das Gerichtsdolmetschen und -übersetzen notwendig sind. Damit bereitet es zuverlässig auf die Zulassung für die Beeidigung bzw. Vereidigung als GerichtsdolmetscherIn vor und ist zum Selbststudium sowie als Unterrichtsgrundlage für entsprechende Lehrgänge bestens geeignet.
Die zweite Auflage wurde gründlich überarbeitet. Berücksichtigt werden darin insbesondere die neuen EU-Richtlinien 2010/64 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und 2012/29 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten.

Pressestimmen:
"This book, while focused on German court cases, provides ideal support for any kind of practical training for interpreters" (Target 26/1 2014).
"Der Ladenpreis ist für die Fülle an wertvollem Inhalt so bescheiden, dass man jedem Kandidaten für die Zulassung als Gerichtsdolmetscher nur empfehlen kann, das Buch zu erwerben" (EULITA-Homepage).
LanguageDeutsch
Release dateJan 15, 2018
ISBN9783823300472
Gerichtsdolmetschen: Grundwissen und -fertigkeiten

Related to Gerichtsdolmetschen

Related ebooks

Literary Criticism For You

View More

Related articles

Reviews for Gerichtsdolmetschen

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Gerichtsdolmetschen - Christiane Driesen

    Vorwort zur zweiten Auflage

    ¹

    Seit der letzten Auflage dieses Studienbuchs im Jahr 2011 hat sich im Bereich des juristischen Dolmetschens und Übersetzens vieles zum Positiven hinbewegt. Zahlreiche Jahre Überzeugungsarbeit durch engagierte Fachkenner aus Universitäten und Berufsverbänden sowie durch aufgeschlossene EU-Vertreter haben die Verabschiedung wichtiger Richtlinien ermöglicht, die sich hinsichtlich der erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen der Translationsberufe bereits entscheidend ausgewirkt haben.²

    Am 30. November 2009 nahm der Rat der Europäischen Union eine Entschließung zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren an³, woraus sich für die Translationsberufe wichtige Richtlinien ergaben:

    Die RICHTLINIE 2010/64/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und die darauf bezugnehmende RICHTLINIE 2012/13/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren.

    Im Rahmen des sogenannten Budapest-Fahrplans⁴ bestimmte der Rat der Europäischen Union ferner die Notwendigkeit Opfern einen höheren Schutz zu gewähren und empfahl die Verabschiedung der neuen

    RICHTLINIE 2012/29/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI.

    Letztere birgt eine noch größere Herausforderung an die juristischen Dolmetscher, die für traumatisierte Menschen, insbesondere Kinder und Frauen, dolmetschen müssen, was eine bestimmte Qualifikation voraussetzt.

    Wie in der Präambel (7) der Richtlinie 2010/64 wird folgende Absicht überall betont:

    Die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens erfordert eine kohärentere Umsetzung der in Artikel 6 EMRK⁵ verankerten Rechte und Garantien. Sie erfordert ferner eine Weiterentwicklung der in der EMRK und der Charta verankerten Mindestvorschriften innerhalb der Union durch diese Richtlinie und andere Maßnahmen.

    Diese in den meisten EU-Mitgliedstaaten⁶ nun umgesetzten Richtlinien präzisieren die Aufgaben der juristischen Translationsberufe etwas besser. Sie betonen die Wichtigkeit der Qualität, die nun ausdrücklich hinterfragt⁷ werden kann. Einige vom Dolmetscher⁸ und Übersetzer in den Richtlinien erwartete Leistungen, wie Vom-Blatt-Übersetzen, Fern- bzw. Videodolmetschen und der Umgang mit traumatisierten Personen, werden ausdrücklich angesprochen, während die Beherrschung anderer Fertigkeiten wie Konsekutiv- und Simultan Dolmetschen, der Umgang mit Fachtermini und juristisches Übersetzen dagegen nur als logische Folgen der gestellten Anforderungen abgeleitet werden können. Alle setzen eine Ausbildung, in welcher Form auch immer (Regelstudium oder Weiterbildung), voraus.

    Problemanalysen und Lösungsansätze dieser EU-Richtlinien wurden und werden im Rahmen von von der EU-Kommission geförderten Projekten angeboten, deren Berichte online frei zugänglich sind⁹.

