Amerikanerin werden: Tagebuch einer Annäherung
By Lotta Suter
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Doch wie kann man heimisch werden in einem Land, das sich mit Mauern gegen die Außenwelt abschottet? Wie wird man Bürgerin in einem Staat, der hart erkämpfte Bürgerrechte wieder infrage stellt? So freundlich und großzügig die Mitmenschen sind, so gehässig und vergiftet ist das politische Klima in der Hauptstadt. Wie lebt man mit dieser Spannung?
Lotta Suter hat ein Jahr lang Tagebuch geführt, um diesen Fragen in ihrer Umgebung und in sich selbst nachzugehen. Dabei verflechten sich unscheinbare Details des Alltags in Vermont und weltpolitische Überlegungen zu einem Sittengemälde der USA von heute.
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Amerikanerin werden - Lotta Suter
Alright
Januar 2017
Lily for President!
1. Januar
»First Night« heißt hier in den USA nicht bloß die Premiere im Theater oder im Konzertsaal, sondern auch der Übergang vom alten ins neue Jahr. Für mich ist es das erste Silvester in meiner Wahlheimat Vermont.
Es ist ländlich ruhig hier. Die Landschaft liegt tief verschneit. Ich schnalle meine Schneeschuhe an, rufe meinen Hund und folge den Spuren, die meine sportliche Nachbarin offenbar vor kurzem erst in das weiche Feld gelegt hat. Ich stampfe den Hügel hinauf und blicke zurück auf unser rotes Backsteinhaus mit den grauen Holzschindeln und auf die waldigen Anhöhen, in die es eingebettet ist. Die Aussicht ist nicht so dramatisch wie in den Schweizer Alpen. Die »grünen Berge«, die dem kleinen Bundestaat an der kanadischen Grenze seinen Namen gegeben haben, ähneln dort, wo sie besonders schroff sind, den Voralpen, in sanfteren Regionen erinnern sie an finnische Seenlandschaften. Mir gefällt ganz einfach, wie abwechslungsreich und angenehm die Hügel und Täler für das Auge sind. Wie geborgen ich mich, die ich in einem Tal inmitten von Bergen geboren und aufgewachsen bin, in dieser Landschaft fühle, die die Sicht auf die Welt nicht ganz versperrt, jedoch einrahmt und so die endlose Weite auf ein menschliches Maß reduziert.
Der Himmel ist diesig. Es schneit nur leicht, aber stetig. Mein Hund und ich sind seit ungefähr einer Stunde unterwegs, als ich auf meine Nachbarin und ihren Hund treffe. Sie gesteht mir, dass sie sich verlaufen und jede Orientierung verloren habe. Wir stehen nun vor der Wahl: Wir können auf unseren alten Spuren den sicheren Heimweg antreten. Oder wir können versuchen, uns mithilfe von zwei Mobiltelefonen und verschiedenen Apps in bekannte Gefilde zurückzulotsen. Wir entscheiden uns für die gewagtere, aber auch interessantere zweite Variante. Es ist erstaunlich schwierig, im tiefverschneiten und ziemlich verwilderten Wald Erhebungen und Senkungen auszumachen. Das lückenhafte Funknetz erlaubt uns außerdem nur gelegentliche Blicke auf den digitalen Kompass. Keine Spur von Zivilisation. Bloß Fährten von Rehen, von Hasen, von Vögeln. Die Bären ruhen zurzeit hoffentlich alle in ihrem Winterquartier.
Unvermittelt enden Bäume und Unterholz, und wir stehen in einer kleinen Siedlung mit sauber geräumten Pfaden und bekannten Namen. Es ist schon dämmerig, als wir wieder von der Straße abzweigen und über weite Felder heimwärts ziehen. Jede in ihre eigene gut geheizte Stube. Mit den allerbesten Wünschen zum neuen Jahr.
Ich habe an diesem Silvesternachmittag gelernt, dass ich noch kein sicheres Gespür für meine neue Umgebung entwickelt habe – und dass ich mich in dieser Lage nicht unbesehen auf andere verlassen sollte. Die Erkenntnis ist für mich als gestandene Bergsteigerin und Tourengängerin natürlich nicht neu. Doch die Lektion bedurfte offenbar einer Auffrischung.
