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Anatomie der Träume: Roman
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Anatomie der Träume: Roman

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Der Dramaturg Konrad Pinetti soll den Roman der Autorin Irene Augustin "Das Jahrhundert der Seele" für das Wiener Publikumstheater dramatisieren. Im Zuge seiner Arbeit beschäftigt sich Pinetti mit den Beziehungen zwischen großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts wie Sigmund Freud, Gustav Mahler und seiner Alma, André Breton, Luis Buñuel und Arthur Rimbaud. Anfangs hält er es noch für unmöglich, dieses umfassende Werk für die Bühne zu adaptieren. Doch schon bald schlagen ihn das Buch und die charmante Autorin mehr und mehr in Bann. Um Irene zu beeindrucken, taucht er immer tiefer in die künstlerische Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts ein und lernt die Psychoanalyse und ihre Wirkung auf Dichter und Künstler kennen und schätzen.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateDec 20, 2017
ISBN9783709938225
Anatomie der Träume: Roman

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    Anatomie der Träume - Wilfried Steiner

    Cronenberg

    EINS

    Das Wichtigste an einem Buch ist ein guter letzter Satz.

    Freuds Bilder zwingen uns, die Unausweichlichkeit des Todes zu sehen, das Aberwitzige jedes Fluchtversuchs vor ihm; und doch zeigen sie, dass wir im Moment der nutzlosen Rebellion gegen ihn so voller Leben sind wie niemals sonst: Im Augenblick des Aufbegehrens gegen den Tod, scheint Freud zu sagen, sind wir gleichzeitig am lächerlichsten und am schönsten.

    Nicht schlecht, fand ich. Obwohl es genau genommen zwei Sätze waren. Ich klappte das Buch zu, schloss die Augen und strich mit der Hand über den Buchrücken. Es war ein Essay über Lucian Freud, verfasst von der Kunsthistorikerin Maia Schütz, die sich vor ein paar Jahren auch als Malerin einen Namen gemacht hatte. Mit ihrer ersten Ausstellung war sie gleich in die oberste Liga der Wiener Kunstszene aufgestiegen.

    Eigentlich sollte ich mich ja mit Lucians Großvater befassen, aber mein Eifer hielt sich in Grenzen. Jede Ablenkung war mir willkommen. Das mochte daran liegen, dass ich mich für das Werk Sigmund Freuds nie richtig erwärmen hatte können. Es war mir immer ein wenig eindimensional erschienen. Außerdem hatte ich eine Abneigung gegen geschlossene Welterklärungssysteme. Am meisten aber machte mir die Vorstellung zu schaffen, wer von unseren Schauspielern Freud auf der Bühne verkörpern sollte. Kramer? Nein, der hatte zwar noch immer gelegentlich große Momente, aber sein Textgedächtnis war für eine komplizierte Hauptrolle mittlerweile zu schwach. Grabowski? War nach dem Hamlet-Debakel mit der litauischen Regisseurin in eine Krise gerutscht und hatte in der letzten Produktion meist schon bei den Vormittagsproben nach Schnaps gerochen. Fehringer hatte ihm jetzt den König Lear anvertraut. Offenbar hoffte er, dass Grabowski mithilfe einer großen Aufgabe aus der Krise herausfinden und ihn aus Dankbarkeit mit einigen grandiosen Szenen beschenken würde. Es war eine Art letzte Chance für Grabowski, aber nur wenige im Haus glaubten, dass er sie nützen würde.

    Also kam für Freud nur einer von den Jüngeren in Frage. Ich sah schwitzende Maskenbildnerinnen, aufgeklebte graue Bärte und mich schauderte.

