Genießen Sie von Millionen von eBooks, Hörbüchern, Zeitschriften und mehr - mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testversion. Jederzeit kündbar.

Nehmen ist seliger als geben: Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte
Nehmen ist seliger als geben: Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte
Nehmen ist seliger als geben: Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte
eBook259 Seiten3 Stunden

Nehmen ist seliger als geben: Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In seinem neuen Buch unternimmt Christoph Fleischmann einen höchst aufschlussreichen und unterhaltsamen Gang durch die Geschichte der Tauschgerechtigkeit – von Aristoteles über die Scholastiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu Thomas Hobbes und den neoliberalen Ökonomen. Dabei stellt er viele Selbstverständlichkeiten der europäischen Moderne infrage und denkt pointiert darüber nach, wie unsere Wirtschaft wieder fairer werden könnte.
Früher galt ein Handel als gerecht, wenn Waren beziehungsweise Ware und Geld gleichen Werts getauscht wurden. Und heute? Ist das neuste Smartphone wirklich 800 Euro wert? Oder das T-Shirt made in Bangladesh bloß 5? Wohl nicht. Spielt aber keine Rolle, denn seit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschafsformen im Mittelalter wird kaum noch Gleiches gegen Gleiches getauscht. Vielmehr gilt ein Handel als gerecht, wenn beide Seiten ihm freiwillig zustimmen – unabhängig davon, ob der Preis dem Wert der Ware entspricht. "It's the economy, stupid", Angebot und Nachfrage: Der "gerechte Preis" ist der, den wir zu zahlen bereit sind.
Fleischmanns Blick geht weit zurück, aber nur, um schließlich in die Zukunft zu schweifen – auf der Suche nach einem Jenseits des Kapitalismus.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum7. Sept. 2018
ISBN9783858698100
Nehmen ist seliger als geben: Wie der Kapitalismus die Gerechtigkeit auf den Kopf stellte
Vorschau lesen

Ähnlich wie Nehmen ist seliger als geben

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Nehmen ist seliger als geben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Nehmen ist seliger als geben - Christoph Fleischmann

    Autor

    Vor dem Campus in Madurai verkaufte eine Frau Ananas. Sie bot ihre Ware auf einem einfachen Holzpritschenwagen an, der am Straßenrand stand. Mit anderen Studenten aus europäischen Ländern verbrachte ich ein Semester am Tamilnadu Theological Seminary in Südindien. Wir hatten gelernt, dass man von Weißgesichtern Touristenpreise verlangte; und wir hatten uns von unseren indischen Kommilitonen sagen lassen, was die Sachen, die wir kaufen wollten, für Einheimische kosteten. Mit diesem Wissen und dem Stolz, keine dummen Touristen zu sein, handelten wir die zuerst ausgerufenen Preise immer noch etwas runter – auch bei der Ananas-Verkäuferin.

    Eines Abends, als ich spät zum Campus zurückkam, sah ich, dass die Frau unter ihrem Verkaufswagen schlief, auf dem Boden, in eine einfache Decke gehüllt. Sie lebte, wie viele andere Menschen in den großen Städten Indiens damals, buchstäblich am Straßenrand. Ich kam mir schlecht vor, gegenüber dieser Frau den Ananas-Preis um ein paar Rupien heruntergehandelt zu haben. Seitdem ich sie dort schlafen sah, habe ich immer lächelnd den von ihr verlangten Preis gezahlt: Die Ananas war ja immer noch billiger als bei uns im Supermarkt. Ich konnte den teureren Preis problemlos zahlen. Nicht nur beim Ananas-Kauf, sondern bei allen Käufen erlebte ich, dass ich als Student aus Europa in Indien ein reicher Mann war: Mit meinen wenigen Dollar konnte ich hier Waren und Dienstleistungen kaufen, die ich mir zu Hause nicht hätte leisten können. Alles war hier viel billiger – nicht nur die Ananas, die durch den Export nach Europa noch im Preis zulegen kann. Alles war günstiger, weil das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in Indien viel geringer war als in Deutschland. Ich spürte, was die Statistik sagt: dass ich – wiewohl zu Hause ein bescheiden lebender Student – global gesehen zu den Reichen gehörte. Und dieses materielle Gefälle zwischen mir und den meisten Menschen in Indien fühlte sich ungerecht an. Warum bin ich im Wohlstand groß geworden und sie in Armut? Warum ist der Abstand zwischen mir und ihnen, hinsichtlich dessen, was wir uns an materiellen Gütern leisten können, so enorm? Das Bezahlen eines leicht überhöhten Ananas-Preises war da nur der hilflose Versuch, diese von mir empfundene Ungerechtigkeit ein klein wenig auszugleichen.