Dabei könnte ich es belassen, wenn mein Bezug zum Jahreswechsel nicht hoffnungslos sentimental, ja fast ein wenig abergläubisch wäre. So aber nehme ich den abenteuerlichen Auftakt zur »ersten Nacht« als bedeutsames Omen für mein erstes Jahr in Vermont – das auch mein erstes Jahr unter dem neugewählten Präsidenten Donald Trump sein wird.
3. Januar
»The Twelve Days of Christmas« – gemeint sind die zwölf Weihnachtstage vom 25. Dezember bis zum 6. Januar – ist eines der ersten Lieder in englischer Sprache, die meine Kinder vor zwanzig Jahren nach unserem ersten Umzug in die USA auswendig lernten. Der Zählreim aus dem 18. Jahrhundert nennt immer ausgefallenere Geschenke, die sich der Geliebte für seine Angebetete zu Weihnachten ausdenkt: ein Rebhuhn in einem Birnbaum, zwei Turteltauben, drei französische Hennen, vier Drosseln, fünf goldene Ringe, sechs eierlegende Gänse, sieben schwimmende Schwäne, acht melkende Mägde, neun tanzende Damen, zehn hüpfende Herren, elf pfeifende Pfeifer und zwölf trommelnde Trommler. Zum Vergnügen meiner jungen Sängerinnen und Sänger gab es für sämtliche zwölf Verse – vor allem aber für die eierlegenden Gänse – eine passende Gebärde. Der Versuch, diese kuriosen Liebesgaben in der richtigen Reihenfolge zu gestikulieren, ergab eine ausgelassenere Feststimmung als »Stille Nacht«. Doch wir sangen natürlich auch dieses klassische Weihnachtlied. Außerdem stimmten wir Melodien aus Paul Burkhards »Zäller Wiehnacht« an, die die Kinder noch vom Schweizer Schulbesuch her kannten. »Was isch das für e Nacht! Hät eus de Heiland bracht und us de arme Mänsche riichi gemacht.«
Kulturell mischten und ergänzten sich europäische und amerikanische Festtagstraditionen von Anfang an ziemlich problemlos. Mir gefällt es, dass sich die holiday season hier über fast zwei Wochen erstreckt und wir so mehr Zeit haben, um auch entfernter lebende Freunde und Familienmitglieder zu empfangen oder zu besuchen. Wenn Einladungen sehr kurzfristig sind oder wenn sehr viele Gäste kommen, behilft man sich mit einem »Potluck Dinner«, einem Essen, zu dem jeder und jede etwas beisteuert. Das ist nicht immer ein kulinarischer Höhepunkt – Potluck bezeichnet schließlich das, was zufällig gerade im Kochtopf ist. Doch solche spontanen und etwas chaotischen Zusammenkünfte ergeben oft die interessanteste und fröhlichste Gesellschaft. Das habe ich hier in Vermont bereits mehrmals erlebt. Ich nehme mir für das neue Jahr vor, meine gutschweizerischen Bewirtungsansprüche etwas zu lockern und Potlucks im neuen Jahr endlich auch bei mir zu Hause einzuführen!
Bereits kurz nach unserem ersten Umzug in die USA in den Neunzigerjahren hatte ich die Schulkameraden meiner Kinder mit dem Dreikönigskuchen bekannt gemacht; denn auch in einer ausgesprochen antiroyalistischen Gesellschaft wie den USA wird fast jede gerne ab und zu gekrönt und verwöhnt. Unsere Familie lernte schnell, dass der Austausch von lokalem Brauchtum den Integrationsprozess beschleunigen oder überhaupt erst erschließen kann. Das Fremde wirkt in solch folkloristischem Zusammenhang unbedrohlich, die Neugier auf Andersartiges ist geweckt, auch wenn das Andere zunächst eher oberflächlich, ritualisiert und unpolitisch daherkommt.
In diesem Jahr sind die zwölf Weihnachtstage im Familienkreis für mich persönlich auch eine Schonfrist. In nur zwei Wochen wird der im November überraschend gewählte Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden. Ich bin immer noch schockiert, deprimiert und verunsichert. Laut quake ich – nun nicht mehr mit meinen Kindern, sondern zusammen mit meinen schweizerisch-amerikanischen Enkelinnen – als eierlegende Gans. Auf dass die melkenden Mägde, tanzenden Damen, hüpfenden Herren, pfeifenden Pfeifer und trommelnden Trommler bald eine bessere Zukunft verkünden.