    Eingebrockt hatte mir das Ganze Fehringer mit seinem „untrüglichen Instinkt für Theatererfolge". Das hatte er selbst über sich gesagt, und ein Kritiker hatte es dann nachgebetet. Meiner bescheidenen Meinung nach hatte Fehringer wenig Ahnung von Theater. Vom Massengeschmack verstand er etwas, zugegeben, und seine Auslastungszahlen waren eindrucksvoll. Einen guten Satz von einem schlechten zu unterscheiden war jedoch nicht seine Stärke. Seine zuvorkommende und etwas servile Art war bei Kulturpolitikern sehr beliebt. Er mochte das Heitere, die leichte Muse, das allgemein Verständliche. Er hatte ein sonniges Gemüt, war aber trotzdem keine Leuchte. Eine seiner Eigenschaften war mir allerdings unangenehmer als alle anderen: Er war mein Chef.

    Das Handy läutete, Renate wollte wissen, wie es mir ging. Gut, sagte ich, gutgut. Schön, sagte Renate. Es gibt viele Arten von Scheidungen. Manchmal, bei den wöchentlichen Routinetelefonaten, ertappte ich mich dabei, die einvernehmliche Variante für die schlechteste zu halten. Aber wenn sich in der Theaterkantine die Schauspieler abartige Details über ihre Rosenkriege erzählten, war ich wieder ganz zufrieden. Zumindest für ein paar Tage.

    Nicht, dass es mich über die Maßen aufwühlte, einmal in der Woche von meiner Exfrau angerufen und nach meinem Befinden gefragt zu werden. Man musste sich ja noch etwas zu sagen haben nach zwanzig Jahren, auch wenn alle Leidenschaften so fern schienen, dass ich mir manchmal nicht sicher war, ob sie je existiert hatten. Vielleicht war es die Seelenlosigkeit unserer Gespräche, die mich so melancholisch werden ließ. Schließlich hatten auch wir einmal alles voneinander gewollt. Große Gefühle, auf Dauer. Wir hatten uns geschworen, dass wir alles tun würden, um nicht zu enden wie andere Ehepaare. Und jetzt waren unsere Bekundungen von Anteilnahme am Leben des anderen umwölkt von der Gewissheit des Gescheitertseins. Was uns blieb, war nur eine kalte Traurigkeit. Alles Mühen ist vergeblich, die Zeit gewinnt immer.

    Ich stellte das schmale Buch von Maia Schütz ins Regal zurück und setzte mich an den Schreibtisch. Da lag er, der Roman, an dem ich in den nächsten Wochen nicht vorbeikommen würde, ob ich wollte oder nicht. Er hieß Das Jahrhundert der Seele oder Die Schlacht um die Träume. Auf dem Umschlag war eine Fotomontage zu sehen, die Sigmund Freud umringt von Leuten zeigte, die mir bekannt vorkamen. Wenn man dem Inhaltsverzeichnis traute, hätte das Buch eher Das Jahrhundert der Psychoanalyse heißen müssen, doch das war den Verkaufsstrategen des Verlags wohl zu sperrig gewesen. Anscheinend ging es um die Begegnungen Freuds mit Menschen aus der Sphäre der Kunst. Wie Fehringer das auf die Bühne stellen wollte, war mir ein Rätsel. Eine Serie von Dialogen in einer Blackbox? Im leeren Raum von Peter Brook, den er so gern zitierte? Oder mit einer gigantischen Couch als Bühnenbild?

    Die Autorin hieß Irene Augustin, und der Klappentext verriet, dass sie mit einem Roman über die Liebe Georg Trakls zu seiner Schwester Grete berühmt geworden war. Leider gab es kein Foto. Es hätte mich beruhigt, ein sympathisches Gesicht zu sehen. Schließlich musste ich mit dieser Person zusammenarbeiten. Gleichgültig, ob ich Fehringers Idee begnadet oder bescheuert fand. Die Erarbeitung der Dialogfassung blieb in jeden Fall an mir hängen.

    Das Los des Dramaturgen ist ein bitteres.

    ZWEI

    Am nächsten Morgen öffnete Fehringer mit Schwung die Tür zu meinem Büro und fragte: „Und?" Vermutlich ging er davon aus, dass ich mich dem Sog des Romans nicht hatte entziehen können und das Werk in einer einzigen schlaflosen Nacht mit klopfendem Herzen zu Ende gelesen hatte.

