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Bergweh: Von der Faszination der Alpen
Bergweh: Von der Faszination der Alpen
Bergweh: Von der Faszination der Alpen
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Bergweh: Von der Faszination der Alpen

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About this ebook

Gerade einmal zehn Minuten Gipfelglück sind der Lohn für die Mühen, die ich auf mich genommen habe, um ganz oben zu stehen. An einem hitzerekordverdächtigen Augusttag gehört das Matterhorn für einen einzigartigen Moment uns ganz alleine.

Aus dem Inhalt:

Das Bergweh begann ein paar Jahre zuvor. Vielleicht ergriff es Barbara Esser, als sie das Matterhorn zum ersten Mal sah - zuerst von Zermatt, dann von den umstehenden Bergen aus. Spätestens als sie vor dem Einstieg in die Kletterroute am Hörnligrat stand, hatte es sie gepackt. Der Berg war so nah und doch so unerreichbar für sie - damals. Die Besteigung des Matterhorns wurde zu einem Ziel, das sie nicht mehr losließ. Schritt für Schritt bereitete sie sich darauf vor, trainierte, zwei Jahre lang.

Barbara Esser geht es nicht um Höhenmeter und Zeitvorgaben, es geht ihr um die Faszination und Schönheit der Berge. Sie stellt sich den körperlichen und seelischen Herausforderungen, der Auseinandersetzung mit der Gefahr am Berg und ihren ganz persönlichen Emotionen. Mit ausgedehnten Hochtouren testet sie ihre Konstitution in den Höhenlagen der Alpen, absolviert Tiefschnee- und Seilklettertrainings und begibt sich auf einen Steig, bei dem der Mont Blanc bald nur noch eine Etappe auf dem Weg zu ihrem Gipfel ist.
LanguageDeutsch
Release dateDec 14, 2014
ISBN9783944365626
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    Bergweh - Barbara Esser

    Karte

    01 Der Routenplaner, ein unbezahlbarer Trainer

    Die Überraschung ist ein Volltreffer. Mein Mann Wolfgang hat bei einer Bergschule gebucht und das Geschenk symbolisch verpackt. Aus dem Weihnachtspapier schält sich dieser aus Holz gesägte Berg. Aber sogleich frage ich mich: „Was verbirgt sich hinter diesem Gutschein?" Also es dreht sich um einen Berg. Ein Berg mit Schneekuppe, also ein hoher Berg. Welcher Gipfel könnte das sein, den wir uns da wohl vornehmen?

    Es gibt bereits diverse Geschichten um Überraschungsreisen, bei der letzten ging es um einen Sechstausender. Damals versetzte Wolfgang die Agentur in Erstaunen, dass man eine dreiwöchige Bergreise an seine Frau verschenken kann, ohne sich darüber abzustimmen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es sich hier um ein ernst gemeintes Vorhaben handelte und nicht um einen Scherz. Welche Partnerin lässt sich auf so etwas ein? Die Urlaubsplanung ohne Mitspracherecht? Keine Kataloge über Traumstrände wälzen, keine in Mode gekommenen Kulturdenkmäler ausgraben, keine abendfüllenden Diskussionen über Für und Wider zum All-Inclusive-Angebot, dem Aktivtrip oder dem Wellnesstempel? Einfach einlassen auf das, was der andere aus-heckt. Wer setzt sich der Gefahr aus, den Familienfestsegen platzen zu lassen? Nicht auszudenken, wenn die wohlgemeinte Idee als Jahrhundertflop endet. Wolfgang scheut die Gefahr nicht. Es gibt also eine Bergreise.

    Der „Routenplaner"

