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Du bist in einer Luft mit mir: Roman
Du bist in einer Luft mit mir: Roman
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Ebook197 pages2 hours

Du bist in einer Luft mit mir: Roman

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About this ebook

Dimitri und Viktor wachsen in Miroslaw auf, wo Pferdemistinseln die schlammige Hauptstraße zieren. Das kyrillische Abc lernen sie beim alten Diakon, Dimitri hat gern Metaphern, während Viktor Linien in sein Notizbuch kritzelt. Nach ihrer Studienzeit in Moskau hocken sie, nun Lehrer und Ingenieur und beide Nachwuchs erwartend, im Abstellraum des Schulhauses und gönnen sich täglich eine Partie Schach. Nur über die Revolution sind sie geteilter Meinung, und als Dimitri eines Tages das Leninporträt in hohem Bogen aus dem Fenster des Klassenzimmers wirft, wird sein Freund gegen ihn aussagen.

Dieses Verhängnis können die Kinder, Kirill und Sascha, die später wie Brüder sind und reden und sich kleiden wie ihr Lieblingsdichter Puschkin, nur erahnen. Aber einem von ihnen, schließlich in die Jahre gekommen und "Buchstabenhüter" an der Solschenizyn-Bibliothek, verdanken wir die Geschichte: Er erschafft mit dieser ironischen wie geistreichen doppelten Familiensaga, die spielerisch zwischen der Zarenzeit, der russischen Revolution und dem "grauen Niedergang der großen Ideale" hin- und herspringt, ein neues literarisches Genre – und kann so doch noch die Hoffnung auf einen Dichter aus Miroslaw erfüllen.
Ehrengast Georgien Frankfurter Buchmesse 2018
Georgia Made by Characters
LanguageDeutsch
Release dateJul 17, 2018
ISBN9783858698049
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    Book preview

    Du bist in einer Luft mit mir - Jorjoliani, Ruska

    Kirill.

    I.

    Erste Schreie

    Über Kirills Anfänge erzählte man sich, seine Mutter Schoschanna Sokratowna, ein nicht besonders gesprächiges, jüdisches junges Mädchen, habe, als sie ihrem Mann, dem frischgebackenen Geisteswissenschaftler Dimitri Gawrilowitsch anvertraute, dass sie abzutreiben gedenke (»Oh Dima, es gibt keinen anderen Ausweg«), auf das schief in den Angeln hängende Fenster gestarrt und sich dabei in den zierlichen Arm gekniffen. Ihr Dima soll daraufhin »Wie bitte?« gerufen und der Hand seiner Ehefrau, die von ihrer Haut nicht abließ, mit einem entschlossenen Klaps Einhalt geboten haben. »Und wenn er als Dichter geboren wird?«

    Was meine Geburt betraf, erzählte man nur von einem Fetzen Papier, den meine Mutter Alina Petrowna, eine abergläubische Bäuerin aus dem Kuban, während der Entbindung fest in der Hand gehalten haben soll. Vor der Ankunft des Arztes hatte sie sich noch zum Schreibtisch meines Vaters Viktor Bulatowitsch geschleppt, hatte den schweren Bauch darauf abgesetzt wie eine Einkaufstasche, dann eine Seite aus einem dort liegenden Notizbuch herausgerissen und mit einem stumpfen Bleistift geschrieben: Lieber Gott, mach, dass er nicht wird wie sein Vater, dieser Mörder.

    Später kam »dieser Mörder« nach Hause, ein junger Ingenieur, der geschworen hätte, in seinem Leben vielleicht höchstens einmal eine Wachtel getötet zu haben. Als er die erschöpft auf dem Bett ausgestreckte Wöchnerin sah, zuckte er zusammen. Ob vor Freude oder aus Verzweiflung, erfuhr man nie genau. Doch als er dann seine Lippen an die Stirn der Frau führte – noch bevor er mich in den Arm nahm, dieses runzlige, in alte Laken gewickelte Wesen, das aussah wie eine rosafarbene Wurzelknolle –, erblickte er den blauen Papierfetzen auf der Bettdecke und wusste sofort, woher der stammte.

    Das Notizbuch bedeutete meinem Vater viel. Er brauchte es, um darin alle seine großartigen Projekte aufzuschreiben. Nie verzieh er seiner Frau diese leichtfertige Tat. Nie fragte er nach, wozu sie den Papierfetzen benötigt hatte. Er brummte irgendetwas und warf sich, ohne die alten Filzstiefel auszuziehen, auf das Bett.

    II.

