Wer Beine hat, der laufe: Geschichten von deutscher Flucht und Vertreibung
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des Krieges überlebt."
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Book preview
Wer Beine hat, der laufe - Heide Scherer
1. eBook-Ausgabe 2016
© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – Archiv Gerstenberg
Bildnachweis: ullstein bild; S. 14, 15, 45, 48, 53, 54, 105, 148: Privat – die Besitzer haben den Verfasser zur Wiedergabe autorisiert. Sie sind dem Verfasser bekannt; S. 83: Bundesarchiv, Bild 146-1972-093-59/ CC-BY-SA 3.0/via Wikimedia Commons; S. 84: S. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Brockhaus/Commission
ePub-ISBN: 978-3-95890-041-7
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
www.europa-verlag.com
»Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.«
Joseph von Eichendorff
Für Veit, Mathis und Annelie Sophie
INHALT
Vorwort
I. Hella von Grote
Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als erste bis Berlin durchgeschlagen haben!
II. Elsa Grauer
Melde gehorsamst, Gefreiter Paschke – wenn ich nicht heirate, werde ich erschossen!
III. Maria Gollmer
Jetzt musst du weg! Jetzt geht die Flucht los!
IV. Maria-Elisabeth Polska
Wir wären heute nicht mehr am Leben ohne meine Schwester
V. Eberhard Kerlen
Erinnerungsleuchtpunkte
VI. Valja Blum
Wer Beine hat, der laufe!
Nachwort
Dank
Literatur
VORWORT
Sommer 2015 – Winter 1945
2015 ist das Jahr der großen Flucht. Die brennende Aktualität hält Europa in Atem. Täglich sehen wir in den Medien Bilder von Flüchtlingsströmen. Wir sehen Tragödien, die sich im Mittelmeer ereignen. Bootsflüchtlinge, erschöpfte Eltern mit ihren Kindern, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen zu uns. Sie berichten von wochenlangen Landmärschen, von organisierten Schleuserfahrten in klapprigen Lieferwagen oder auf alten Schiffen. Vom Krieg traumatisiert suchen alle Zuflucht in Europa, in Deutschland. Sie wollen überleben in einem sicheren Land.
Die Bilder von den Flüchtlingen im Sommer 2015 rufen bei einigen alten Menschen in Deutschland tiefe Erinnerungen wach. Ihre Bilder sind 70 Jahre alt: Flüchtlingszüge, Trecks und überladene Schiffe, die sie nach Dänemark oder in den Westen bringen sollen. Bilder von Notunterkünften in Schulen, in Turnhallen und Kirchen. Überfüllte Züge, lange Kolonnen flüchtender Frauen und Kinder auf eisigen Straßen und Wegen.
Wie ähnlich sind die heutigen Bilder. »Ich kann die Berichte in der Tagesschau fast nicht sehen. Alles kommt wieder hoch«, stöhnt eine energische 86-jährige Frau. Die Flucht der Menschen heute ist die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg in der EU.
Mich interessierte, wie die Flucht im Winter 1945 durch die zerbombten Städte, durch Trümmerlandschaften und über die Ostsee für die Menschen war. Von 2007 bis 2012 befragte ich ältere Menschen, wie sie als Mütter und als Kinder ihre Flucht im Januar 1945 erlebt hatten. Dabei beschränkte ich mich auf die Gebiete im Osten des damaligen Deutschen Reichs, auf West- und Ostpreußen und auf den Warthegau.
Es waren offene Interviews, in denen die Kinder von damals selbst auswählten, was sie erzählen wollten. Die erlebte Geschichte der Flucht sollte auf der Gefühlsebene durch Gespräche beleuchtet werden. Die Kontakte zu meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern kamen über meinen Freundeskreis zustande. Ihre Empfehlungen waren ein guter Weg, um eine vertrauensvolle Erzählatmosphäre für die Zeitzeugen zu schaffen. Ihre Sprache blieb authentisch.