    Auf meiner Liste stehen ganz oben die zehn schönsten Berge der Alpen. Das ist natürlich eine äußerst subjektive Einschätzung. Aber meine Ziele begründen sich auf einer Bergzeitschrift, in der diese besondere Auswahl vorgestellt wird. Zu den schönsten zählt darin auch das Matterhorn. Das legendäre Matterhorn, ein schicksalhafter, herausfordernder Berg, um den sich viele Geschichten ranken. Das Matterhorn hat es nicht nur in der Schweiz an die Spitze der berühmten Berge geschafft. Es ist formgebend für die Schweizer Toblerone geworden, es dient als Wahrzeichen des Landes, ist Touristenmagnet für Reisende aus aller Welt und übt auf jeden Bergsteiger Faszination aus. Vor einigen Jahren konnte ich diese Erfahrung während einer Tour im Wallis rund um Zermatt selbst machen. Das Feuer für das imposante Horn war entfacht. Die Glut wurde weiter geschürt durch seine monumentale Erscheinung, seine starke Präsenz, mit der es die umliegenden Berge überstrahlt, und die Begegnung mit motivierten Gipfelaspiranten auf der Hörnlihütte, die sich trotz fürchterlichem Gewitter und beharrlichem Regen auf ihre bevorstehende Tour vorbereiteten. Das war am Nationalfeiertag der Schweizer am ersten August. Statt dem traditionellen Feuerwerk zischten Blitze von oben, gefolgt von dichtem Donnerkrachen. Die Bergsteiger hatte ich damals erst am Morgen beneidet, als sich das Unwetter in einen strahlend friedfertigen Tag verwandelt hatte. Ist das der auserwählte Berg, der sich hinter dem symbolhaften Holzgipfel verbirgt?

    Nein. Ist er nicht! Der Berg heißt nicht Matterhorn. Der Berg, auf den sich jetzt alles zuspitzen wird, heißt stattdessen Montblanc. Das ist doch wahrlich eine Überraschung. Da wollte ich schon immer nicht hin. Wolfgang hat eine Bergtour auf den Montblanc gebucht!

    Zugegeben, der Montblanc gewinnt alleine dadurch an Attraktivität, weil er mit seinen 4.810 Metern der höchste Berg der Alpen ist; er ist der König der Berge, der gewaltige Superlativ für den Gipfelsammler, eine stolze Herausforderung für jeden Bergsteiger, eine schillernde Trophäe für den, der die ruhmreichen Ziele jagt. Ja, er steht dem Matterhorn in der Hinsicht in nichts nach. Und doch sind die beiden Ziele nicht vergleichbar.

    Der Montblanc ist ein mit Gletschern überzogener Koloss, dessen Eispanzer eine Dicke von bis zu achtundzwanzig Metern misst und der den Granitfels fast bis auf seine halbe Höhe umspannt. Manche Eiszungen schieben sich weit hinunter bis in die Nähe des Talbodens. Der Gipfel ragt als gerundete, nicht wirklich uneinnehmbare Kuppe aus den steilen, ehrfurcht-gebietenden Flanken heraus und gewinnt nur durch diese ihn umgebenden, bedrohlich klaffenden Eispanzer den heroischen Glanz des allumfassenden Monarchen.

    Im Gegensatz dazu stellt das Matterhorn die uns bekannte, wohlgeformte steilaufragende Felspyramide dar, die gar nicht imstande ist, solche Eismassen zu tragen. Auch wenn der Gipfel mit seinen fast 4.500 Metern weit in die Perma-Frostzone ragt, kann sich Schnee und Eis hier nur vergleichsweise bescheiden festhalten. Es kann sein, dass die Sonneneinstrahlung im Sommer die durch den Niederschlag eingeschneiten Felsen der Ostwand wieder freilegt und in hellem Grau erstrahlen lässt. Die Gratlinien jedenfalls zeichnen sich immer respekteinflößend ab, und je höher das Auge die steile Linie nach oben verfolgt, desto abweisender. Das Matterhorn ist der schwierigere Berg, was man vielleicht daran messen kann, dass er erst knapp achtzig Jahre später (1865) als der Montblanc (1786) erobert wurde.

    So im Detail sind mir die Fakten unter dem Lichterbaum bei Klängen, die den Festraum weihnachtlich füllen, natürlich nicht geläufig, aber intuitiv drängen sich die Bilder auf, die wir alle von Bildbänden oder Fernsehreportagen kennen und die mich diese Berge intuitiv in Sekundenschnelle ähnlich einschätzen lassen.

    Okay. Die Frage ist, was tun? Ich lasse mir erst einmal erklären, was es mit dem Routenplaner auf sich hat. Das soll ab sofort mein persönlicher Trainer sein. Andere lassen sich so einen „Coach" richtig was kosten, diesen hier gibt es umsonst. Er wird zu einem allumfassenden Begleiter, der allein durch seinen Platz in der Küche an die Ernsthaftigkeit der Ziele erinnert - der mir die Pfunde abtrainieren hilft, der mein Konditionstraining überwacht, der mir jede Nachlässigkeit und Schwäche mit schlechtem Gewissen quittiert, der mich schlichtweg in den nächsten acht Monaten in die Lage versetzen soll, auf diese 4.810 Meter hochzukommen. Höhere Ziele kann man sich in diesem Gebirge nicht vornehmen. Das ist doch schon ein Ansatz, mein Interesse darauf zu lenken. Die Tour auf den Montblanc ist bereits auf Anfang September festgelegt.

