Die historische Sachkultur in Pommern und Walter Borchers
By Kurt Dröge
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Über etwa zehn Jahre hinweg, von 1930 bis 1940, hat Walter Borchers im Pommerschen Landesmuseum in Stettin eine wissenschaftliche Museumsvolkskunde aufgebaut. Seine Tätigkeit wurde dort nach 1945 von polnischen Ethnographen fortgesetzt. Die Darstellung widmet sich diesem in der Öffentlichkeit unbekannten Kontinuum. Vom Begriff der Volkskunst ausgehend zeichnet sie den dokumentarischen Umgang mit der historischen Sachkultur in Pommern nach.
Kurt Dröge
Sammler und Autor, der vornehmlich an historischer Alltags- und Regionalkultur interessiert ist.
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Book preview
Die historische Sachkultur in Pommern und Walter Borchers - Kurt Dröge
Inhalt
Sachkultur, Volkskunst und Pommern
Zur Entstehung der Museumsvolkskunde in Stettin
Zur Biographie von Walter Borchers im Hinblick auf die Zeit seines Wirkens in Pommern (1930-1940)
Ein Jahrzehnt volkskundliche Museumsarbeit
Museumssammlung, -dokumentation und -forschung
Anmerkungen zur Volkskunst
Schausammlung, traditionelles Handwerk und Museumsreplikat
Vermischtes Sachgut
Polnische ethnographische Dokumentationen in Pommern nach 1945
Rückblick und Ausblick
Chronologisches Verzeichnis der Schriften zur Volkskunde in Pommern von Walter Borchers
„Befragung" vor dem Hoftor in einem unbekannten Dorf in Hinterpommern - Fotografie aus den 1930er Jahren im Dokumentationsbestand von Walter Borchers
Sachkultur, Volkskunst
und Pommern
Unter der historischen Sachkultur oder materiellen Alltagskultur werden im allgemeinen, wie auch hier, all jene Dinge aus dem alltäglichen Leben verstanden, die in Museen verwahrt werden, auf alten Bildern zu sehen oder in schriftlichen Aufzeichnungen über die Lebensweise der Bevölkerung in geschichtlichen Zeitabschnitten enthalten sind. Sie reichen von den Häusern, in denen gewohnt wurde, über die Wohnkulturformen etwa mit Möbeln, Hausrat und Textilien sowie die Bekleidung bis zu dinglichen Erzeugnissen aus dem Arbeitsleben des agrarischen, maritimen, handwerklichen, industriellen oder digitalen Sektors.
Als der Begriff der materiellen Alltagskultur, der aus den 1970er Jahren stammt, noch eingeschränkt war auf die agrarischen, vorindustriellen Lebens- und Arbeitsformen, wurden für ihn die Termini volkstümliche Sachkultur oder auch sachliche Volkskultur benutzt. Diese schlossen technisierte Objekte aller Art aus, soweit sie nicht mehr im Handbetrieb betätigt oder gefertigt werden konnten. Die Termini schlossen aber auch ein, dass die Volkskultur etwas Regionales, Gewachsenes, Traditionelles, Bodenständiges, „Bäuerliches war, das sich von „höheren
adligen oder bürgerlichen Formen unterschied (obgleich die Bauern auf dem Land sehr häufig selbst die Oberschicht gebildet haben).
Dieses Verständnis ist in Deutschland, statt – wie später dann – ausdifferenziert und historischen Erklärungen zugeführt zu werden, im Nationalsozialismus stark vereinfacht, ideologisiert und instrumentalisiert worden: im sogenannten Volkstumskampf, der mit dem nationalen Element alle regional-kleinräumigen – und Staatsgrenzen übergreifenden – Kulturerscheinungen auch dinglicher Art überdeckte. Hiervon war die für die Sachkultur „zuständige" Fachdisziplin der Volkskunde, die in den 1930er Jahren erst wenige Jahrzehnte bestand, ganz besonders betroffen. Das hielt sie jedoch auch zu jener Zeit nicht davon ab, in den Museen als allgemein wichtig und aussagekräftig angesehene volkstümliche Sachgüter der Vergangenheit zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und auszustellen.