    Dieses Studienbuch steht in vollem Einklang mit den neu präzisierten Ansprüchen und setzt sich nach wie vor zum Ziel eine praktische und progressive Vorbereitungshilfe zur Erlangung der Vereidigung- bzw. Beeidigung von Dolmetschern und Übersetzern primär bei deutschen Gerichten anzubieten.

    Christiane J. Driesen, Haimo-Andreas Petersen, Werner Rühl im Januar 2018.

    Zur Verwendung dieses Studienbuchs

    In der ersten Auflage wurde die Problematik der wenig verbreiteten Sprachen nicht genügend hervorgehoben, da die Autoren diese durch Anwendung der Tandem-Dolmetschlehre¹ einigermaßen überwinden. Diese Lehrmethode wurde im Rahmen der Weiterbildungen der Universität Hamburg² und der Hochschule Magdeburg-Stendal seit vielen Jahren mit einigem Erfolg für etwa 35 Sprachen erprobt. Mit Hinblick auf die aktuellen politischen Entwicklungen (besonders der Flüchtlingskrise) soll sie nun verstärkt in den Vordergrund rücken. Dem demokratischen Anspruch auf ein faires Verfahren sollte trotz des Mangels an Dolmetschern und Übersetzern für in Deutschland bzw. in Europa wenig verbreitete Sprachen entsprochen werden.

    Hauptziele

    Ziel dieses Studienbuchs ist es sowohl allein Übende als auch Teilnehmer eines Weiterbildungsprogramms bei der Vorbereitung auf die Zulassung für die Beeidigung bzw. Vereidigung zu begleiten. Es ist in Kompetenzmodule unterteilt, die zuerst die Notwendigkeit und Anwendung der jeweiligen Kompetenz vorstellen und rechtfertigen und anschließend entsprechende Übungen vorschlagen. Diese Übungen sind sowohl als Übungen für den Einzelnen als auch für die Gruppe oder als Anregungen für die Dozenten im Rahmen von Weiterbildungsmaßnahmen konzipiert. Kriterien für die Selbstbewertung, Gruppenbewertung und Bewertung durch Dozenten werden jeweils angegeben.

    Angestrebt wird das Erlernen einer effizienten Arbeitsmethode, die mit Hilfe der vorgeschlagenen Übungen weiterentwickelt werden soll. Lediglich die korrekte Anwendung der methodologischen Schritte ist für den Einstieg relevant. Aus methodologischen Gründen werden daher keine einzelnen Übungslösungen angegeben.

    Dagegen wird dem Benutzer nahe gelegt äquivalente Beispiele selbst zu sammeln und zu bearbeiten.

    Voraussetzungen für eine sinnvolle Benutzung

    Zur sinnvollen Benutzung dieses Studienbuchs müssen die Lernenden zuerst zwei Sprachen gründlich beherrschen, das heißt: eine Sprache auf Muttersprachniveau und eine Arbeitssprache auf C-2-, eventuell C-1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (also mit Beherrschung aller Sprachregister, von der Umgangssprache bis zur akademischen Sprache). Da das Recherchieren die Grundlage des juristischen Übersetzens und Dolmetschens darstellt, sind Erfahrungen mit wissenschaftlichem Arbeiten unverzichtbar.

    Struktur des Studienbuchs

    Das Studienbuch besteht in seinem ersten Teil aus einzelnen translationswissenschaftlichen Modulen, die jeweils zum Erwerb einer bestimmten für das Gerichtsdolmetschen und -übersetzen notwendigen Kompetenz führen.

    Module der Translationstechniken

    Nach einer kurzen Vorstellung der jeweiligen Kompetenz bzw. Technik wird ihre Notwendigkeit beim Gerichtsdolmetschen begründet. Darauf folgen jeweils Übungen zum Erwerb dieser Kompetenz. Folgende Rubriken werden als Leitfaden für die Auswahl der Übungstypen angegeben:

    Übungszweck: Angesprochene Kompetenz

    Material: Aufnahmegerät, Bilder, Presse, Podcast, Videocast, Urkunden und juristische Texte

    Setting: allein, Gruppenübung, Übung mit Dozent

    Beschreibung der Übung

    Bewertungskriterien (Rhetorik, Vollständigkeit, Fachbegriffe)

    einsprachige bzw. zweisprachige Übungen, Tandem-Lehrmethode

    Schließlich werden die erworbenen Fertigkeiten bzw. Kompetenzen festgehalten. Ferner werden Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung für Dozenten angeboten.