    „Das Inhaltsverzeichnis macht neugierig", sagte ich.

    Der Intendant ließ sich mit einem Seufzer in den Stuhl fallen, der meinem Schreibtisch gegenüberstand.

    „Es interessiert Sie schon wieder nicht, Pinetti, oder?, fragte er. „Manchmal frage ich mich, was Sie überhaupt interessiert. Außer Ihren abgehobenen Lieblingsdramatikern, die uns die Leute in Scharen davontreiben würden.

    Was ich an Fehringer schätzte, war, dass er trotz der vielen Jahre gemeinsamen Schaffens bei einem distanzierten „Sie" geblieben war. Aber vielleicht wartete er ja seit Ewigkeiten, dass ich ihm das Du-Wort anbot. Immerhin war ich um fünf Jahre älter als er.

    „Das sehen Sie falsch, sagte ich. „Ich kann dem Thema durchaus etwas abgewinnen. Ich frage mich nur, wie es funktionieren soll, daraus einen Theaterabend zu machen.

    „Das lassen Sie ruhig die Sorge des Regisseurs sein, sagte Fehringer. „Sie schreiben die Dialoge, den Rest macht Happel.

    Aha. Also Happel, Fehringers Spezialist für dramatisierte Romane. Er kam in unserem Haus oft zum Zug, denn Fehringer war – ein wenig verspätet, aber dann umso hartnäckiger – dem Trend gefolgt, das Dickicht der Prosa-Neuerscheinungen nach quotenträchtigen Titeln zu durchforsten, statt neue Stücke junger Theaterautoren zu spielen. Er hatte eine Affäre mit der Chefin einer großen Buchhandelskette, die ihm regelmäßig aktuelle Verkaufszahlen lieferte, so war er immer „am Puls der Zeit", wie er das nannte. Happels letzte Arbeit war die Inszenierung eines Kriminalromans, der im Wiener Rotlichtmilieu spielte. Kramer gab den alternden Kommissar, die Steinmayr mit mehreren Schichten Schminke die Nutte mit Herz und Wiesinger, einer unserer vielversprechenden Jungen, den ausgefuchsten, aber liebenswerten Strizzi. Bei der Premierenfeier fehlte ich, ich war plötzlich krank geworden. Die Kritiken waren durchwachsen, aber das Publikum stürmte das Theater.

    „Eine gute Idee, sagte ich. „Wenn einer das kann, dann Happel.

    Fehringer war anzumerken, dass er sich nicht sicher war, ob ich das ironisch meinte. So saßen wir uns wie so oft schweigend gegenüber, er musterte mich und ich musterte ihn.

    Fehringer war fünfundvierzig, und er sah aus wie fünfundvierzig. Was er mit seinem durchtrainierten Körper und seinem stets braun gebrannten Gesicht an Jugendlichkeit gewann, verlor er wieder durch seinen eigentümlichen Bart, eine Mischung aus Schnurrbart und Backenbart, der an ihm wie ein Fremdkörper wirkte und farblich zwischen gelb und grau oszillierte – je nach Lichteinfall. Seine Brille hatte eine altmodische Fassung, sie verlieh ihm die Aura eines Professors und einen Hauch von Seriosität. Ich hatte den Verdacht, dass er Fensterglas verwendete. Beweise hatte ich allerdings keine.

    Fehringer erhob sich und ging zur Tür. Im Rahmen drehte er sich noch einmal um, zwinkerte mir zu und sagte verschwörerisch: „Übrigens, Frau Augustin freut sich schon sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen."

    Ich weiß nicht, ob es dem Zufall unterworfen ist oder eine tiefere Bedeutung hat, was man bei der Begegnung mit einem Menschen als Erstes wahrnimmt.