Als volkstümlich angesehen wurden – in jener Zeit, aber auch noch weit darüber hinaus – hauptsächlich oder ausschließlich solche Objekte, die über ihre reine Funktion hinaus auch eine ästhetische Komponente beinhalteten. Dekore, Verzierungen und Ausschmückungen aller Art, die – erkennbar oder vermeintlich – nicht von bürgerlichen Stilentwicklungen oder technisierten Herstellungsprozessen beeinflusst waren, sondern nach „eigenen" Gesetzen zustande kamen, bildeten das Zentrum des Interesses und wurden summarisch als Volkskunst bezeichnet. Die volkstümliche Sachkultur und die Volkskunst wurden damit in weitgehendem Maße gleichgesetzt.
Daraus haben sich bereits im 19. Jahrhundert, in einer zweiten Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einer dritten ab den 1970er Jahren Diskussionen und Problematisierungen entwickelt im Hinblick auf die Frage, wie die Volkskunst zu definieren und ob dieser Begriff überhaupt (noch) zu rechtfertigen war.¹ Zu Beginn wurde er mit dem Hausfleiß in Verbindung gesetzt, der allein „echte Volkskunst ermöglichen sollte – eine Auffassung, die sich noch lange halten sollte.² Die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts propagierten in und mit der Volkskunst eine „Faszination des Ursprünglichen
.³ In den 1920er Jahren entspannen sich Erklärungsvarianten zum Wesen der Volkskunst zwischen dem Mythos als Grundlage der Bauernkunst, dem Ausdruck des Gemeinschaftsgeistes eines Volkes oder einer modellhaften primitiven Gemeinschaftskultur.⁴
Durch die meisten Diskussionen zog sich, fast wie ein roter Faden, die Wiederbelebung alter Handwerkstechniken als bürgerliche Forderung des 19. Jahrhunderts, die einer romantischen Bewertung (und nicht selten biedermeierlichen Umwertung) diente und über Jahrzehnte hinweg angesichts von Verlusterfahrungen aufgrund industrieller Umwälzungen auch und vor allem kultureller Art zur Rekonstruierung von Überbleibseln einer „heilen Welt" aufrief. An dieser Stelle spielte das Kunsthandwerk als weiterer Begriff auch reformerischer Bestrebungen hinein, der in mancherlei Hinsicht von der Volkskunst schwer zu trennen gewesen ist.⁵ Auf einer anderen Ebene wies die Volkskunst, seit sie diskutiert worden ist, immer eine Beziehung auch zu nationalen Identitäten auf (was auch und gerade für Pommern von Belang war).⁶ Im Weltkrieg konnte dann von einzelnen ideologisch fanatisierten Volkskundlern die nationalistisch fixierte Deutsche Volkskunst zuweilen bis hin zur „Erbträgerin indogermanischer Kunst"⁷ überhöht werden.
In Gegenpositionen etwa zur Theorie vom gesunkenen Kulturgut, nach der die Volkskunst letztlich als reiner Rezeptionsvorgang gesehen wurde, sprach man ihr lange zwar konstruktive Elemente eines regionalen oder örtlichen Eigenlebens zu, beließ sie allerdings weitgehend im Status eines geschichts- und zeitlosen Phänomens. Grundlegende Periodisierungs- und damit Historisierungsversuche fanden, analog zu den „gewohnten" Epochenbildungen einer oberschichtlichen Stilkunst, erst mehrere Jahrzehnte später statt, auch unter dem Einfluss europäischer Volkskulturforscher in anderen Ländern. Dennoch haben auch einzelne Volkskundler der 1930er Jahre, wenn sie von den „Stufen des Wandels" sprachen, Epochenbildungen und Periodisierungen von Volkskultur am Beispiel bestimmter Erscheinungen gemeint, wenngleich ohne systematisierenden Zugriff.