    Der Routenplaner dient also während der gesamten Vorbereitungszeit als Stütze und Messlatte für die sportliche Leistungsfähigkeit. Die auf dem Foto zu erkennende Zweierseilschaft steigt nach jeder Tour, die wir bis dahin unternehmen, eine Etappe höher und dokumentiert dadurch den neuesten Stand, bis sie den Gipfel erreicht. Die linke Route bezieht sich auf das Gewicht, die rechte auf die Kondition. Schritt für Schritt weisen die Etappen den Weg nach oben und zwar möglichst zeitgleich, denn die Legomännchen gehen am kurzen Seil. So verknüpfen sich die vielen Bergerlebnisse zu einem allumfassenden Abenteuer, an dem der Leser mit dem Buch in der Hand jetzt ohne eigene Anstrengung, hautnah und hoffentlich mit feuchten Händen dabei ist.

    Und weil wir uns bald schon in den höheren Regionen unserer Alpen bewegen, mache ich gerne Gebrauch von einer Gepflogenheit, die sich zwar aus dem Miteinander der Schweizer Armee gründet, sich aber auch in den Bergen im Allgemeinen durchgesetzt hat. Es ist das ungeschriebene Gesetz der Verständigung auf das „Du spätestens ab einer Höhe von dreitausend Metern oder beim Gehen in einer Seilschaft. Wir werden die dreitausend Meter schon auf der nächsten Skitour überschreiten, was die Zugehörigkeit zur oben beschriebenen Gruppe rechtfertigt. Also ist es in dem Fall doch unkomplizierter und einfacher, wenn ich dem begeisterten Bergliebhaber das „Du anbiete.

    02 Der Schweinehund

    Bevor die vielen kleinen Festtagssünden anfangen zu kneifen, sage ich ihnen den Kampf an. Die dahinschmelzenden Schneereste mit den Schlammpfützen haben sich zu einem rutschigen Mosaik zusammengefügt, der Nieselregen hat die Feldwege aufgeweicht und der graue Himmel schiebt düstere Schlechtwetterwolken nach. Der innere Schweinehund will Kaminzaubertee in der heimeligen Stube genießen und seine träge Faulheit nicht gegen Bewegung im garstigen Nass eintauschen. Ich ziehe die wetterfesten Sportsachen an. Der Schweinehund vollführt währenddessen wahre Trauertänze, um mich von dem unbequemen Vorhaben abzubringen. Welches Sporthemd ist heute zweckmäßig? Ich kann mich nicht entscheiden und bin kurz davor, den Schrank wieder zu schließen – für dieses Wetter gibt es keine passende Kleidung. Und wer ist nachher zuständig für das durchnässte Zeug? Tausend Ausreden drängen sich erfindungsreich und wichtigtuerisch in immer neuen Varianten in meine Überlegungen, bis sie endlich beim Heraustreten aus der Haustür verstummen. Die feuchte Kälte kriecht unter die Haut und erstickt jegliche Winterstimmung. Bei jedem Schritt spritzt das Eiswasser auseinander. Bei jedem Schritt muss man höllisch aufpassen - noch ein Grund mehr, sogleich wieder umzukehren meldet das grollende Tier. Weit bin ich noch nicht gekommen in Schritten gemessen, aber jeder einzelne Schritt, der mich wegträgt, festigt mein Vorhaben, den Schweinehund nieder zu ringen. Mit jedem weiteren Schritt gewinne ich mehr Land. „Jetzt erst recht" sage ich mirder Schweinehund muss sich fürs erste geschlagen geben.

    Die Gedanken schweifen in die Vergangenheit. Seit ich mich erinnern kann, waren die Berge Bestandteil meines Lebens, ob ich wollte oder nicht. Im Sommer waren wir zu Fuß unterwegs und im Winter oft auf Skiern. Meine erste Skiausrüstung bestand aus einem Paar Gummistiefel, die ganz einfach mit Riemchen auf einer auf den Holzbrettern gefassten Form fixiert wurden. Später gab es lederne Schnürstiefel, aus dem Fundus meiner Großeltern.