    Meine Studienzeit in Indien war Mitte der Neunzigerjahre. Inzwischen verkünden diejenigen, die den Wohlstand der Nationen am Bruttoinlandsprodukt ablesen, dass gerade bevölkerungsreiche Schwellenländer wie Indien und China mächtig aufgeholt hätten. Durch wachsende Wirtschaftsleistung dort ist in den letzten Jahrzehnten die relative Ungleichheit im Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem obersten und dem untersten Zehntel der Weltbevölkerung geschrumpft: War das oberste Zehntel 1989 noch hundertmal reicher als das ärmste, so ist der Faktor bis 2006 auf neunzig gesunken, nachdem davor seit Beginn des 19. Jahrhunderts diese Ungleichheit fast ununterbrochen gewachsen war. Freilich ist der Unterschied damit gegenwärtig immer noch riesig. Außerdem heißt relative Angleichung nicht auch absolute Angleichung: In absoluten Zahlen – also in Dollar und nicht im Verhältnis zueinander dargestellt – ist der Unterschied zwischen den Ärmsten und Reichsten auf der Welt auch seit 1989 weiter gewachsen! Und zuletzt erleben wir derzeit eine Verlagerung der Ungleichheit: Während sie zwischen einzelnen Schwellen- und Industrieländern abnimmt, wachsen die Unterschiede innerhalb der Nationen – sowohl im globalen Süden wie im globalen Norden. Kurz: Es besteht wenig Anlass zu glauben, dass die Ungleichheiten sich mit der Ausweitung des globalen Marktes wirklich abmildern. Dass diese Ungleichheit von vielen spontan als ungerecht empfunden wird, zeigen die auf Empörung zielenden Veröffentlichungen dieser und vergleichbarer Zahlen. Mehr noch als Zahlen aber wirkt die Begegnung mit einem Menschen wie der Ananas-Verkäuferin.

    Aber meine Erfahrung mit der indischen Verkäuferin bestand ja nicht nur darin, dass mich ihr Leben am Straßenrand erschütterte. Meine Scham entstand dadurch, dass ich gegenüber der Frau einen für mich günstigeren Preis rausgehandelt hatte, obwohl sie augenscheinlich des Geldes viel mehr bedurfte als ich. In unseren Breiten verhandeln wir meistens nicht mehr beim privaten Einkauf, sondern zahlen den Preis, mit dem die Ware ausgezeichnet ist; oder wir kaufen die Ware eben nicht, wenn sie uns zu teuer ist. Aber hinter den Produkten mit scheinbar festen Preisen stehen immer – und mitunter auch schwierige – Preisverhandlungen: Die Lebensmitteldiscounter drücken Milch- und andere Preise, die zumindest für Landwirte mit geringer Fläche oder Viehbestand kaum mehr auskömmlich sind; die Textilmarken lassen dort produzieren, wo die Zulieferer noch günstigere Preise, also billigere Arbeitskräfte anbieten können. Die Löhne der Arbeitnehmer werden ausgehandelt, sei es individuell oder kollektiv durch Gewerkschaften. Bauherren, die Bauprojekte ausschreiben, Autofirmen, die Zulieferer beauftragen, oder Krankenkassen, die Verträge mit einzelnen medizinischen Dienstleistern abschließen: Fast überall, wo gekauft beziehungsweise verkauft wird, werden Preise mehr oder weniger frei verhandelt. Heutzutage werden aber solche Kauf- und Verkaufsprozesse nur noch selten mit der Frage nach Gerechtigkeit in Verbindung gebracht.