5. Januar
Heute Morgen habe ich zum zweiten Mal mit Laura Flanders geskypt. Ich kenne und schätze Laura als Berufskollegin. Die gebürtige Britin kam als junge Frau nach New York und hat sich dort in den letzten dreißig Jahren eine beeindruckende Karriere als unabhängige Medienschaffende aufgebaut. Als mich die Wochenzeitung WOZ Ende Dezember bat, für das vierteilige Monatsinterview im Januar einen geeigneten Gesprächspartner oder noch lieber eine interessante Gesprächspartnerin zu finden, dachte ich gleich an Laura Flanders.
Heute sprechen wir über unsere eigene Arbeit. »Je länger ich journalistisch tätig bin, desto weniger will ich bloß abbilden, was geschieht«, sagt Laura via Skype. »Wir linken Medienschaffenden müssen nicht bloß neue interessante Leute ins öffentliche Gespräch bringen, wir müssen dieses öffentliche Gespräch auch gestalten. Zeigen, wie man Fragen stellt, wie man Informationen herausholt, wie man engagierte Personen und ihre Anliegen miteinander verbindet.« Lauras Traum ist ein internationales Medienportal, das zum großen Teil von den Bewegungen selbst gestaltet wird. Bereits heute moderiert Laura eine wöchentliche Fernsehsendung, die »Laura Flanders Show«, wo sich Aktivistinnen und Aktivisten in langen Gesprächen austauschen. Das widerspricht natürlich den Mediengewohnheiten der Tweet- und Instagram-Generation. Und ich gestehe, dass auch ich selber die nötige Geduld für solch gründliche Diskussionen nicht immer aufbringen kann. Doch dieses Nachdenken ist um einiges gesünder als die fiebrige Aufgeregtheit und der ermüdende Sensationalismus, die die großen Medien seit November verbreiten.
Im ersten Skype-Interview, das aus produktionstechnischen Gründen just heute in der WOZ erscheint, fragte ich Laura Flanders natürlich nach ihrer Reaktion auf die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump. Ich tat es eher ungern, denn bisher haben derartige Gespräche mit Bekannten und Kolleginnen die eigene Mut- und Hilflosigkeit eher noch verstärkt. Auch Laura Flanders begann ihr Fazit in Untergangsstimmung: »Ich komme eben von einem Besuch bei meiner ehemaligen Geschichtslehrerin in London zurück, einer linksradikal denkenden US-Amerikanerin. Sie war in der demagogischen McCarthy-Ära nach England geflüchtet, und Trumps Aufstieg traf sie besonders hart. Sie fragte mich immer wieder: ›Was werdet ihr tun?‹« Im Verlauf unseres Skype-Gesprächs wurde Laura jedoch immer zuversichtlicher. Die Aufgabe der linken Medien habe sich ja nicht wirklich geändert, meinte sie. Nach wie vor müssten diese die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen, und zwar konsequenter als das die etablierte Presse tue, die während der Präsidentschaft von George W. Bush und Barack Obama brisante Informationen zu Themen wie Folter und Überwachung der Bevölkerung auf Wunsch der Regierung unter Verschluss gehalten hat.
Laura endet mit einem Aufruf zum Handeln: »Wir müssen protestieren wie verrückt. Doch wir müssen dringend auch lebenswichtige Alternativen aufbauen, denn Trump wird es nicht tun. Wir alle werden unter seiner rechtsextremen Regierung viel Widerstandsfähigkeit, Ausdauer und Stärke, aber auch Schutz und gegenseitige Hilfe brauchen. Das gibt uns die Chance, Institutionen zu schaffen und zu stärken, die wir im 21. Jahrhundert in unserem Leben haben wollen. Als ich 1981 von London in die USA auswanderte, begann mit Ronald Reagan der Aufstieg des Neoliberalismus, der jetzt zu Ende geht. Das ist ein spannender Moment. Auch für die Linke.«
Ich habe mich nach diesem Interview etwas ausgeglichener gefühlt als nach den hochemotionalen Gesprächen mit meinen amerikanischen Bekannten. Und ich habe mich gefragt, wie sehr Laura Flanders’ gelassenere Einschätzung mit ihrer britisch-amerikanischen Identität zu tun hat. Mit der Tatsache, dass sie die USA gut kennt, jedoch nicht nur die USA. Dass sie, so wie ich, aufgrund der eigenen Biografie die Trump-Wahl in Beziehung setzen kann zu Wutwahlen in anderen Ländern und insbesondere auch zu andern dunklen und krisenhaften Zeiten in der Geschichte der USA.