    Mein Vater war die treibende Kraft, hoch hinaus zu gehen, jedem Wetter zu trotzen und immer neue Wege zu probieren. Wegen ihm hatten wir uns unzählige Male verlaufen, bangten um ihn, wenn er bei einbrechender Dunkelheit von irgendeiner Klettertour nicht zurückgekehrt war, oder wir mussten ihn irgendwo mit dem Auto aufgabeln, weil seine Skitour nicht dort endete, wo sie begonnen hatte. Er war mir zielstrebiger Lehrer und konsequentes Vorbild mit klaren und geradlinigen Strukturen. Ihm hatte ich mich blind anvertraut, wenn das auch nicht immer gerechtfertigt war. Einmal kamen wir nicht mehr als Zweierseilschaft oben an, sondern jeder mit einem Stück Seil in der Hand. Der Knoten, der uns verband, hatte sich gelöst.

    Später wanderten wir mit Robbenfellen unter den Skiern durch den Schwarzwald, turnten auf mehr oder minder einfachen Klettersteigen in den Dolomiten umher, bis die Jugendgruppe des Alpenvereins und der Pfadfinder prägenden Einfluss nahmen. Irgendwann hatte ich die Nase voll von den Bergen. Ich ließ mich lieber nach Frankreich an den Atlantik spülen - nicht im wörtlichen Sinn, aber es verschlug mich für ein Dreivierteljahr dorthin.

    Nachdem ich den Bergen tatsächlich einige Zeit entsagt hatte, schlugen die Wellen der Emotionen über unser Wiedersehen derart gewaltig über mir zusammen, dass es um mich geschehen war. Noch heute durchläuft mich ein ergreifender Schauer, wenn die Alpen in mein Sichtfeld rücken. Seit diesem Zeitpunkt haben die Berge mich in ihren Bann gezogen und lassen mich nicht mehr los.

    Eine Pfütze bringt mich zurück in die Gegenwart. Inzwischen sind die Schuhe aufgeweicht, die Füße kalt, die Hosen erdfarbig gesprenkelt und die gute Laune, die sich sonst nach Ausschüttung der Glückshormone einstellt, lässt vergeblich auf sich warten. Der begossene Pudel steht schon wieder dem Schweinehund gegenüber. Verflucht, was tue ich hier eigentlich? Statt besinnlicher Festtagsstimmung schlechte Stimmung.

    Es sind die neuen Bergziele, die wir uns für den Sommer vorgenommen haben und die nur Spaß machen, wenn die Voraussetzungen stimmen. Zum Beispiel genug Ausdauer mitzubringen. Also gilt es, Sport in allen Variationen zu machen; je mehr desto besser. Ich trainiere für die Touren, von der uns jede Einzelne unserem großen Ziel ein Stück näher bringen wird. Der Schweinehund meldet sich schon wieder. Er knurrt und jault bei der Vorstellung, dass es sich hier erst um ein kleines Vorgeplänkel handelt. Ich spüre, wenn ich jetzt nicht konsequent die große Runde durchziehe, verspiele ich meine erkämpfte, noch wackelige Vormachtstellung. Der heutige Ausgang entscheidet über die weiteren Machtverhältnisse. Das Wasser und der Hund verlieren ihre Bedeutung, ich werde den Kalorien zu Leibe rücken und schon mal die kleinen Buckel im Laufschritt nehmen.

    Kondition werde ich schon bald für eine Skihochtour in der Schweiz brauchen, für die ich mich mutig bei unserer Alpenvereinssektion angemeldet habe. Die Devise heißt weniger und mehr - weniger Masse an der Problemzonenfront und mehr Masse an der Muskelfront. Das Gute daran ist, dass man so nebenher automatisch dem alljährlichen Bikini-Desaster vorbaut, das sich regelmäßig zur Badesaison anbahnt.