    Der zweite Teil vermittelt juristisches Grundlagenwissen über das Zivil- und das Strafverfahren.

    Zur juristischen Kompetenz der Übersetzer und Dolmetscher

    Das vorliegende Studienbuch hat sich nicht zum Ziel gesetzt, Juristen auszubilden. Vielmehr soll dem Leser ein Überblick über die Verfahren vor den Gerichten gegeben werden, um ihn hierdurch in die Lage zu versetzen, Sachzusammenhänge zu erkennen und sich im prozessualen Verfahren zu orientieren.

    Weder wird eine Paragraphenkenntnis erwartet noch gar das Auswendiglernen einzelner Vorschriften angestrebt. Hierfür gibt es Gesetzessammlungen, aus denen bei Bedarf Gesetzesstexte abgerufen werden können. Inwieweit man eine Textausgabe der einzelnen Verfahrensvorschriften zur Hand hat, mag jedem selbst überlassen bleiben. Von Nachteil ist dies sicher nicht, insbesondere wenn man sich z.B. in einer Hauptverhandlung schnell orientieren möchte. Mittlerweile bietet auch das Internet vielfältige Möglichkeiten, zuverlässig auf die aktuellste Version eines Gesetzestextes zurückzugreifen.

    Erlernt werden soll vielmehr Wissen, das für den Dolmetscher unentbehrlich ist, sowohl für die Vorbereitung eines Verfahrens als auch für dessen Begleitung: Die Kenntnis über den Gang eines Gerichtsprozesses, dessen Beteiligte und deren Rechte und Pflichten ermöglicht dem Dolmetscher, sich zu orientieren und sein Handeln vorausschauend zu planen. Das Wissen um Begrifflichkeiten und Fachtermini in einzelnen Verfahrensabschnitten erleichtert die Arbeit und gibt zudem Sicherheit vor unerwarteten Wendungen des Verfahrens.

    Teil I Translationswissenschaftliche Grundlagen

    1 Einleitung

    1.1 Menschenrechte und Eignungsfeststellung der Gerichtsdolmetscher

    Die Nürnberger Prozesse setzten die Maßstäbe¹ für den modernen Dolmetscherberuf, insbesondere für das Dolmetschen an internationalen Gerichten und Gerichtshöfen. Diese Maßstäbe betrafen insbesondere die Eignungsfeststellung der Dolmetscher, die Vollständigkeit der Verdolmetschung sowie die Qualitätskontrolle.² Viele Jahrzehnte später richten sich die internationalen Gerichtsbarkeiten weiterhin nach diesen drei Grundsätzen, während sich erst jetzt langsam ein Konsens über die Notwendigkeit der Qualifikation der juristischen Dolmetscher und Übersetzer bei Gerichten und Behörden abzeichnet, und zwar sowohl bei vielen der deutschen Bedarfsträger und Standesvertretungen als auch bei den relevanten Instanzen der Europäischen Union. Im Rahmen des vom Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, im Jahre 2008 einberufenen „Reflection Forum"³ erarbeiteten Experten aus unterschiedlichen Disziplinen (Anwälte, Polizeibeamte, Dozenten der Translationswissenschaft, Vertreter des Berufsstandes) Empfehlungen, in denen ein entsprechendes Profil definiert und Lehrinhalte empfohlen werden.

    1.2 Einsatzfelder der juristischen Dolmetscher und Übersetzer

    Im Bewusstsein, dass es sich beim juristischen Dolmetschen und Übersetzen um eine verantwortungsvolle Aufgabe handelt, setzt sich der Gedanke durch, dass es bei Gericht und Behörde sowohl um die Rechtssicherheit als auch um Menschenrechte geht. Daher werden für einige Bereiche nur noch allgemein bestellte und beeidigte bzw. vereidigte Dolmetscher und Übersetzer eingesetzt. Diese werden sowohl von den Behörden (Polizei, Arbeitsämtern, Sozialbehörden, Standesämtern, Ausländerbehörden usw.), von den Gerichten und auch von der Staatsanwaltschaft, von Notaren als auch von Anwälten und Rechtsabteilungen größerer Unternehmen in Anspruch genommen.