Denken wir an die McCarthy-Ära der Fünfzigerjahre, in der die politische Opposition pauschal als »kommunistisch« und »unamerikanisch« verurteilt und zensiert wurde. Darauf folgte in den Sechzigerjahren die brutale Repression gegen die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Der Vietnamkrieg teilte die Nation Anfang der Siebzigerjahre in zwei unversöhnliche Lager. Und der Aufstieg des Neoliberalismus in den Achtzigerjahren endete für die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner zwei Jahrzehnte später abrupt mit einer Wirtschaftskrise. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 verschärften die schleichende Militarisierung der US-amerikanischen Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hin zu einem eigentlichen Kriegszustand, den Präsident Barack Obama in seiner achtjährigen Regierungszeit bloß ansatzweise befrieden konnte oder wollte. Und nun ist wieder ein Mann an der Macht, der im Wahlkampf lauthals verkündete: »Macht euch nichts vor, Folter funktioniert. Und wenn sie nicht funktioniert, haben die Feinde sie trotzdem verdient.«
Das ist in der Tat ein vorläufiger Tiefpunkt. Doch im allgemeinen Wehklagen über die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump, der dieses Land und seine Bevölkerung polarisiere und auseinanderdividiere, weisen vorab afroamerikanische Publizisten und Journalistinnen darauf hin, dass die USA noch nie »ein einig’ Volk« gewesen sind, noch nie eine geeinte Nation frei von Rassismus, Sexismus et cetera. Ja, sie stellen die These auf, dass die Geschichte dieser Nation – von der Vertreibung der Native Americans über die Sklaverei bis zur rassistisch gefärbten Immigrationspolitik – geradezu auf solchen Spaltungen aufgebaut ist.
Im Kontrast zu dieser historisch bewussten Sichtweise ist für viele (weiße) US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die ich kenne, die unmittelbare Gegenwart – derzeit eine im Zerrspiegel der Medien hochpersonifizierte Gegenwart – das absolute Maß aller Dinge. Immer wieder, und jetzt mit dem theatralischen Reality-TV-Präsidenten ganz besonders, erleben sie ihre Umwelt aufs Neue als einmaligen Ausnahmezustand. Das zerrt an den Nerven und heizt die Empörung an, führt jedoch kaum zu einer nachhaltigen politischen Veränderung.
8. Januar
Nach zwei Monaten hat sich die erste Aufregung um die Präsidentschaftswahl etwas gelegt. Doch unsere Befindlichkeit ist eine andere geworden. Im Supermarkt diskutieren Kunden und Personal, ob sie nicht doch besser nach Kanada auswandern sollten (in Vermont hat weniger als ein Drittel der Wählenden für Trump gestimmt). Der Handwerker, der gekonnt und bedächtig unser Haus umbaut, ärgert sich immer noch, dass viele Bernie-Sanders-Fans (zu denen er sich selber auch zählt) im letzten Herbst den Wahlen ganz ferngeblieben sind. Ich selber tue mich schwer damit, dass die ansonsten ausgesprochen freundliche ältere Frau von gegenüber sich nach der Wahl so sehr darüber freute, dass »die schreckliche Hillary« nicht gewählt worden ist. Und was ist bloß in den Elektriker gefahren, der unser gut fünfzig Jahre altes Haus neu verkabelt hat? Er ist ein fröhlicher und äußerst hilfsbereiter Mensch, der spontan mit seinem Traktor anrückte und ein großes Stück Wiese umpflügte, weil er gehört hatte, dass wir da unseren Gemüsegarten anlegen wollten. Bezahlung wollte er dafür keine. »Das gehört sich so, unter Nachbarn«, sagte er. Dann ging er hin und wählte den Superegoisten Trump.