    Der Traum

    In fast jedem russischen Roman gibt es ein Kapitel über einen mal mehr, mal weniger sonderbaren, mal mehr, mal weniger warnenden Traum, und normalerweise ist das der langweiligste Teil. Wappnet euch also mit Geduld und seid bereit, den Preis für eure Liebe zur prätentiösen russischen Literatur zu zahlen.

    In meinem jüngsten Traum war ich, zwischen Phasen der Schlaflosigkeit, unterwegs zu einem unbekannten Ziel. Ich erreichte einen mir zunächst fremden Ort, aber nach einer Weile wurde mir klar, dass es sich um die Stadt G. im Gouvernement V. handelte, obwohl ich da nie gewesen war. Auf einer Anhöhe erahnte ich im Gegenlicht ein paar lädierte Schaukeln, die ich im ersten Augenblick mit ausgedienten Galgen verwechselt hatte. Als ich weiter ging, flatterte nach kaum zwei Schritten eine graue, fahrige Gestalt an mir vorbei – wie eine der verrückten Frauen, die man auf Gemälden von Bruegel findet. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, murmelte sie etwas von Pilzen und eilte atemlos davon. Dann erschien ein seltsamer, völlig zerlumpter Mönch mit einem dicken Kater auf dem Arm. Er musterte mich mit so geweiteten Augen, dass es mir vorkam, als wären sie mir näher als sein restliches Gesicht, als würde ich sie durch zwei Vergrößerungsgläser sehen.

    »Grüß dich, Geselle«, sprach ich ihn an, wie Baba Jaga im Märchen. »Suchst du das Abenteuer oder fliehst du das Unheil?«

    »Du Dummkopf von Buchstabenhüter!«, sagte er unverblümt.

    »Bitte?«

    »Du hast richtig gehört.«

    Seine Stimme klang so hölzern, als hätte ein blutiger Anfänger von Schreiner sie mit dem Hobel bearbeitet.

    »Das sagst ausgerechnet du, ein Bewohner von Glupow!«

    »Oh nein, Jüngelchen«, sagte er kopfschüttelnd, »du darfst doch den Namen der Stadt nicht nennen, erinnerst du dich nicht?« Er streichelte den Kater. »Ein wahrer Schriftsteller tut das nicht.«

    Da hätten wir wieder einmal den üblichen dubiosen Geistlichen der russischen Literatur, dachte ich und sagte: »Was weißt du schon von wahren Schriftstellern?«

    »Was ich von wahren Schriftstellern weiß?« Er senkte den Kopf und betrachtete den honigsüß blinzelnden Kater. »Genug, um mir im Klaren darüber zu sein, dass du keiner bist.«

    »Mag sein«, antwortete ich, »dafür kann ich ausnahmslos alle Gedichte von Puschkin auswendig. Ich bin fähig, meinen Namen verkehrt herum in meiner normalen Handschrift zu schreiben. Ich kann dir die Distanz zwischen Glupow und Miroslaw in Millimetern sagen. Und wenn mir der Hut aus dem Zug fliegt, werfe ich auch meinen Kopf hinterher – was sollte der Finder schon mit einem Hut ohne Kopf anfangen?«

    Er lachte.

    »Kannst du zufällig auch Tote zum Leben erwecken?«

    »Wie meinst du das?«

    »Du weißt genau, wie ich das meine«, sagte er spöttisch. »Aber wann wirst du endlich einsehen, dass du nicht mehr wert bist als ein Friedhofshund, der ab und zu einen Knochen ausgräbt?«

    Ich fürchtete, der Traum könnte abbrechen. Meine Nerven waren gespannt wie die Saiten einer Balalaika, an deren einem Ende der Schlaf, am anderen der Wachzustand zerrte, und ich hoffte, dass der Schlaf die Oberhand behalten würde, damit ich diesem Idioten noch eine Ohrfeige verpassen konnte. Aber ich sah ihn nicht mehr, weder ihn, noch den Kater, ich hörte ihn nur noch lachen, sich kaputtlachen, mit der kratzigen Stimme eines greisen Radiosprechers, die in einem alten Transistorradio hallt, leiser wird und schließlich ganz verstummt.

    III.

    Brief Nr. 1

    Lieber Kirill,

    ich schreibe Dir so, mon cher ami, wie Dir Puschkin, Dein geliebter Puschkin, geschrieben hätte.