    Aber zuerst kommt die Wintersaison und für den Skisport muss ich besonders intensiv trainieren, weil die Natur mich bei der Verteilung der Oberschenkelmuskulatur nicht gerade reich bedacht hat. Angebote dazu gibt es genug. Zur Kontrolle trete ich gerne den Wettkampf gegen die Familie an. Wer hält am längsten beim „Wandsitzen" durch? Man lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und rutscht soweit herunter, bis man wie auf einem imaginären Stuhl sitzt, die Wand ist dabei die Lehne und die Beine bilden einen Winkel von neunzig Grad. In dieser Position gilt es so lang wie möglich zu verharren. Wer schafft es länger als eine Minute? Der ist schon auf gutem Weg, das reicht aber noch nicht für eine Tourenabfahrt und schon gar nicht für die Geländeabfahrt bei schwierigen Schneeverhältnissen. Die nächste Ski-Ausfahrt am Arlberg ist schon geplant, sozusagen als Warming-up für die sich kurz darauf anschließende Skitour im Februar. Die Gedanken finden ihr jähes Ende weil meine heutige Sportrunde geschafft ist. Der Schweinehund hat sich unmerklich zurückgezogen. Die Vorfreude auf die Skisaison hat ihn sogar auf der Strecke gelassen und den Endorphinen Platz gemacht. Schon allein dafür hat sich die heutige Anstrengung gelohnt.

    03 Der Arlberg

    Im Februar

    Von den Skigebieten, die mir vertraut sind, ist der Arlberg mein absoluter Favorit geworden. Hier kann man mit der Familie oder in der Gruppe einen Skitag verbringen, bei dem jeder auf seine Kosten kommt. Man kann sich auf langen Abfahrten austoben oder im schwierigen Schnee üben. Hier kann man sich bis nach Lech hangeln und den „Weißen Ring" in einem halben Tag als Rundtour fahren. Oder die Steilrinnen ins Steißbachtal hinunterrauschen. Die futuristische Galzigbahn bringt uns wieder hoch, aber erst nachdem man eine halbe Umdrehung Riesenrad gefahren ist. Die Gondeln schweben zunächst talwärts, bevor sie über eine riesige Spule umgelenkt werden Richtung Berg. Und wenn bei stürmischem Wind die Bahnen ihren Betrieb einstellen, findet man garantiert auf der geschützten Seite der Rendlspitze noch Lifte, die fahren.

    In St. Anton, in Zürs und vor allem in Lech trifft man sich. Wer hat, der hat: Die edelsten Pelze, die teuerste Kleidung oder die kostspieligste Markenausstattung. Sehen und gesehen werden: Im Bogner-Outfit bei Champagner im Liegestuhl oder im edlen Trachtendirndl bei Almkaffee im „Kuhstall" auf fellgeschmückten Holzbänken. Wer kann, der kann. Glühwein trinken unter Palmen oder im Hüttenstadl mit Skischuhen auf den Tischen tanzen.

    Steilrinne unter der Valluga-Seilbahn

    Wer die Ruhe bevorzugt, genießt den Winterzauber im weiß verschneiten Ort Stuben mit der meterdick umhüllten Kirchenzwiebel oder weit oberhalb das endlose Rundumpanorama auf der Albonagrathütte ganz abseits des großen Ansturms. Nach der gemütlichen Stärkung kann man sich die umliegenden Gipfel erarbeiten und von dort im naturbelassenen Schnee entweder ins Verwalltal kurven oder über den verschneiten Wasserfall nach Langen hinabschwingen, vorausgesetzt der ortskundige Skiführer gibt Entwarnung, was die Lawinengefahr anbelangt. In jedem Fall durchmisst man die sich spürbar ändernden Zonen vom windgepeitschten höchsten Punkt über verblasene Buckel, über glitzernde Schneeverwehungen, an licht stehenden Tannen vorbei, die Lichtreflexe in den hochgeschichteten Schnee werfen, durch den dichter bestandenen Wald abwärts, bis die rasanten Hänge im Tal sachte auslaufen.