In dem Buch Wer Beine hat, der laufe kommen sechs Interviewte zu Wort: Eine 95-jährige und eine fast 98-jährige Mutter erzählten von ihrer Flucht mit ihren Kindern im Winter 1945. Sie berichteten trotz ihres hohen Alters sehr lebhaft, klar und mit großer Präsenz. Es erstaunt uns, wie unauslöschlich ihre Erlebnisse in ihrem Gedächtnis eingegraben waren. Zwei Frauen und ein Mann erzählen, wie sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern unterwegs waren. Damals waren sie neun- bis elfjährige Kinder. Eine Interviewte erinnert sich, wie sie als Zwölfjährige mit ihrer 14-jährigen Schwester von der Schulbank weg fliehen musste. Hals über Kopf musste das geschehen.
Der Bogen in den Fluchtgeschichten geht von der Vorkriegszeit über den Kriegsbeginn mit dem Erleben des Einmarsches der deutschen Wehrmacht in Polen über das Zeugnis des Kriegsalltags bis zur überstürzten Flucht.
Einige Interviewpartner erzählten ihre Geschichte zum ersten Mal außerhalb ihrer Familie. Sie tauchten ein in diese Zeit, wurden beim Erzählen wieder zu den Kindern und Müttern von damals. Menschen, die die Kriegsmaschinerie vor sich hertrieb. 23 Kinder und fünf Erwachsene flüchteten in diesen Berichten.
Es kostete die älteren Menschen Kraft, das Wiedererwachen der Erlebnisse zuzulassen. »Aber wir haben es geschafft. Wir haben mit unserer Familie überlebt.« Diese Dankbarkeit über die Rettung ihres Lebens war immer am Ende ihrer Erzählungen zu spüren.
Ich spreche meinen großen Dank an meine InterviewpartnerInnen aus für das mir entgegengebrachte Vertrauen und für ihre Offenheit, besonders auch für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu veröffentlichen und an andere Menschen weiterzugeben.
Heide Scherer
im Dezember 2015
I. HELLA VON GROTE
Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als erste bis Berlin durchgeschlagen haben!
Es ist der 2. Juni 2007, ein freundlicher, sonniger Vormittag. Ich bin in München nahe der Isar, in einer Straße mit Häusern aus der Gründerzeit.
Meine erste Interviewpartnerin wohnt hier. Sie ist bereit, mir ihre Fluchtgeschichte zu erzählen. Damals, im Januar 1945. Völlig überraschend und überstürzt musste sie mit ihrer Schwester von der Schulbank weg fliehen. Meine Freundin vermittelte mir den Kontakt.
Das Treppenhaus mit der geschwungenen Eichentreppe und dem gedrechseltem Geländer aus der Gründerzeit erinnert mich an mein Elternhaus. Ich bin erwartungsvoll gestimmt. Wen werde ich antreffen? Werden wir zwei Frauen in einer Atmosphäre der behutsamen Offenheit von den Erlebnissen hören? Wie werden ihre Erzählungen auf uns beide wirken?
An der Wohnungstür erwartet mich eine freundliche, ältere Dame. In ihrem Wohnzimmer liegen schon die Unterlagen zu ihrer Flucht auf dem großen Eichentisch. Auch Fotos hat Hella von Grote bereitgelegt. Dann beginnt sie zu erzählen.
Mein Vater war vor dem Krieg Auslandskorrespondent bei verschiedenen großen Zeitungen in Italien und Frankreich. Ja, die Drohung eines Krieges war 1938 zum ersten Mal akut. Wir lebten damals in Paris und sind sofort vor dieser Drohung geflohen. Die Franzosen wollten die Deutschen ja bei Kriegsausbruch internieren, wenn es dazu gekommen wäre. Mein Vater wusste das. Er hat uns in zwei verschiedenen Autos zum Bahnhof bringen lassen und uns in den Zug gesetzt. Wir sind zu meiner Tante nach Lüdenscheid gefahren, ganz normal im Zug, fast ohne Gepäck.
Der Krieg brach dann doch nicht aus. So sind wir im Herbst wieder zurückgefahren. Dort haben wir weiter in unserer kleinen Villa am Rand von Paris gewohnt.
1939 war wieder diese Kriegsdrohung. Aber diesmal hatten meine Eltern nicht daran geglaubt. Im August 1939 sind wir mit unseren Sommerkleidchen zu einer anderen Tante gefahren. Es ging nach Pommern in die Sommerferien. Diese Tante hatte einen sehr großen Bauernhof. Meine Mutter musste damals nach Marienbad zur Kur. Und so waren wir drei Kinder alleine bei meiner Tante geblieben und dort versorgt worden. Das war alles wunderschön. Wir haben das sehr genossen.