    Irene Augustin hatte mich nach Linz beordert, wo sie erstaunlicherweise lebte. Ich hatte von ihrer Wirkungsstätte mehr Glamour erwartet, Paris oder Hamburg oder zumindest Berlin. Sie saß unter einem Sonnenschirm in einem Café, das den ebenfalls wenig schillernden Namen Meier trug, auf einem Platz, der auch noch Pfarrplatz hieß, und las wie verabredet den Standard. Sie hatte sich geweigert, ein Foto zu schicken.

    Was mir an ihr sofort auffiel, waren ihre leicht abstehenden Ohren. Darüber pinselförmige rote Haarbüschchen. Eine Luchsin.

    „Hallo, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen, „Sie müssen Irene Augustin sein.

    „Hallo, sagte sie und ergriff meine Hand mit festem Druck, „freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Pinetti. Klaus hat mir schon viel von Ihnen erzählt.

    Klaus war Fehringer, und das war kein guter Einstieg.

    „Sicher nur das Beste, sagte ich und setzte mich auf einen Plastikstuhl Irene gegenüber. „Sie kennen ihn gut?

    „Gut genug", sagte Irene und lächelte. Ihr Gesicht war übersät von Sommersprossen, ihre Nase hatte etwas Griechisches. Unter ihren Stirnfransen leuchteten Augen in einem ungewöhnlich hellen Grün. Ich suchte ein Wort für ihren Gesichtsausdruck. Spitzbübisch, fiel mir ein, schalkhaft und verschmitzt.

    „Und Sie glauben tatsächlich, fragte sie und neigte den Kopf, „dass man meinen Roman dramatisieren kann? Diese Frage erwischte mich auf dem falschen Fuß. Keineswegs, hätte ich antworten sollen, der Einzige, der das glaubt, ist Fehringer. Aber irgendwo in mir spürte ich den Impuls zu lügen. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Vor allem wollte ich sie nicht von mir enttäuschen. Und wer weiß, vielleicht war es ja machbar. Ich hatte ja bisher nur das Inhaltsverzeichnis gelesen.

    „Schwierig wird es schon", sagte ich.

    Irene schlug die Beine übereinander, wippte mit dem Fuß und sah mir in die Augen.

    „Eher unmöglich, sagte sie. „Eigentlich wollte ich Klaus die Idee ausreden, aber er hat mich überzeugt, dass Sie das können.

    Der Kellner kam und stellte einen bunten Cocktail mit Strohhalm vor Irene auf den Tisch. Ich bestellte einen doppelten Calvados. Zur Sicherheit.

    Irene grinste und beugte sich ein wenig nach vorn. „Verzeihen Sie meine Neugier, aber ich muss wissen, was Sie von meinem Buch halten."

    Jetzt spürte ich einen Schweißtropfen von meiner Stirn über den Nasenrücken rinnen. „Ich finde es wunderbar, stammelte ich, „ja wirklich, ganz ausgezeichnet …

    „Aha, sagte sie enttäuscht. „Keine Einwände?

    „Naja, sagte ich mutig, „der zweite Titel ist mir ein wenig zu martialisch.

    „Oh, machte Irene, „Sie sind wohl sehr sensibel?

    „Bei Worten schon, sagte ich schnell. Und dann, in die Pause hinein, „Kennen Sie eigentlich unsere Schauspieler?

    „Klar, sagte Irene ernst. „Ich habe erst vor Kurzem an Ihrem Haus den Hamlet gesehen.

    „Ausgerechnet!", entfuhr es mir.

    Irene musste lachen. „Aber Peter Grabowsky war doch sehr überzeugend als Hamlet. Nur vielleicht ein bisschen zu alt. Andererseits war Ophelia ja auch nicht mehr die Jüngste. Mir war nur nicht ganz klar, warum Hamlet am Ende überlebt und mit der Leiche von Ophelia schläft."

    „Dabei war das noch die beste Idee", sagte ich finster.