    1.3 Rechtsquellen

    Grundrechte und Grundfreiheiten, die die Ausübung der Translationstätigkeit unmittelbar bestimmen, werden jeweils in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948¹ und in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950² eindeutig ausgesprochen.

    Als juristische Folge der Unterzeichnung und Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden diese Bestimmungen in das deutsche Recht integriert.³

    Wie im Vorwort zu diesem Teil ausgeführt, wurden darüber hinaus neue EU-Richtlinien, insbesondere die Richtlinie 2010/64/EU, verabschiedet, die zu einer konkreteren Darstellung der Anforderungen an Dolmetscher und Übersetzer führen.

    1.3.1 Grundgesetz

    Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland¹ heißt es daher entsprechend:

    Artikel 3

    (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

    (..)

    (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

    1.3.2 Gerichtsverfassungsgesetz ( GVG )

    § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmt, dass die deutsche Sprache Gerichtssprache der Bundesrepublik Deutschland ist. Im Einklang mit den Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), Artikel 5, Absatz 2, und Artikel 6, Absatz 1 und 3 sieht § 185 GVG vor, dass ein Dolmetscher herangezogen werden muss, falls einer der Beteiligten der Gerichtssprache nicht mächtig ist.

    Nach Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU wurde das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2. Juli 2013 verabschiedet und ist nun im §187 GVG verankert.¹

    1.4 Öffentliche Bestellung und Beeidigung bzw. Vereidigung

    Je nach Bundesland kennt man die öffentliche Bestellung und allgemeine Beeidigung (Bayern, Hamburg) oder eine allgemeine Beeidigung ohne öffentliche Bestellung (Berlin, Niedersachsen und andere) und/oder Ermächtigung von Übersetzern (zum Beispiel Hessen).

    Das Hamburger Gesetz über die öffentliche Bestellung und allgemeine Vereidigung von Dolmetschern und Übersetzern sowie die Verordnung über die Bestellung allgemein vereidigter Dolmetscher und Übersetzer vom September 1986 wurden 2005, 2007 bzw. 2015 novelliert¹. In Deutschland besteht gemäß § 189 GVG neben der Möglichkeit der so genannten Ad-hoc-Vereidigung von Sprachkundigen, die der Richter kraft seiner Unabhängigkeit nach seinem Ermessen auswählt, der von dem öffentlich bestellten Dolmetscher allgemein geleistete Eid, auf den dieser sich vor jeder Gerichtsverhandlung beruft.

    1.5 Berufsstand und Berufsethos

    Anders als bei den internationalen Gerichtsbarkeiten, bei denen Konferenzdolmetscher tätig sind, die dem etablierten berufsethischen Kodex der Association Internationale des Interprètes de Conférence (AIIC)¹ und den jeweiligen internen Ordnungen unterworfen sind, sind die Konturen des Berufsstands der Übersetzer und Dolmetscher für die innerstaatlichen Gerichtsbarkeiten noch nicht so klar. Daher bestehen fast gleichlautende Berufs- und Ehrenordnungen² nebeneinander, die teils dem AIIC-Kodex, teils der Charte du Traducteur der Fédération Internationale des Traducteurs (FIT) entstammen und meistens keine konsequente Trennung zwischen Berufsethos und Guten Praktiken definieren. Anlässlich der Gründung des europäischen Verbandes der juristischen Dolmetscher und Übersetzer (EULITA) im Jahr 2011 wurde eine Berufs- und Ehrenordnung verabschiedet,³ die eine Synthese berufsethischer Grundsätze ihrer Mitgliedsorganisationen unter Berücksichtigung der entscheidenden juristischer Quellen für die Arbeit vor Gericht und im juristischen Feld darstellt.

    Neben den allgemein proklamierten Verpflichtungen zur Kollegialität und zu fairen Praktiken den Auftraggebern gegenüber ergeben sich aus den oben angeführten Rechtsquellen unumgängliche Pflichten für den juristischen Dolmetscher und Übersetzer, die seine Dolmetschstrategie entscheidend prägen, um zur Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz und zur Beachtung der Menschenwürde beizutragen. Dazu gehören:

    1.5.1 Vollständigkeit und Treue der Übersetzung

    Der Dolmetscher hat eine sinngetreue¹ und vollständige Übertragung zu leisten. Dies ist nur möglich, wenn er qualifiziert (Hintergrundswissen, Beherrschung aller Techniken) und fachlich vorbereitet ist. Aufträge, für die er nicht qualifiziert ist, sind daher entsprechend abzulehnen.