    Die einfachere Variante vom Albonagrat zurück in das weitläufige Skigebiet führt uns über die Pistenabfahrt, die in die rassigen Flanken des in mehreren Stufen steil abfallenden Hanges gelegt ist. Es ist die längste baumfreie Nordabfahrt der Westalpen, wie uns der Werbeslogan in der Gaststube verrät und über die sich Andreas Lesti in einem Artikel in der FAZ (April 2009) einige Gedanken gemacht hat:

    „Der Tourismus-Superlativ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er keiner ist. Und dadurch, dass man ihn vor lauter Einschränkungen, die den touristischen Superlativ rechtfertigen, manchmal gar nicht mehr als solchen erkennt. Ein Tiroler Skigebiet bewirbt zum Beispiel die „längste baumfreie Nordabfahrt in den Westalpen. Da muss man erst mal abholzen, um zu erkennen, dass es hier um die „längste Abfahrt der Alpen geht. Weil es aber nicht die längste Abfahrt der Alpen ist, und auch nicht die längste Abfahrt der Westalpen, und auch nicht die längste Nordabfahrt der Westalpen, rechtfertigt sich dieser Superlativ erst über die vierte baumfreie Einschränkung. Das Grundprinzip des Tourismus-Superlativs lautet: Man muss ihn so lange einschränken, bis die Kategorie so speziell, spezieller, am speziellsten ist, dass es keine Gegner mehr gibt. Die Marketing Leute gehen also nicht vom Superlativ selber aus, sondern von der Konkurrenz, die sie durch – das muss man zugeben – beachtlich kreative Einschränkungen eliminieren."

    Für mich ist der Arlberg Superlativ. Hier habe ich den „Weißen Rausch" erlebt, hier hat mein Schutzengel mehrfach seine Flügel über mich gehalten, hier habe ich meine ersten Tiefschneeabfahrten durchlitten. Er ist die Wiege des alpinen Skilaufs, wo vor über hundert Jahren die Frauen noch in langen Röcken auf den Holzbrettern standen. Heute stehe ich in Funktionskleidung auf modernen Skiern und bin zufrieden mit meiner Kondition, die sich während der zurückliegenden Tage noch verbessert hat. Ein gutes Gefühl, um sich für die anstehenden Dreitausender fit zu fühlen.

    04 Skitourentage im Oberengadin

    25. bis 27. Februar

    Gillian ist der unangefochtene König unserer Tour. Wenn ihr ihn noch nicht kennt, darf ich ihn euch hier vorstellen. Gillian hat treubraune Augen, ein sanftes Gemüt und trotz jugendlichem Übermut einen gewissen Stolz und vor allem Durchhaltevermögen; manchmal bleibt ihm auch nichts anderes übrig. Gillian stellt einen neuen Superlativ für die Bergwelt auf: Mit eineinviertel Jahren meistert er an unserem Skitourenwochenende vier Dreitausender. Wie das geht? Ihr ahnt es vielleicht schon: Gillian ist ein Hund und gehört zu unserem Tourenleiter, der nicht minder gut drauf ist.

    Die Wetterprognosen sind nicht einladend, aber immerhin kommt der lang ersehnte Neuschnee, der die seit Wochen zu dünne Schneeschicht im Alpenraum ganz gut überdeckt. Die Tour wurde über die Alpenvereinssektion Ludwigsburg ausgeschrieben und wird von zwei Tourenleitern organisiert.

    Die Anfahrt am Freitag hat bereits reibungslos geklappt. Die Passstraße des Julierpasses verschwindet schnell im watteweißen Nichts. Das Schneegestöber mit dicken Flocken wirbelt und tanzt unermüdlich um uns sieben Skitourengeher. Gillian legt in seiner Freude den Weg mehrmals zurück, bis ihn die Kraft und die Kälte ausbremsen. Je höher wir uns mit den Skiern durch den Schnee arbeiten, desto mehr bläst der Wind, nur manchmal scheint die Wolkendecke aufreißen zu wollen. Die Sonne muss ohne Durchsetzungsvermögen im grauverhangenen Himmel kapitulieren. Deswegen gibt uns die Landschaft auch wenig Orientierung. Wir schieben durch den Pulverschnee über die frisch eingedeckten Hügel und Wellen und zögern ob der Richtigkeit des Weges, der sich ohne Spur und ohne Bergkulisse nicht zu erkennen gibt. Umso erstaunlicher, dass wir irgendwann doch auf dem richtigen Pass stehen, der Fuorcla d’Agnel auf 2.983 Metern.