    „Sie sind zu streng, sagte Irene und zupfte den Saum ihres Rockes zurecht. Ihre Knie blieben trotzdem sichtbar. „Wissen Sie eigentlich, was Freud über Hamlet sagt?

    Wusste ich es? Wusste ich es nicht? Es war eine Fangfrage, so viel war klar. Aber mein Handlungsspielraum war eingeschränkt, denn ich hatte keine Ahnung. König Ödipus hätte ich gerade noch hingekriegt, aber Hamlet?

    „Nicht genau", sagte ich endlich.

    Irene saugte an ihrem Strohhalm. „Das habe ich mir gedacht. Ich verrate es Ihnen: Hamlet kann seinen Onkel nicht beseitigen, weil der genau das getan hat, was Hamlet selbst will. Er hat seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen. Das wollte der kleine Hamlet auch: seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Er kämpft also gegen den Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche vorlebt. Kein Wunder, dass er da zaudert."

    „Interessant, sagte ich schwach. Endlich kam der Kellner und brachte mir meinen Calvados. Irene betrachtete mich eine Weile, bevor sie sagte: „Steht in meinem Buch. Gleich am Anfang. Sie haben es gar nicht gelesen, stimmt’s?

    Ich wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Meine Ohren mussten weithin sichtbar sein, glühende Fanale der Scham.

    „Naja, sagte ich. „Es tut mir leid, aber …

    „Dann bin ich ja beruhigt, unterbrach sie mich. „Ich habe mir schon Sorgen über Ihre Urteilsfähigkeit gemacht. Sie lachte laut auf, es war ein warmes Lachen, großzügig bedeckte es die Blöße, die ich mir gegeben hatte. Ich fühlte mich erleichtert und nahm mir vor, mit der Lektüre noch am selben Abend zu beginnen. Oder besser: schon im Zug zurück nach Wien.

    „Ich gebe Ihnen eine Woche Gnadenfrist", sagte Irene mit gespielter Strenge.

    „Danke", sagte ich ergeben.

    Irene schwieg und betrachtete mich mit einem sardonischen Lächeln. Sie musste mich für einen Möchtegernintellektuellen halten mit meinem schwarzen Rollkragenpullover und den ausgewaschenen Jeans. Uniformiert, mittelmäßig und faul. Ich fuhr mit einem Finger unter den Kragen. Er war feucht und kratzte an meinem Hals. Es war eindeutig zu warm für einen Märznachmittag. Höchste Zeit, mich wieder auf sicheres Terrain zu begeben. Außerdem musste ich Irene von diesem sinnlosen Treffen erlösen. Ein schneller Abgang war das Ehrenhafteste, was ich diesem Tag noch abtrotzen konnte.

    „Ich werde mich jetzt verabschieden, sagte ich feierlich. „Und Sie erst wieder belästigen, wenn ich Ihr Buch gelesen habe.

    „Nur nichts überstürzen, sagte Irene. „Wenn Sie schon mal in Linz sind, kommen Sie mir ohne einen Spaziergang an der Donau nicht davon.

    Wir überquerten eine mehrspurige Straße und standen vor einem ausladenden Gebäude, dessen Glasfassade in einem schrillen Pink leuchtete.

    „Das Lentos, sagte Irene. „Unser Kunstmuseum.

    „Bunt", sagte ich.

    „Mögen Sie keine Farben außer Schwarz?"

    „Schwarz ist keine Farbe", sagte ich. Es klang belehrend und ich schämte mich schon wieder.

    „Sie sind schon als Dramaturg auf die Welt gekommen, stimmt’s?"

    Über eine Böschung spazierten wir zum Fluss hinunter. Ein frischer Wind blies uns in die Gesichter, Irenes Haare flatterten hinter ihr her wie Revolutionsfahnen, ihre Wangen glühten. Die Nähe des Wassers schien sie zu beseelen. Vielleicht war sie ja eine dieser Nixen, die für einen Mann an Land gekommen waren und es dann bitter bereuten. Wenigstens war es für sie nicht letal ausgegangen.