    Wenn heute über Gerechtigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht gesprochen wird, dann redet man in der Regel über »soziale Gerechtigkeit«. Das ist freilich ein etwas hilfloser Begriff, denn Gerechtigkeit setzt immer schon Sozialität voraus, also das Verhältnis von mindestens zwei Personen, zwischen denen ermittelt werden muss, was als gerecht gilt. Allein auf der einsamen Insel stellen sich keine Gerechtigkeitsfragen. Normalerweise bezeichnet der Begriff heutzutage das, was früher verteilende oder austeilende Gerechtigkeit genannt wurde. Diese als iustitia distributiva bezeichnete Form der Gerechtigkeit regelt das, was dem Einzelnen von der Gemeinschaft her zusteht. Die gegenwärtig populärsten Formen sind die Verteilungsgerechtigkeit und die Chancengerechtigkeit. Erstere bezeichnet den Versuch, die Verteilungsergebnisse, die sich auf dem Markt durch Kauf und Verkauf ergeben haben, zu korrigieren, zum Beispiel durch Steuern oder Sozialtransfers. Die Chancengerechtigkeit hingegen führen diejenigen an, die versuchen, die Zugangsbedingungen zum Markt gerechter zu gestalten, zum Beispiel durch eine bessere schulische Bildung für alle. Beide Formen setzen also nach beziehungsweise vor den eigentlichen Marktprozessen an. Das Geschehen auf dem Markt, was zu welchen Preisen ge- und verkauft wird, scheint hingegen kaum mehr auf Gerechtigkeitsfragen ansprechbar.

    Das war nicht immer so. Die verteilende Gerechtigkeit hat in der philosophischen Tradition ihr Gegenstück in der ausgleichenden Gerechtigkeit, iustitia commutativa. Diese Form der Gerechtigkeit ist für den Verkehr zwischen den Bürgern zuständig, regelt also, wie die Einzelnen untereinander handeln sollen. Klassischerweise trennt man sie noch in die Strafgerechtigkeit und die Gerechtigkeit bei freiwilligem Tausch, wie es Kauf und Verkauf sind. Deswegen spricht man auch von Tauschgerechtigkeit.

    Aus dieser Fülle von Gerechtigkeitsthemen geht es auf den folgenden Seiten um die Tauschgerechtigkeit. Denn diese Vorstellung von Gerechtigkeit hat sich signifikant gewandelt: Galt einst ein Handel dann als gerecht, wenn Waren gleichen Wertes oder Ware und Geld gleichen Wertes getauscht wurden, so ist diese Vorstellung abgelöst worden durch die Idee: Gerecht ist ein Handel, wenn beide Vertragspartner ihm freiwillig zustimmen – unabhängig davon, ob das gezahlte Geld dem Wert der Ware entspricht. Dieser Wandel hat, grob gesprochen, im späten Mittelalter begonnen und sich im Laufe der frühen Neuzeit weitgehend durchgesetzt – und er hängt mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen zusammen.

    Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hat diesen Wandel sehr gut auf den Punkt gebracht. In einem Aufsatz mit dem schönen Titel »Taking Capitalism Seriously«, also: den Kapitalismus ernst nehmen, spricht er von der »legitimen Gier« als einem Charakteristikum kapitalistischer Gesellschaften. Und er konturiert das durch den Vergleich mit früheren Zeiten: »Die unendliche Vermehrung von materiellem Besitz galt in vorkapitalistischen Zeiten als moralisch minderwertig und blieb ein Randphänomen, das bestenfalls als leider unausrottbar toleriert wurde. Wenn im Kapitalismus, im Vergleich dazu, materielle Gier durch freiwillige Vereinbarung zum Ziel kommt anstatt durch Gewalt, wird sie als normal und legitim angesehen.«¹ Die Gier, von der Streeck spricht, wurde in »vorkapitalistischen Zeiten« als das Laster angesehen, das Ungerechtigkeit zur Folge hat, indem einer mehr beansprucht, als ihm zusteht beziehungsweise durch seine »Vermehrung von materiellem Besitz« anderen etwas wegnimmt. Hier hat mit dem Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsformen tatsächlich ein Normwandel stattgefunden; und für diesen Wandel sind die Kategorien Freiwilligkeit und Vertrag (Streeck spricht etwas unbestimmt von »Vereinbarung«) entscheidend gewesen.