    Mit immer weniger Puste, denn der Sprung von Null auf Hundert - in konkreten Zahlen ausgedrückt von zweihundertfünfzig Metern heute Nacht zuhause auf jetzige knapp dreitausend Höhenmeter - lässt keine Luftsprünge mehr zu. Das hat damit zu tun, dass der Luftdruck, gemessen ab Meereshöhe, bei jedem Höhenmeter abnimmt und dadurch der Sauerstoffgehalt in der Luft weniger wird. Unser Körper kann dies ausgleichen, indem er mehr rote Blutkörper bildet, die dann wiederum mehr Sauerstoff binden können, um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Allerdings braucht der Organismus Zeit dafür. Je schneller man hoch hinausgeht, desto mehr setzt man sich der Gefahr aus, den Körper zu überfordern, was sich wiederum in der Höhenkrankheit äußert. Symptome wie Müdigkeit, Kopfweh oder Übelkeit können bei der gerade geforderten Belastung schon auftreten.

    Dass wir richtig sind, zeigt uns das Schild auf dem Pass an. Wir stemmen uns gegen den umwerfenden Wind und versuchen im Schutz eines großen Felsens die Steigfelle von den Skiern abzunehmen. Gillian blickt sehnsüchtig Richtung Tal und schlottert am ganzen Körper. Nichts wie weg aus dem Windinferno. Die Sicht ist gleich Null. So sind die ersten Schwünge bergab Richtung Jenatschhütte dann auch etwas zaghaft. Zum Glück reißt die Nebelwand auf, die die schemenhaften Umrisse der Hütte für einen Moment freigibt und damit verhindert, dass wir sie verpassen. Eine letzte Steigung mit Fellen ist dann doch nötig, bevor wir in der Chamanna Jenatsch Schutz finden. Sie liegt auf 2.652 Metern und spendet nach dem abweisenden Schneesturm wohltuende Geborgenheit, genauso wie es auf ihren Seiten im Internet angekündigt war. Sie kann mit einer - nein sogar zwei - Besonderheiten aufwarten. Erstens ist sie die höchstgelegene Hütte Graubündens - schon wieder ein Superlativ- und zweitens ist sie nach dem Bündner Jürg Jenatsch benannt, dem damit eine besondere Ehre zuteil wird, denn der Schweizer Alpen Club greift nicht gerne auf Persönlichkeiten als Namenspatron für seine Hütten zurück.

    So tief verschneit und konturlos eingebettet in der weißen Unendlichkeit fühle ich mich wie auf einem anderen Stern, abgeschieden vom Rest der Welt. Wie in einer Raumkapsel sind wir im vertrauten Hüttendasein abgeschottet von der undurchdringlichen Nebelwand, die die Hütte umhüllt. Hier drinnen sind wir mit den anderen Gästen, die die Stube doch ganz gut ausfüllen, eine Gemeinschaft, die zufrieden nach der Anstrengung des Tages die kleinen Annehmlichkeiten des wohligen Nestes genießt.

    Gillian sichert sich einen Stehplatz direkt vor dem bullernden Ofen, an dem seine zu dicken Eisklumpen zusammengefrorene, wie ein Schafsfell anmutende Ummantelung, langsam abtaut. Einzig seine Schnauze legt er vollkommen erschöpft auf einem Stuhl ab. Ansonsten ist der Ofen umlagert von triefenden Socken, nassen Innenschuhen und der sonstigen Winterkleidung, die das Schneegestöber über die Stunden im Aufstieg durchnässt hat.

    Die typisch regionalen Spezialitäten werden hier liebevoll selbst zubereitet, wovon wir uns nicht nur beim Abendessen überzeugen können. Während wir mit dem reichhaltigen Drei-Gänge-Menü verwöhnt werden, wird die Hütte weiter eingeschneit.

    Samstag. Wer wagt, gewinnt. Wir haben uns in das schlechte Wetter gewagt und werden heute mit Kaiserwetter belohnt. Schon beim morgendlichen Blick aus dem Fenster strecken sich die weißen Gipfel gegen das leuchtende Blau. Um acht Uhr sind alle startklar. Die Sonne strahlt über die weiße Neuschneepracht. Die Berge und die Stille wirken tief. Wir haben die ganze Weite für uns alleine! Die an der Hütte beginnende frische Skispur zweigt schon bald ab, so dass wir unsere eigene, neue in die unberührte Landschaft legen.