    Ich schob die Ärmel meines Pullovers hoch, mir war immer noch zu heiß. Ein großes Ausflugsschiff legte an. Auf dem Oberdeck standen mehrere Reihen grüner Liegestühle. Ein paar waren schon von mutigen Sonnenanbetern in Badekleidung besetzt.

    „Ödet es Sie nicht manchmal an, immer nur Werke von anderen zu bearbeiten? Wollten Sie nie etwas Eigenes schaffen?"

    Es war mir klar, dass ich jetzt nicht die Wahrheit sagen durfte.

    „Nein. Diesen Ehrgeiz hatte ich nie. Dafür fehlt mir die Begabung."

    Irene blieb stehen und schaute mich an. In ihrer Iris zuckten kleine hellgrüne Blitze.

    „Das glaube ich Ihnen nicht", sagte sie.

    „Welchen Grund hätte ich, Sie anzulügen?"

    „Ich vermute, Sie haben eine narzisstische Kränkung erfahren und wollen nicht daran rühren."

    Jetzt musste ich tief Luft holen. „Freud scheint Sie nicht loszulassen."

    „Wie sollte er auch? Ich lebe von ihm."

    „Schön, dass sich Ihr Buch so gut verkauft", sagte ich.

    „Ich dachte nicht, dass Sie sich für Auflagen interessieren. Klaus sagt, Sie sind ein rettungsloser Idealist, der Zahlen für Teufelswerk hält."

    „So. Sagt er das. Na dann wird es schon stimmen."

    Irene setzte sich auf eine Bank und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. „Kommen Sie, Pinetti, lassen Sie uns ein wenig in die Strömung schauen. Das wird Ihre Laune verbessern."

    „Mit meiner Laune ist alles in Ordnung, sagte ich grimmig. „Ich kann es nur nicht leiden, wenn Fehringer seine fragwürdige Meinung über mich herumposaunt.

    „Tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe. Klaus hat das sicher nicht abwertend gemeint. Er hält große Stücke auf Sie."

    „Ach ja?"

    „Ja. Sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen."

    Ich versuchte es mit dem Blick in die Strömung. Ein mächtiges Frachtschiff glitt vorbei, ruhig, geradezu majestätisch in der Frühlingssonne, aber in mir rumorte es weiter. Fehringer spielte für meinen Geschmack eine viel zu große Rolle in diesem Gespräch. Es war, als säßen wir zu dritt auf der Bank. Irene schien mein Unbehagen nicht weiter zu kümmern. Ihr Blick folgte dem Frachter, dann drehte sie sich zu mir.

    „Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem Familiennamen?"

    „Mein Großvater war Sizilianer, erklärte ich, erfreut über den Themenwechsel. „Er hat sich in eine Wienerin verliebt. Sie haben in der Karlskirche geheiratet.

    „Und waren glücklich bis ans Ende ihrer Tage."

    „Nicht ganz. Als meine Großmutter mit meinem Vater schwanger war, hat sich der Sizilianer aus dem Staub gemacht. Das Einzige, was von ihm blieb, war sein Name."

    Für einen Augenblick legte Irene ihre Hand auf meinen Arm. Die Bäume, die zwischen uns und dem Ufer standen, erzitterten in einer plötzlichen Windböe. Die Blätter schimmerten im Licht, als wären sie von Wassertropfen übersät. Oder von giftig lockenden Sekretbläschen. Die trügerische Schönheit des Sonnentaus. Jedes fürwitzige Insekt, das an ihm kleben bleibt, wird bei lebendigem Leibe verdaut. Mitsamt seinen Flügeln.

    „Sie haben ja eine Gänsehaut, sagte Irene. „Ist Ihnen kalt?

    Erst als wir auf dem Rückweg wieder am Kunstmuseum vorbeikamen, fiel mir der Spruch auf, mit dem für die laufende Ausstellung geworben wurde: You never know what will happen next.