    1.5.2 Neutralität und Schweigepflicht

    Als Sprachrohr zwischen den Parteien ist der Dolmetscher im deutschen Recht kein Sachverständiger (er bringt keine neuen Inhalte in das Verfahren ein), daher hat er in der Ausübung seiner Tätigkeit neutral zu bleiben. Zur Neutralität gehören auch die Schweigepflicht und der Verzicht darauf, Informationen zum eigenen Vorteil zu benutzen¹.

    1.6 Im Spannungsfeld von Berufsethos und Kommunikation

    Nach Betrachtung des sich aus den Rechtsquellen logisch und konkret ergebenden ethischen Anspruchs an den Berufsstand mögen die Kommunikationsverhältnisse und -zwänge als die größte Hürde erscheinen. Anders als bei internationalen Konferenzen oder Gerichtsbarkeiten, die über Simultandolmetschanlagen verfügen, müssen die Dolmetscher der heimischen Gerichte ihre Dolmetschtechniken ständig an die Gegebenheiten anpassen¹.

    Nur durch schnellste Analyse der Kommunikationsumstände und entsprechende Auswahl der einzusetzenden Dolmetschtechniken wird der Dolmetscher seinem ethischen Anspruch gerecht: Konsekutiv, um dem Öffentlichkeitsprinzip gerecht zu werden; Flüstern, um die Parteien vollständig zu informieren sowie zur unintrusiven Klärung entstehender soziokultureller Missverständnisse.

    1.6.1 Kommunikationszwänge

    Mindestens vier unterschiedliche Zwänge herrschen zum Beispiel im Strafverfahren:¹

    Trotz der oft sehr ungünstigen Akustik der Gerichtssäle bleibt es fast undenkbar, die im jeweiligen Bundesland übliche Sitzordnung für Angeklagte, Zeugen, Dolmetscher und Verteidiger auch nur minimal zu verbessern.²

    Alles, was in der Gerichtssprache auszudrücken ist, muss vom Gericht, aber auch von der anwesenden Öffentlichkeit klar zu hören sein.

    Unter Beachtung der Grundrechte des Angeklagten bzw. des Anspruchs des Auftraggebers ist den Angeklagten alles in der Verhandlung Vorgetragene vollständig zu übertragen.

    Missverständnisse aufgrund der zwischen den Kommunikationspartnern bestehenden soziokulturellen Kluft müssen unter Beachtung strikter Neutralität geklärt werden.

    1.6.2 Unterschiedliche Kommunikationsmuster

    Oralisierte Vorträge

    Vorträge unterschiedlicher Länge werden von Juristen und Sachverständigen in Fachsprachen gehalten. In vielen Fällen handelt es sich um in der Gerichtssprache gehaltene Vorträge, die von dem Dolmetscher einem Angeklagten oder Zeugen simultan geflüstert werden. In einigen Fällen hält ein Jurist oder ein Sachverständiger aus dem Ausland einen Vortrag in der Fremdsprache, der dann vom Dolmetscher konsekutiv in die Gerichtssprache zu dolmetschen ist.

    Verlesene Schriftstücke

    Richter lesen Dokumente vor (Protokolle oder Urteile), Staatsanwälte z.B. Anklageschriften oder Anwälte Anträge. Der Dolmetscher, dem ein Exemplar überreicht wurde, dolmetscht dann vom Blatt.

    Dialoge in einer Sprache

    Die Befragung der der Gerichtssprache kundigen Zeugen wird durch das Gericht vorgenommen – einem Angeklagten oder Zeugen wird die Befragung simultan geflüstert.

    Dialoge in zwei unterschiedlichen Sprachen

    Bei der Befragung der der Gerichtssprache unkundigen Zeugen muss der Dolmetscher abwechselnd in zwei Sprachen dolmetschen.