Gleich nach dem knappen Wahlsieg Trumps verschickte ein Schwager von mir verzweifelte Mails, um eine Petition zu starten beziehungsweise zu unterstützen, die das Elektoratskollegium sozusagen rückwirkend dazu verpflichten würde, dem Volksmehr zu folgen, in diesem Fall also Hillary Clinton zu wählen. Ein anderer Verwandter stimmte dem Onlineaktivisten im Prinzip zu, die Institution der Wahlmänner sei wirklich veraltet und überholungsbedürftig. Doch, fügte er hinzu, eine »rückwirkend« installierte US-Präsidentin würde wohl kaum genügend politische Legitimität besitzen. Nach diesem vernünftigen Einwand überschwemmte der Schwager uns mit noch glühenderen Appellen. Der ansonsten eher unpolitische Zeitgenosse war derart außer sich und moralisch empört über die Trump-Wahl, dass er sie einfach nicht wahrhaben wollte oder konnte.
Unser engerer Familienclan hatte sich bereits in der Wahlnacht zu einer textenden Trost- und Trauergemeinschaft zusammengetan. Bis heute wettern und witzeln wir abwechslungsweise über die tragisch-komische Figur Trumps. Was meine beiden Enkelinnen, sieben und zehn Jahre alt, von all dem mitbekommen, wage ich gar nicht zu denken. Mit viel Geduld bringen wir Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten unserem Nachwuchs bei, dass Mobbing, Sexismus und Rassismus unakzeptabel sind. Und dann sehen die Kinder, dass knapp die Hälfte der Erwachsenem in ihrem Land einen Mobber, Rassisten und Sexisten als Präsidenten haben wollen. Das ist eine bittere Staatskundelektion.
20. Januar
Heute wird Donald Trump als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Der Fernsehbildschirm zeigt den monarchischen Pomp, mit dem dieser im Grunde demokratische Akt in den USA üblicherweise begangen wird: Limousinenkorso und Fähnchen schwenkendes Publikum, Galauniformen und eine historische Bibel (diesmal mit Schutzhülle gegen das unfreundliche Wetter). Einzig das kulturelle Rahmenprogramm ist dieses Jahr etwas glanzlos und die Musik klingt dünn, denn viele prominente Künstlerinnen und Künstler haben den sonst heißbegehrten Auftritt im präsidialen Rampenlicht aus politischen Gründen verweigert. Ich höre also der sechzehnjährigen Jackie Evanco zu, die die US-amerikanische Landeshymne »The Star Spangled Banner« (Das sternenbesetzte Banner) vorträgt. Kindlich rein singt sie den Text, der eine blutige Seeschlacht vor Baltimore im britisch-amerikanischen Krieg von 1812 beschreibt. Ein patriotischer Deutschamerikaner hat diesen Liedtext 1851 sinngetreu so übersetzt: »Hoch flattere die Fahne in herrlicher Pracht / beim Leuchten der Bomben durch dunkle Nacht.«
Mit Wehmut denke ich an den Auftritt der Jazz- und Soulsängerin Aretha Franklin zurück, die 2009 für die Amtseinsetzung von Barack Obama ein anderes patriotisches Lied aus dem 19. Jahrhundert darbot, »My Country ‘tis of thee« (Mein Land, von dir ist’s). Es war dieses Lied, das der schwarze Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King im August 1963 in seiner berühmten Rede »Ich habe einen Traum« zitierte. Die erste Strophe endet mit der Aufforderung »Let Freedom Ring«, lasst die Freiheit klingen. Die siebenundsechzigjährige Aretha Franklin im extravaganten Hut, selber eine bekannte Figur der Bürgerrechtsbewegung, sang die Worte damals so stolz und überzeugend, dass das Befreiende des historischen Tages, an dem der erste schwarze Präsident der USA sein Amt antrat, nicht zu überhören war.
Noch eine kleine, jedoch wichtige Besonderheit der heutigen Zeremonie: Der frischvereidigte Präsident präsentiert anders als die meisten seiner Vorgänger die USA nicht als »leuchtende Stadt auf dem Hügel«. Er appelliert nicht an hochstehende Ideale. Er ruft die Nation nicht, wie es in den Antrittsreden nach den jeweils polarisierenden Wahlkämpfen der Brauch ist, zu Versöhnung und Einigkeit auf. Er strömt keine kollektive Zuversicht aus, wie es Barack Obama mit seinem Slogan »Yes, we can« tat. Ganz im Gegenteil. Donald Trump malt die Lage der Nation in den düstersten Farben. Amerika sei ein Schlachtfeld, sagt er mit erhobenem Zeigefinger – und macht klar, dass er allein als weißer Ritter die Rettung bringen kann.