    Im Zug gelang es mir nicht, mich auf das Buch zu konzentrieren – zu verwirrt war ich noch. Doch nachts im Bett begann ich zu lesen.

    DREI

    Irene Augustin: Das Jahrhundert der Seele, Kapitel 3

    Lou Andreas-Salomé, eine der schillerndsten Frauengestalten des 20. Jahrhunderts, Dichterin, Analytikerin, Muse, Intellektuelle, ist es zu verdanken, dass sich Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud am 8. September 1913 in München kennenlernten. Andreas-Salomé hatte auf Einladung Freuds von Oktober 1912 bis April 1913 an den Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung teilgenommen und war mit Rilke eng befreundet. Erstaunlich ist das Umfeld der Begegnung: Auf Lous Wunsch besuchte Rilke den IV. Psychoanalytischen Kongress im Hotel Bayerischer Hof – ausgerechnet jene legendäre Tagung, auf der der Bruch zwischen Freud und dem Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung für alle Zeiten besiegelt wurde. Die Differenzen hatten allerdings schon Jahre zuvor begonnen. Jung missfiel Freuds Betonung der Sexualität, Freud hingegen konnte sich mit Jungs Mystizismus und der religiösen Grundierung seiner Schriften nicht anfreunden. Es störte ihn, dass ausgerechnet sein Lieblingsschüler den Libido-Begriff „mit pastoraler Gelehrsamkeit einer Revision unterzog und so Gefahr lief, wegen „ein paar kultureller Obertöne die „urgewaltige Triebmelodie zu überhören. „Versprechen Sie mir, hatte er zu Jung gesagt, „nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus." Dieser Appell hatte Jungs Zweifel nur weiter geschürt. Verwandle man eine Hypothese in ein Dogma, so Jung, dann stünde die gesamte Lehre auf tönernen Füßen und sei selbst okkult und mystisch.

    Die einst so innige Freundschaft war mehr und mehr erbitterter Gegnerschaft gewichen. Darüber hinaus hatte Jung mit einer Patientin eine Affäre angefangen – ein Verstoß gegen die Grundregeln der Analyse und eine harte Probe für die Geduld ihres Gründers.

    In ihrem Tagebuch erinnert sich Lou an die aufgeheizte Stimmung zwischen den Streitparteien: „Auf dem Kongreß saßen die Zürcher an einem Tisch für sich, dem Freudtisch gegenüber. Man kann mit einem Wort sagen, was deren Verhalten zu Freud charakterisiert; nicht daß Jung von ihm abweicht, sondern daß er so tut, als müsse er grade durch diese Abweichungen Freud und dessen Sache retten. Indem Freud sich dagegen wehrt, wird der Spieß nun so herumgedreht, als könne er keine wissenschaftliche Toleranz üben, sei dogmatisch etc."

    Das Ende der Tagung beschrieb Freud ein Jahr später mit dem trockenen Satz: „Man schied voneinander ohne das Bedürfnis, sich wiederzusehen."

    Als Lou am zweiten Kongresstag mit Rilke auftauchte, waren die meisten der Vorträge bereits gehalten worden. Rilke ließ sich „im Freudwinkel nieder. Der Beginn der Begegnung war vielversprechend: „Ich freute mich, schreibt Lou, „Rainer zu Freud zu bringen, und sie gefielen sich, und wir blieben noch zusammen, auch abends bis sehr spät nachts."

    Was in Lous Worten wie der Anfang einer Freundschaft klang, fand seltsamerweise keine Fortsetzung. In Rilkes Briefen finden sich kaum Hinweise auf das Treffen mit Freud, zwar berichtet er über seine Anwesenheit beim Münchner Kongress, aber andere Teilnehmer hatten ihn offensichtlich stärker beeindruckt, etwa ein holländischer Dichter oder der schwedische Arzt Poul Bjerre. Nur in einem Brief an die Schauspielerin Hedwig

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