Und plötzlich, am 1. September 1939, brach der Krieg wirklich aus.
Und wir waren noch in Deutschland. Meine Mutter kam Gott sei Dank an dem Tag aus Marienbad zurück, sodass wir wieder zusammen waren. Aber nun war natürlich keine Möglichkeit mehr, nach Paris zurückzukehren. Und wir saßen da mit unseren Sommerkleidchen. So sind wir wieder nach Lüdenscheid zurück zu meiner anderen Tante gefahren. Die war sehr großzügig. Außerdem war sie die Lieblingsschwester meiner Mutter. Bis Weihnachten 1939 haben wir dort gewohnt.
Von Paris sind wir dann nach Berlin umgezogen. Mein Vater wurde vom Oberkommando der Wehrmacht, dem OKW, als Sonderführer im Hauptmannsrang eingezogen. Er sprach fantastisch Französisch und als Balte auch Russisch. Man brauchte ihn als Fachwissenschaftler sozusagen. Nach der Eroberung von Paris wurde er als Verbindungsoffizier nach Frankreich entsendet. Dort hat er zwei oder drei Jahre Dienst getan.
Er hat auch unser Haus in Paris wiedergefunden. Das war völlig unzerstört. Unsere Sachen waren alle noch vorhanden. Franzosen hatten in diesem Haus gewohnt. Das Essen stand noch auf dem Tisch. Die Anzüge meines Vaters waren verschwunden und auch alle Papiere. Aber sonst, die ganzen Möbel und das Silberzeug waren noch da. Das wurde alles nach Berlin geholt und dort eingelagert, weil wir ja kein eigenes Haus mehr hatten. Dort sind die Sachen zerbombt und verbrannt.
Die Familie war jetzt in Deutschland und mein Vater alleine in Paris. Aber er kam immer wieder zu Besuch zu uns. Wir hatten in Berlin-Schlachtensee eine möblierte Wohnung gemietet, direkt am See, wahnsinnig romantisch und groß.
Mein Vater wurde vom OKW in die Wlassow-Geschichte einbezogen. Weil er so gut Russisch konnte, hat er die Flugblätter entworfen. Das war eine ganze Gruppe von Offizieren, die General Wlassow überreden wollten und es auch geschafft haben, auf der Seite Deutschlands gegen die Kommunisten zu kämpfen. Wlassow war Weißrusse und kein Kommunist. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Deswegen war mein Vater in Berlin am OKW und nicht an der Front.
Nun muss ich etwas ausholen: Die Balten wurden von Hitler 1939 aus dem Baltikum umgesiedelt. Das war der Vertrag mit Stalin: alle Deutschen raus, damit Stalin das Gebiet mit Kosaken besetzen konnte. Die baltischen Adelsleute, in der großen Zahl Gutsbesitzer, wurden in Polen, ins Warthegau und in das Gouvernement Warschau umgesiedelt. Polen war indessen aufgeteilt. Dort wurden sie mit den polnischen Gütern entschädigt. Anstelle des Gutes im Baltikum bekamen sie ein Gut in Polen.
Die Umsiedlung hat während des Krieges oder kurz vorher stattgefunden. Denn Stalin ist 1941 in den Krieg eingetreten. Am Anfang waren wir ja mit Russland verbündet. Das war der Hitler-Stalin-Pakt. Der hat gehalten, bis Hitler 1941 Stalin den Krieg erklärt hat. 1943 kamen die ersten schweren Bombenangriffe. Kurz danach wurden die Mütter und Kinder aus Berlin evakuiert.
Eine meiner baltischen Tanten hatte im Warthegau ein Gut von den Nazis bekommen, ein polnisches Gut. Als dann die Evakuierung der Familien aus Berlin stattfand, sind wir auf dieses Gut gefahren und lebten bei meiner Tante.