    1.6.3 Scheitern der Kommunikation – notwendige soziokulturelle Klärung

    Jede Kommunikationssituation kann bei Gericht aufgrund soziokultureller Missverständnisse scheitern. Für den Dolmetscher ist das Unterbrechen des traditionellen Dolmetschflusses immer heikel. Der Kommunikationsrhythmus wird abgebrochen, das Gericht fürchtet evtl. eine ungebührliche Einmischung oder Kompetenzbeschneidung. Folgende abgestufte Strategie soll das Eingreifen des Dolmetschers vermeiden bzw. hinauszögern.

    Schritt 1: Versuch einer Übersetzung, die den Parteien die Chance zur Selbstklärung überlässt.

    Schritt 2: Beim Scheitern dieses Versuchs weist der Dolmetscher auf das Bestehen eines Missverständnisses hin, damit das Gericht selbst die Initiative zur Behebung ergreifen kann.

    Schritt 3: Beim erneuten Scheitern bittet der Dolmetscher um Erlaubnis, die entsprechende Erklärung selbst zu geben. Die entsprechende Erklärung sollte so knapp und präzise wie möglich sein.

    1.6.4 Zur Illustration: Dolmetschtechniken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens ¹

    Aufruf der Sache – Simultanflüstern

    Vorstellung des Gerichts.

    Bei einem, maximal zwei Adressaten eignet sich das Flüsterdolmetschen am besten.

    Eine soziokulturelle Klärung (z.B. über die Funktion der Schöffen) kann sich als notwendig erweisen.

    Vernehmung zur Person – Simultanflüstern und Konsekutivdolmetschen

    Fragen des Gerichts an den Angeklagten können simultan geflüstert werden, dagegen werden seine Antworten für das Gericht und die Öffentlichkeit konsekutiv ohne und mit Notizen (Namen, Orte, Zahlen) laut in die Gerichtssprache übertragen, ebenso evtl. notwendige soziokulturelle Klärungen (z.B. werden Berufe je nach Kultur auf unterschiedliche Art und Weise erlernt).

    Verlesung des Anklagesatzes – Vom-Blatt-Dolmetschen

    Meist wird dem Dolmetscher ein Exemplar der Anklageschrift überreicht.¹ Während der Verlesung des Anklagesatzes durch den Staatsanwalt dolmetscht er vom Blatt.

    Belehrung des Angeklagten – Simultanflüstern

    Die Belehrung zum Aussageverweigerungsrecht kann simultan geflüstert werden. Erfahrungsgemäß wird diese nicht auf Anhieb verstanden, und oft entsteht Klärungsbedarf.

    Vernehmung zur Sache – Konsekutivdolmetschen

    Erst wird dem Angeklagten die Möglichkeit gewährt, im Zusammenhang, d.h. ohne Unterbrechung, Stellung zu dem Tatvorwurf zu nehmen. Nur die sichere Beherrschung der Konsekutivtechnik ermöglicht eine Gleichstellung vor dem Gesetz¹ des Ausländers mit den Gerichtssprachkundigen.

    Es folgen dann meistens Nachfragen und Vorhalte seitens der Gerichtsmitglieder und Verteidiger. Diese kürzeren Passagen können für den Angeklagten simultan geflüstert und für Gericht und Öffentlichkeit konsekutiv gedolmetscht werden.

    Jederzeit kann dabei ein Bedarf an soziokultureller Klärung entstehen.

    Beweisaufnahme¹ – Simultanflüstern

    Zur Wahrung seiner Grundrechte wird dem Angeklagten die Anhörung der Zeugen und Sachverständigen simultan geflüstert.² Nur so ist er imstande, von seinem³ Fragerecht sinnvoll Gebrauch zu machen.

    Die fakultative Eidleistung am Ende der Aussagen bedarf meistens einer soziokulturellen Klärung.

    Schluss der Beweisaufnahme

    Dieser wird vom vorsitzenden Richter verkündet und dem Angeklagten geflüstert.

    Plädoyers – Simultanflüstern¹

    Die Plädoyers des Staatsanwaltes und des Verteidigers sollten simultan geflüstert werden (Wahrung der Würde des Angeklagten GG 3.1 und 3.3).

    Letztes Wort – Konsekutivdolmetschen

    Das letzte Wort des Angeklagten ist für das Gericht und die Öffentlichkeit konsekutiv zu dolmetschen. Hier darf keine unzeitgemäße Unterbrechung des Angeklagtenvortrags aufgrund der Dolmetscherunzulänglichkeit vorkommen.