    Aufstiegsroute zum Piz d’Agnel – 3.204 m (Felsgipfel links vor uns)

    Es ist ein beschauliches Gleiten, bei dem sich der Abstand zur Hütte stetig vergrößert. Zwei Linien, so breit wie unsere Skier, ziehen sich durch den Untergrund, mal geradlinig, mal im Zickzackkurs, je nach Neigung des Berges. Der, der spurt, sinkt am meisten ein, die Nachfolgenden haben es leichter, wenn sie in der frisch gelegten Spur folgen. Je weiter hinten, desto kräfteschonender, weil der Schnee sich bei jeder Belastung weiter verfestigt. So ziehen wir wie ein kleiner Lindwurm durch die große, weite Gebirgswelt.

    Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, liegt unser Nachtquartier wieder ein Stück weiter zurück, bis es zu einem winzigen Punkt weit unter uns geschrumpft ist. Mit jedem Höhenmeter erschließen sich mehr Gipfel, bis wir uns auf der endlich erreichten Scharte zunächst auf das nächstliegende Ziel konzentrieren.

    Die Skier lassen wir zurück und stapfen die letzten Meter in Skistiefeln über den Grat der Sonne entgegen bis wir ganz oben auf dem Piz d’Agnel stehen.

    Hier am höchsten Punkt auf 3.204 Metern bilden die Bergspitzen bis zum Horizont einen unendlich gezackten Kranz in der himmelblauen, klaren Luft, der alle Herzen höher schlagen lässt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der erhöhte Puls auch von der Anstrengung und der dünnen Luft resultieren. Jedenfalls können einige aus der Gruppe die namhaften Spitzen, Grate, Gletscher und Bergketten benennen, die sich ringsherum erheben.

    Noch gibt es keine Abfahrt. Wir steigen zum Skidepot ab und nehmen nach einer knapp bemessenen Brotzeit den nächsten Gipfel ins Visier. Der Blick entschädigt für den zwischendurch mühsamen Anstieg. An einer Stelle zwingen uns die freigeblasenen steilen Felsen dazu, die Skier am Rucksack festzuschnallen und die Hürde mit Händen und Füßen zu nehmen. Immerhin stehen wir bald auf der Tschima da Flix mit ihren 3.301 Metern. Von Westen her baut sich gerade eine Wolkenfront auf. Also verzichten wir auf eine Rast und fahren über die vereiste Flanke in die nächste Scharte hinab.

    Aller guten Dinge sind drei. Und der dritte Gipfel heißt Piz Calderas (3.397 m). Irgendwie glaube ich das jetzt noch nicht wirklich. Wir sind schon lange unterwegs und könnten von hier aus zur Hütte abfahren. Hier wäre ein geeigneter Picknickplatz, im Windschatten des gerade bezwungenen Berges mit sonniger Aussicht in die andere Richtung. Ideal, die anstrengenden Stunden mit etwas Müßiggang aufzulockern, denke ich so vor mich hin, während die anderen über die Route zum nächsten Gipfel diskutieren.

    Nachdem ich merke, dass es den Anderen mit dem dritten Dreitausender heute ernst ist, behalte ich meine Idee lieber für mich. Den schönsten Aussichtsberg von diesem Gebiet bei der heutigen Fernsicht will jetzt keiner außen vor lassen. Auch ich nicht, wenngleich meine Beine schwer wie Blei sind und der gewichtige Rucksack mit dem ganzen Material drückt. Immerhin schleppe ich, wie die anderen natürlich auch, die ganze Zeit die Tourenausrüstung mit Harscheisen, Steigeisen, Pickel und der erforderlichen Lawinenausrüstung durch die Gegend. In so einem Motivationsloch hilft mir am besten Nervenfutter in Form von Schokolade. Sie gibt Energie und lässt sich schnell zwischendurch essen, wenn keine Zeit für die Brotzeit bleibt.

    Die kurze, steile Abfahrt und die aufmunternden Worte der Anderen müssen mir Erholung genug sein. Dann heißt es wieder die Felle über die Ski ziehen und sich durchbeißen. Der Gipfel scheint jetzt gar nicht mehr so fern im Gegensatz zu der Wolkenwand, die sich schnell näher schiebt. Es ist eine Frage der Zeit, die über Aussicht und Sicht bei der Abfahrt entscheidet. Die eigentliche Belohnung ist aber jetzt nicht der Blick, der uns gerade noch gegönnt ist, sondern die Abfahrt im Pulverschnee - ohne Worte! Auf diesen grandiosen Tag müssen wir abends anstoßen, natürlich

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