Im Sommer 1943 sind wir auf dieses Gut gekommen. Ich war zehn, nein elf Jahre vielleicht schon. Bis zur Flucht, also bis zum Januar 1945, sind wir auf diesem Gut gewesen und lebten dort. Auf Deutsch hieß der Ort Gembitz und auf Polnisch Gembice. Das liegt etwas nördlich von Posen und südlich von Schneidemühl.
Die elfjährige Hella (vorne) mit ihrer Familie in Gembitz im Sommer 1944
Wir lebten alle zusammen auf dem Gut. Nach den Sommerferien 1943 stellte sich heraus, dass wir nicht nach Berlin zurückkehren konnten. Denn die Evakuierung sollte dauerhaft sein. So sind meine Schwester und ich zur Schule in eine Nachbarstadt gefahren. Die war etwa 40 km entfernt und hieß Kolmar. Dort war ein Gymnasium. In Kolmar wurden wir eingeschult und lebten in einem möblierten Zimmer. Zu zweit und ohne unsere Familie. Mein jüngerer Bruder kam in die Volksschule in Gembitz.
Der Krieg kam im Dezember 1944 immer näher. Meine Eltern wussten sicher, dass die Russen durchbrechen werden. Aber sie durften uns das überhaupt nicht sagen. Wir Kinder haben nichts davon gewusst. Aber mein Vater war im OKW und hat das sicher gewusst.
Und nun kommen die ganz verworrenen Geschichten:
Im Januar 1945 sind wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule gebracht worden. Nun konnte man entweder die 10 km mit der Kutsche zur Bahnstation Sarben gebracht werden und dann mit dem Zug über Schneidemühl nach Kolmar fahren. Oder man konnte mit der Kutsche diese 40 km durch den Wald fahren. Das war ja nicht unmöglich für die Pferde. Also sind wir manchmal direkt nach Kolmar gebracht worden. Manchmal eben nur bis zur Bahnstation. Eineinhalb Jahre sind wir dort zur Schule gegangen.
Die beiden Schwestern Hella (oben 1943) und Else (unten 1944) mussten alleine die Flucht nach Berlin antreten.
Nach diesen Weihnachtsferien 1944/45 sind wir im Januar ab Sarben mit dem Zug gefahren. Der Wald war schon so von Partisanen durchsetzt, dass die Kutscher sich weigerten, uns Kinder durch den Wald zu fahren. Ich war damals zwölf und meine Schwester 14 Jahre alt.
Die Schule ging noch ziemlich regelmäßig. Das heißt: Meine Schwester wurde bereits abgestellt, um große Mengen Butterbrote für die ersten Flüchtlingstrecks zu schmieren. Die zogen schon von Ostpreußen aus bei uns durch. Aber das wurde sehr geheim gehalten. Das sollte man nicht erzählen.
Im Warthegau war es verboten zu flüchten. Aber weiter östlich, wo die Russen schon vorgedrungen waren, wurde die Flucht freigegeben. Sukzessive konnten dort die Trecks in Marsch gesetzt werden.
Ich weiß aus Erzählungen, dass meine Tante, die ja aus dem Baltikum kam und die Russen kannte, längst große Erntewagen vorbereitet hatte. Sie hatte die mit Planen ausfüttern lassen und vom Stellmacher große gebogene Stangen über die Wagen zimmern lassen. Alles war schon mit Stroh gefüllt. So standen die Wagen bereits in der Remise und waren zur Flucht fertig. Und das war auch nachher die Rettung für meine Mutter und meinen Bruder. Und für die Frauen, die dort von dem Gut flohen.
Mein Vater ist in den Tagen um den 15. oder 17. Januar vom OKW nach Posen geschickt worden, um dort noch einen Lehrgang zu gestalten. In dem Moment, als dann am 20. Januar die Nachrichten kamen, dass die Russen durch die Linie durchgebrochen wären, die die deutschen Soldaten gezogen hatten, war er in Posen. Meine Mutter hatte ihn dort besucht.
Mein Vater sollte dort sogar noch zum Volkssturm eingezogen werden. Man kam bis 60, 70 Jahren in den Volkssturm. Alles, was laufen konnte, von 14 Jahren an. Der Volkssturm nahm alles, was überhaupt ein Gewehr halten konnte. Mein Vater war damals 48 Jahre alt. Meine Mutter war sieben