    Beratung des Gerichts

    Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.

    Urteilsverkündung – Simultanflüstern

    Das Simultanflüstern ist unverzichtbar für eine faire Behandlung des Ausländers, da einerseits der Angeklagte mit höchster Anspannung auf das Urteil wartet und andererseits die sehr formelle Verkündung keine Unterbrechung duldet.

    Urteilsbegründung – Simultanflüstern

    Auch wenn viele Angeklagte der Urteilsbegründung nur zerstreut zuhören, da sie sich noch mit den Folgen des Strafmaßes für ihr Leben beschäftigen oder sich über einen Freispruch freuen, sollte die Begründung – ebenfalls wegen des Grundrechtes der Gleichstellung vor dem Gesetz – vollständig simultan geflüstert werden.

    Rechtsmittelbelehrung – Simultanflüstern

    Diese Information wird aus den bereits erwähnten Gründen simultan geflüstert.

    1.7 Qualifikationsanforderungen an den juristischen Dolmetscher und Übersetzer

    Die Expertenempfehlungen aus dem Bericht des Reflection Forum¹ bestätigen, dass der juristische Dolmetscher und Übersetzer um diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden folgendes kognitive Rüstzeug braucht und nachweisen muss:

    Gründliche Beherrschung der betreffenden Sprachen

    Gründliche Kenntnis der betreffenden Kulturen

    Solide forensische Kenntnisse (Gerichtsverfahren/Institutionen der betreffenden Länder)

    Fähigkeit, Fachthemen vorzubereiten (Gutachten)

    Simultandolmetschen (Flüsterdolmetschen)

    Konsekutivdolmetschen (aus dem Gedächtnis und/oder mit Notizentechnik), Vom-Blatt-Übersetzen bzw. Vom-Blatt-Dolmetschen²

    Berufsethisches Verständnis und Bewusstsein

    Die sich aus diesen Kernanforderungen ergebenden curricularen Empfehlungen sind für so genannte internationale Sprachen leichter umsetzbar, da bereits bestehende Studiengänge nur wenig angepasst zu werden bräuchten. Geht es jedoch um in Europa wenig verbreitete Sprachen, so ergeben sich Hürden anderer Art, die nur mit höchster Flexibilität der Lehrstrukturen zu lösen sind:

    Translationsdidaktiker, erfahrene Dolmetscher bzw. Übersetzer für diese Sprachen sind in Deutschland selten, daher kann die Ausbildung nur unter Trennung von Sprache und Translationstechnik, d.h. unter Anwendung der „Tandemmethode"³ erfolgen.

    Die Sprachen sind terminologisch meist wenig erschlossen.⁴ Die Ausbildung muss dieses methodisch besonders berücksichtigen.

    Das Ausbildungsangebot muss sich den sich schnell verändernden Migrationsflüssen entsprechend anpassen; dies erfolgt am besten durch das Qualifizierungsformat einer Weiterbildung.

    Eine Weiterbildung für juristische Dolmetscher und Übersetzer richtet sich an berufstätige, zweisprachige Akademiker, die neben den angebotenen Unterrichtsblöcken an Wochenenden viel allein üben müssen.

    Das vorliegende Studienbuch wurde primär für diese Strukturen konzipiert.

    2 Modul Kommunikationskompetenz

    2.1 Begründung

    So erstaunlich es für manche klingen mag, so selbstverständlich ist es doch, dass Dolmetscher ein Vertrauen erweckendes Auftreten sowie eine rhetorische Kompetenz bilden, die conditio sine qua non seiner Akzeptanz bei Gericht und bei den Parteien. Hier gelten sinngemäß die Ergebnisse der psychologischen Forschung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Rednern.¹ Zum beruflichen Überleben darf der Dolmetscher den verschiedenen Parteien (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger …) keine Angriffsfläche zur Kritik bieten.

    Alle Gerichtsparteien müssen das Gefühl bekommen, dass sie sich auf einen erfahrenen Dolmetscher bedingungslos verlassen können.

    2.2 Kommunikation im Dienst des Berufsethos

    Der Dolmetscher ist aus berufsethischen Gründen neutral und muss diesen Anspruch auch äußerlich deutlich vermitteln. Aus denselben Gründen darf er keine falschen Erwartungen über

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1