    Ich hoffe, »der reinsten Schönheit Genie« habe Dich noch nicht verlassen, in jener nebligen Stadt. Sei stark, lieber Bruder, wo Dir doch der graue Niedergang der großen Ideale erspart geblieben ist. Die Vision der Horizonte, für die die mildtätige russische Seele seit den Dekabristen brannte, ist verblasst. Auch wenn man von Anfang an einen großen Unterschied zwischen unseren Dekabristen und euren Bolschewiken erahnte. Traurig ist bekanntlich unser Schicksal, jedoch wollen wir die Segel der Hoffnung nicht streichen, Du meine unvergleichliche Seele. Widerstehe dem dunklen Sturm einer Übergangszeit, wie sie dem Wesen aller Epochen innewohnt. Widerstehe, aufrechter Mann, den Windböen, die Dich zuerst zu beugen und dann zu brechen suchen. Kehre ungebrochen aus dem gefürchteten Sibirien zurück. Du willst ebenso wenig sterben wie ich, das weiß ich. Du willst denken und leiden. Komm also zurück. Lass es nicht zu, dass der Sonnenuntergang sein Abschiedslächeln auch an Dich richtet.

    Immer Dein Alexander

    Kommentar zu Brief Nr. 1

    An jenem Oktobertag (siehe Bild) versprachen Kirill und ich uns gegenseitig, dass wir künftig unsere Lieblingsdichter, Puschkin und Lermontow, in allem nachahmen würden: im Sprechen, im Schreiben, in der Kleidung.

    »Je le promets, mon cher ami«, sagte ich feierlich, nahm einen rissigen Ast und stützte mich darauf wie auf einen Spazierstock.

    Kirill trat schmunzelnd zu mir.

    »Der Graf hätte uns vielleicht für doof gehalten.«

    Graf war der Titel, den unsere naive Bruderschaft Kirills Vater verliehen hatte – dem glücklosen Literaten Dimitri Gawrilowitsch.

    »Quatsch, der Graf hielt große Stücke auf Puschkin«, sagte ich und reichte ihm meinen behelfsmäßigen Spazierstock. »Probieren Sie den mal aus, Monsieur!«

    Kaum hatte er sich in Pose geworfen, wobei er damit eher an einen Krüppel als an einen romantischen Dichter erinnerte, fiel ihm das schaumige Exkrement eines nicht näher identifizierten gefiederten Wesens auf den Kopf. Er fuhr sich über das Haar, führte die Hand dicht vor die Augen, bis sie fast seine Nasenspitze berührte (er war so kurzsichtig, dass er eine Tupolew nicht von einem Vogel unterscheiden konnte), und zog eine angewiderte Grimasse. Ich rief: »Mesdames et Messieurs, hiermit präsentiere ich Ihnen den großen russischen Dichter Kirill Dimitrijewitsch Exkrementow!«

    IV.

    Die Väter

    Sie machten ihre üblichen dämlichen Gesichter, seine neun Schüler, als Dimitri Gawrilowitsch während des Unterrichts plötzlich in seiner Rede abbrach, aus dem Fenster blickte und sagte: »Diese Eiche hat ihr Leben gelebt. Man sollte sie fällen, bevor jemand auf die Idee kommt, raufzuklettern, und den dürren Stamm zum Kippen bringt wie den Mast eines brennenden Schiffs.«

    Dieses zerfurchte Stück Holz mitten auf dem Schulhof hatte ihn schon immer an einen anderen Baum erinnert, an eine Linde. Aber da, wo er jetzt war, in der Gewalt dieser Wellen, hatte all das ohnehin keine Bedeutung mehr. Vor allem hätte er unbedingt selbst auf diese Eiche steigen sollen, solange es noch nicht zu spät dafür gewesen war. Da ihm der Mut fehlte, sich zu erhängen, hätte er wenigstens hinunterstürzen können, wenn nicht als Matrose, so wenigstens als tüchtiger Schiffsjunge.

    Solche Gedanken quälten Dimitri im tristen Laderaum des Dampfers Gleb Bokij, der ihn zusammen mit einem Dutzend weiterer Gefangener an die vereisten Küsten der Solowezki-Inseln im Weißen Meer bringen würde. Ja, er hätte die Gelegenheit nutzen sollen, die ihm die Eiche vor der Schule geboten hatte, dachte er, während heftige Wellen gegen das Schiff schlugen. An seiner Linde hätte er sich ja höchstens erhängen können, und da sie dies bereits einmal durchgemacht hatte, verdiente sie etwas Respekt, schließlich gab es auch in Bezug auf den Brauch, schmutziges Menschenfleisch an wehrlosen Bäumen aufzuhängen, gewisse Anstandsregeln.