Am Abend werfe ich noch einen TV-Blick auf den ersten der großen Festtagsbälle, bei denen das frischvereidigte Präsidentenpaar jeweils wie ein Brautpaar bei der Hochzeit den Anlass eröffnet. Es ist kaum eine Überraschung, dass Donald Trump überhaupt nicht tanzen kann. Dazu müsste er ja Töne und Rhythmen wahrnehmen können, die von außen kommen – und seine Bewegungen danach richten. Das liegt ihm nicht. Unbeholfen stampft er von einem Fuß auf den andern. Erst als Vizepräsident Mike Pence und seine Frau auf die Tanzfläche treten, merkt man, dass das Stück – es ist bezeichnenderweise Frank Sinatras Oldie »I Did It My Way« (Ich hab’s auf meine Art getan) – eigentlich ein Walzer ist. 1-2-3 gewinnt das zweite Paar den inoffiziellen Tanzwettbewerb.
21. Januar
Beim Frühstück entscheiden mein Mann und ich spontan, diesen Samstagmorgen an einem Schnupperkurs über Bienenhaltung in der nahegelegenen Bibliothek von Montpelier teilzunehmen. Mein Mann liebäugelt mit der Imkerei. Ich finde es verlockend, für ein paar Stunden aus dem nasskalten grauen Winter und der nicht minder düsteren Politik in hellere, freundlichere Gefilde zu entfliehen. Ich freue mich auf Bilder von sattgrünen Sommerwiesen mit Blumen in allen Farben und summenden Bienen – und ich werde nicht enttäuscht. Die Referentin, selber erstaunlich bienenförmig und summend, erzählt uns von den Freuden (und nur andeutungsweise von den Leiden) des Imkerdaseins. Wir schwelgen in dieser Welt, wo nichts als Honig fließt.
Nach dem Kurs treffen wir auf der Straße vereinzelt Frauen in rosa Mützen, die wohl am »Women’s March« teilnehmen werden, der an diesem Nachmittag wie in Hunderten von anderen Städten auch in der Hauptstadt von Vermont geplant ist. Ich schlage vor, zu Hause schnell ein Sandwich zu essen, dann kann mich mein Mann, der zurzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht marschieren kann, ins nahegelegene Städtchen zurückchauffieren.
Dieser Zeitplan ist der zweite große politische Irrtum einer gestandenen Journalistin binnen kurzer Zeit. Im Herbst 2016 hatte ich verkannt, wie viele Menschen in den USA einem Mann wie Donald Trump ihre Stimme geben würden. Nun, gut drei Monate später, unterschätze ich, wie viele Menschen schon einen Tag nach seiner Amtseinsetzung auf die Straße gehen würden, um gegen diese Wahl zu protestieren.
Schon auf der Heimfahrt am späten Vormittag staunen wir über das für diese ländliche Gegend ungewöhnlich starke Verkehrsaufkommen. Eine Stunde später ist alles verstopft. Courant normal vielleicht für Stoßzeiten rund um Boston oder New York oder Zürich. Doch Montpelier ist mit weniger als achttausend Einwohnern die bevölkerungsärmste Hauptstadt aller US-Bundesstaaten. Woher kommen all diese Leute?
Wir wählen eine alternative Route über die lokale Autobahn – ein weiterer Fehler. Im Schritttempo legen wir die paar Kilometer zur Ausfahrt Montpelier zurück. Als wir dort ankommen, liegen Leuchtkörper auf der Straße und eine junge, sichtlich überforderte Polizistin fordert uns zum Weiterfahren auf. Diese Ausfahrt sei gesperrt, wiederholt sie immer wieder, während sich die Fahrzeugschlange langsam an ihr vorbeibewegt.
Wir rollen weiter. Vor und hinter uns und auch auf den Gegenfahrbahnen sehen wir Nummernschilder aus ganz Neuengland: Connecticut, Maine, Massachusetts, New Hampshire, Rhode Island. Auch Autos aus New York State und aus Kanada sind darunter. Viele Fahrer, hupen, winken, schwenken bunte Fahnen. Wir verlassen die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt und fahren auf Schleichwegen nach Montpelier zurück.
Offenbar hatten wir Glück. Kurze