Gedankenstriche
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Vieles mag dem Leser/der Leserin zunächst bekannt erscheinen - denn so manches ist direkt aus dem Leben gegriffen, einer zwischenmenschlichen Szene, einem alltäglichen Bild entnommen. Doch das Altbekannte wird gelegentlich entkernt, kurzerhand anders angeleuchtet, in eine ungewohnte Richtung gerückt. So entstehen subtile Nuancen des vermeintlich Gewohnten. Etwas Unsichtbares kann verstärkt oder aus seinem Kontext ins Abstrakte gehoben werden. Eine gedankliche Analyse auf einmal Flügel bekommen. Dadurch wirken diese Sentenzen neu. Sie vermögen zu verblüffen, zu inspirieren oder den Leser/die Leserin zum Nachdenken zu bringen.
Joanna Lisiak
Joanna Lisiak ist in Polen geboren und lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in der Schweiz. Zahlreiche eigene Buchpublikationen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Sie schreibt auch dramatische Texte sowie Hörspiele. Nebst ihrer literarischen Arbeit ist sie Jazzsängerin. Mitglied u.a. von AdS, Autoren der Schweiz und P.E.N., International Poets, Essayists, Novelists.
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Gedankenstriche - Joanna Lisiak
Ich mag diesen Schnitt zwischen altem und neuem Jahr (selbst, wenn dies nur in meinem Kopf ist). Die Zeit zwischen den Jahren.
Wenn ich mich auf einen warmen Sitz setze, auf dem vorher ein anderer gesessen hat (haben muss), gehen meine Gedanken immer zu ihm, diesem Fremden, seinem Warmen, das ihn zu einem Lebewesen, einem Menschen machenden. Dieser Mensch hat kraft seines Lebendigseins einen Teil seines Lebens in Form von Wärme hier zurückgelassen.
Jemand bemerkt: Oh, ein Flüchtigkeitsfehler. Und man denkt. Es ist keineswegs ein Flüchtigkeitsfehler, sondern ein richtiger Fehler.
Die Wiederbetrachtung der eigenen Ton-/Filmaufnahme und das damit einhergehende Desinteresse. Ob der plötzlichen Fassbarkeit?
Ein Genussmensch – wie vermag er einen, selbst in Zeiten der Unruhe, anzustecken mit seiner Gemächlichkeit und Hang zur Muße. Umgekehrt, ein nervös Herumwuselnder, ist nur indirekt ansteckend, vordergründig stets störend.
Der Tee im Magen möchte zu Hause bleiben. Geht man mit ihm spazieren, will er auch hinaus.
Bildbetrachtung: Farbe auf unzähligen Wegen und die Pfade nicht mehr wahrnehmbar, auch wenn wir sie suchen. Ein Durchdringen ist nur in der Illusion möglich. Das Gemälde an sich paradoxerweise die Entzifferung der Schichtungen verweigernd, die Wege gleichwohl offenlegend, zu diesem ewigen Spiel einlädt.
Eine Frau mit unpassendem Schuhwerk auf Eis gehend. Ihre Bewegungen so, als würde ihre Hüfte aus einem einzigen Kugellager bestehen.
Wie eine Katze in der warmen Sonne liegen und den ganzen Tag aus halb geöffneten Augen nichts anderes tun als registrieren wer kommt, wer geht.
Gerade die ganz ernsthaften Menschen, die sich zudem äußerst akkurat auszudrücken pflegen, amüsieren auf ganz besondere Weise, nämlich durch einen distinguierten, wenn auch häufig ungewollten, Humor.
Worin besteht die perfide, aufwühlende und nachhaltige Provokation? Eine, bei der du auf dich selbst zurückfällst. Indem sie dich in deinen eigenen Assoziationen provoziert.
Ein Läufer, nachts, mit einem LED-Licht auf der Stirn vorwärtstreibend, unbeirrt darüber wie er wirkt: entmenschlicht, einer funktionierenden Kampfmaschine gleich.
Du kaufst dir ein paar neue Schuhe und ziehst sie an. Nach einer Weile vergisst du sie und wenn du an dir herunterschaust, musst du den Gedanken erst konstruieren, dass es deine Füße sind, die darin stecken.
Ein üppiges Buchregal in einer schönen Wohnung. Man sieht den Besitzer mit einem der Bücher und ein ausgedehntes Zeitfenster geht auf: das Buch, der Leser, das Lesen, die Zeit. Die Zeitkapsel, in der sie alle friedvoll vereint sind: Buch, Leser, Lesen, Zeit. Die Kapsel aus Stunden. Stunden der Transformation, Stunden der Stille, der Kontemplation, darin gebändigter Freigeist, subtilste Intimität, Buch um Buch.
Das Lineare, der Wunsch nach linearem Leben: Eine Form von Zurechtlegung und Gliederung von allzu Komplexem, die Vorstellung übersteigerter Dinge in einfachere Dimensionen gebracht: 1 bis 3, manchmal 4, aber kaum darüber hinaus.
Ein kleiner Motor, der in mir nahezu automatisch unmerklich läuft und das Gefühl stetiger Ladung und Entschlackung.
Manchmal hat man sich gerade das Sinnlose verdient: sinnloses TV-Glotzen, sinnloses Löcher-in-die-Luft-Starren, sinnloses Herumwühlen und Suchen nach nichts.
Schreiben und die unweigerliche Selbstdokumentation. Die nicht beabsichtigte Selbstzerlegung als Nebeneffekt.
Eine Kommunikation nach außen noch mitten im Prozess: Störfaktor des Flusses.
Spiegelnde Identifikationsverschiebung: Wenn aufgrund meines Impulses ein anderer etwas macht/sagt/tut, der aber sich meint, doch ich aus dieser Quelle einen Mehrwert für mich schöpfe, den ich ebenfalls als mein deklariere und mich erkenne.
Wer ist es, der unverhohlen fragt: Wer ist sie? Warum? Was erlaubt sie sich?
. Ich antworte ohne Erklärung: Ich bin es. Ich erlaube mir das.
Sich verheizen, ein treffender Ausdruck. Seine Lebenswärme geben an jene, die erst gar nicht frieren.
Ein lieber Mensch kommt von weit her, nur um dich für sehr kurze Zeit zu sehen. Das ist berührend. Denn nicht nur er kommt. Er bringt alles, was er hat mit: seine Organe, seine gesamte Körperlichkeit inklusive deren Erscheinung (die Grenzen), seine Sinne, alle funktionierenden Dinge rund um sein Sein und Wesen. Erinnerungen, Denkmuster, die verborgenen Träume, seine Sprache.
Von Weitem sehe ich eine Bekannte. Das absolute Wissen um den kommenden Gesprächsverlauf veranlasst mich, eines geduckten Tieres im Wald gleich, unbemerkt zu bleiben und die Begegnung zu verhindern.
Das vermeintlich Triste am Autorendasein.
Nicht aus dem Blues einen Blues machen, sich nicht darin suhlen. Mancher würde staunen wie viel Beschwingtes, Spritziges, Erfrischendes sich leicht aus dem Handgelenk schüttelt, wenn das Innere voller Kummer ist. Dem Schmerz, der bitter ist, muss eine süße Note beigegeben werden. Mindestens diese Note.
Wenn ein grobschlächtiger, vulgärer Mensch mit einem schöngeistigen, feinen Menschen in