    Dimitri war schon immer klar gewesen, dass nur Leute, die selbst noch nie mit zitternden Fingern eine Schlaufe geknotet haben, glauben, sich zu erhängen sei einfach eine Frage baumelnder Füße. Als Kind noch hatte er seinen Großvater einmal im Geräteschuppen mit einem Seil hantieren sehen, hatte aber nicht besonders darauf geachtet und war zu seinen Spielgefährten zurückgekehrt. Später, als er dem Ball nachlief, erblickte er an einem hohen, kräftigen Ast der Linde, die hinter dem Haus auf der Wiese zwischen dem Hühnerstall und dem Sonnenblumenfeld stand, auf einmal ein schaukelndes Etwas. Zuerst dachte er, sein Großvater habe eine Falle aufgehängt, um irgendein Tier anzulocken. Dann trat er ein paar Schritte näher und erkannte als Erstes das kleine Dreieck aus bläulichem Fleisch, das aus dem halb geöffneten, starren Mund des Mannes ragte, der nun eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem Großvater aufwies.

    Auch nach all diesen Jahren, auch im Bauch dieses Schiffs, das so rostig war wie eine ins Meer geworfene Blechdose, selbst in dieser Leere gelang es Dimitri noch, sich das Bild des erhängten Großvaters präzise in Erinnerung zu rufen.

    Bis zu seiner Heirat mit Schoschanna Sokratowna hatte er in Angst und Schrecken gelebt. Nie schlief er ein, ohne kontrolliert zu haben, dass im Haus nichts vorhanden war, was an ein Seil erinnerte. Vielleicht war er ja, ohne es zu wissen, ein Schlafwandler, und dann hätte alles Poetisch-Romantische nichts mehr geholfen: Sonne plus Seil ergab einen bei Tageslicht Erhängten, Mond plus Seil ergab einen bei Mondschein Erhängten. Schweren Herzens trennte er sich später auch vom Gürtel seines einzigen Bademantels, dem Hochzeitsgeschenk von Schoschanna.

    Dort an dem Ufer, wo ihn der Dampfer absetzen würde, wäre er von diesen Sorgen befreit. Inzwischen war Wasser in den Laderaum eingedrungen, und um Dimitris Füße herum trieben Säcke, Decken, Schuhe, aller mögliche Unrat. Alle Häftlinge waren seekrank, und draußen war es stockdunkel, Wellen tosten.

    Er hielt die Jacke zu, zog den Hut tiefer über die Ohren und ließ sich auf zwei übereinandergestapelten Koffern nieder. Dann, vielleicht um nicht an das lächerliche Bild zu denken, das er so abgab, schweiften seine Gedanken erneut in die Vergangenheit, aber diesmal noch weiter, von Erinnerung zu Erinnerung bis zu jener Begegnung zurück.

    Um in Miroslaw von irgendwo nach irgendwo zu gelangen, führte der Weg unweigerlich über die schlammige Hauptstraße mit ihrem von einzelnen Pferdemistinseln unterbrochenen Linienmuster, das von den Karrenrädern herrührte. Genau dort, unweit der Kirche, an jener von Holzhäusern mit dunklen Giebeldächern gesäumten Straße, war es viele Jahre zuvor auch zu jener allerersten Begegnung gekommen. Sein Großvater war mit ihm unterwegs zum Diakon Sergej gewesen, um ihn zu bitten, den Enkel zu unterrichten, und da trafen sie auf das Duo aus Vater und Sohn, mit denen noch niemand die Gelegenheit gehabt hatte, sich zu unterhalten. Man wusste nur, dass der stutzerhafte Herr Tierarzt war, in einer großen Stadt gelebt hatte und dass dank ihm etwas zuvor beinahe Unbekanntes Eingang in ihre Gemeinschaft fand, etwas, das immer unter seinem Arm klemmte, nämlich die Zeitung.

    An jenem Tag trug der Mann ein Jackett und eine braune Weste, über die sich auf der einen Seite eine Uhrenkette spannte. Dimitri glaubte zuerst, Tschernyschewski höchstpersönlich sei einem Buch entsprungen und grüße gerade seinen Großvater, doch verwandelte sich der Schriftsteller gleich wieder in den unbekannten, erst kürzlich im Dorf eingetroffenen Tierarzt, denn da war ja auch dieses Kind, ungefähr so groß wie Dimitri selbst, das sich am Zipfel des väterlichen Jacketts festhielt, und auf keinem Porträt Tschernyschewskis hatte Dimitri je ein Kind gesehen.

    »Guten Tag«, wandte sich der Mann an den Großvater, »ich suche das Haus des Diakons.«

    Der Großvater antwortete, er wolle auch gerade zu ihm. So gingen sie gemeinsam weiter und unterhielten sich über die jüngsten Zeitungsmeldungen und insbesondere über einen

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