Begriffliche Erweiterungen bezogen sich dann, ebenfalls später, auf alle Gegenstände, die nicht nur von der ländlichen, sondern auch von der kleinstädtischen Bevölkerung als künstlerisch angesehen und konsumiert wurden. Vor allem die Problemstellung der hausgewerblichen Produzentenschaft öffnete sich damit, auch in Richtung bestimmter Erzeugnisse einer Massenkultur (Andenken, Drucke), bei welcher der Gebrauch durch die Menschen als bedeutend wichtiger erachtet wurde als die Frage nach den Herstellern und deren „echter Handarbeit". Im Anschluss an diese Positionen galt fortan mehr der definitorische Ansatz Kunst für das Volk als jener der Kunst des Volkes.
Überwunden wurden alle ideologisch oder idealistisch fixierten Sehweisen mit ihrer Einschränkung auf agrarisch-vorindustrielle Volkskulturen, Werthaltungen und „Volkstumslehren" ab den 1970er Jahren. Sinnbildhafte ästhetische Momente bildeten fortan in der Dokumentation und Erforschung historischer Alltags- und Populärkulturen nicht mehr den nahezu alleinigen Zugriffsfaktor, sondern schichtenübergreifend wurde der Blick geöffnet für systemisch-ganzheitliche Betrachtungen, die sich von vorgefertigten Gesellschaftsmodellen gelöst hatten. Damit wurde auch erreicht, dass die Kitsch-Diskussion nur als Nebenlinie betrieben wurde. Volkskunstforschung und allgemeine Realienforschung blieben zwar zusammengehörig, aber die Aspekte der Ästhetik, Stilistik und Bedeutungshaftigkeit gingen in allgemeineren soziokulturellen und sozialräumlichen Fragestellungen auf.
Die Alltagskultur der letzten 100 Jahre⁸ und der Umgang mit Sachen⁹ traten mit in das Blickfeld der Museumsvolkskunde, und auch für ältere Zeiten fand generell eine Historisierung von Volkskultur und vor allem von Volkskunst statt, deren Formen, so zeigte sich, zumeist aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammten und auf ganz konkrete gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen zurückzuführen waren. Pointiert formuliert wurde die vermeintlich altüberlieferte Volkskunst, die ein Spiegel früher nationaler Bewegungen bis hin zu vorgeschichtlichen Urgründen gewesen sein sollte, zu weiten Teilen als eine „Erfindung des Bürgertums" im Sinne von gesellschaftlich-sozialen Absetz- und Abgrenzungsbewegungen erkannt.
Zugleich fand der Versuch einer Begriffserweiterung von Volkskunst statt, indem die Erzeugnisse ästhetisch bestimmten Schaffens durch Laien auch in der Industrie- und Digitalgesellschaft subsummiert werden sollten. Man wird aber wohl feststellen dürfen, dass der Volkskunst-Begriff für solche modernen und postmodernen Prozesse von anonymer Kreativität nicht mehr tragfähig genug ist aufgrund seiner auch im allgemeinen Sprachgebrauch zu sehr festgelegten historischen inhaltlichen Füllung. Hierüber wird es sicherlich auch zukünftig die eine oder andere Diskussion geben.¹⁰
Als Erfordernis blieb, noch drängender als zuvor erkannt, die Erforschung aller überkommenen Sachgüter in ihrer Verbreitung, Funktion und Bedeutung im Gesellschaftsleben oder auch Verankerung im jeweiligen lebensweltlichen Bezugssystem. Im Wissen, dass kulturelle Prozesse regelhaft ablaufen und Bedingungsfaktoren für kulturellen Wandel als solche erkennbar sind, können historische Sachgüter häufig Indizien darstellen für Strukturentwicklungen und auch für deren generalisierende Analyse. „Spitzenstücke" und Besonderheiten volkskünstlerischer Art waren und sind darin eingeschlossen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das bedeutet, unter anderem, dass volkskundliche Museumssammlungen, die seit dem 19. Jahrhundert angelegt und ab den 1920er/30er Jahren verwissenschaftlicht worden sind, einen wichtigen Grundbestand auch bei