    Von daher wird die folgende Darstellung einen Schwerpunkt im scheinbar so fern liegenden Mittelalter haben (Kapitel 3); denn hier sind sowohl die vorkapitalistischen Rationalitäten noch zu greifen wie bereits die ersten Ansätze neuer Legitimationsformen. Die ersten beiden Kapitel nehmen Traditionen in den Blick, die das Mittelalter wesentlich geprägt haben. Die Kapitel 4 und 5 zeigen, wie sich in der frühen Neuzeit und dann nochmal zu Beginn der industriellen Revolution das Verständnis der Tauschgerechtigkeit gewandelt hat. Es geht nicht um eine komplette Geschichte der Tauschgerechtigkeit, sondern darum, die Wahrnehmung für den entscheidenden Wandel im Verständnis des gerechten Tausches zu schärfen. Was mir zum Verständnis dieses Bruches wichtig erscheint, findet Berücksichtigung. Umfassende Lehrbücher müssen andere schreiben. Mit dem Thema Gerechtigkeit ergänze ich meine Überlegungen zur Veränderung des Wirtschaftsdenkens im Übergang zur Neuzeit, die ich in dem Buch Gewinn in alle Ewigkeit angestellt habe.

    Wichtig scheint mir, dass dieser Normwandel schon angesichts der ersten kapitalistischen Unternehmensformen in Europa, also noch in einer überwiegend feudal strukturierten Gesellschaft, begonnen hat. Neue moralische und rechtliche Ideen, die sich auch in Gesetzeswerken manifestiert haben, standen daher bereits zur Verfügung, als der Kapitalismus mit der industriellen Revolution Fahrt aufnahm und schließlich die gesamte Gesellschaft prägte. Mit anderen Worten: Man versteht vom Kapitalismus zu wenig, wenn man meint, er habe erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen; seine geistigen (und materiellen) Wurzeln reichen viel tiefer. Der Tübinger Jura-Professor Wolfgang Forster fasste dies in die markante Frage, ob jeder Kapitalist ein Bartolist sei.² Ein was? Ein Bartolist? Bartolus de Saxoferrato war ein großer Jurist des 14. Jahrhunderts, der aber außer unter Juristen kaum bekannt ist; er taucht in der Regel weder in einer Philosophiegeschichte noch in einer Darstellung zum ökonomischen oder politischen Denken auf. Aber zur Zeit des Bartolus wurden Kategorien geschaffen, die später von Kapitalisten genutzt wurden, auch wenn die über den Ursprung ihrer Ideen keine Klarheit hatten.

    Die Zeit der Entstehung der dem Kapitalismus entsprechenden Ideen ist auch deswegen interessant, weil die Ideen, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, damals noch lebhaft diskutiert wurden. Es gab noch andere, eben vorkapitalistische Rationalitäten. Und wenn man in diesen früheren Denkformen nicht nur den Ausdruck von »bornierten Verhältnissen« sieht, sondern schlicht alternative Denkformen zur kapitalistischen Rationalität, dann könnten sie auch heute unter veränderten Bedingungen wieder interessant werden, wenn man nach einem Jenseits des Kapitalismus Ausschau hält. Um es deutlich zu sagen: Ich schreibe hier nicht über ferne Zeiten, weil ich glaube, im Mittelalter sei es gerechter oder besser zugegangen. Was mich an diesen Zeiten interessiert, sind die Denkformen, die quer stehen zu unseren heutigen Selbstverständlichkeiten. Es geht nicht darum, irgendwohin zurückzukehren, sondern darum, unser Repertoire, über Gerechtigkeit nachzudenken, ein wenig zu erweitern. Nicht alles, was verloren gegangen ist im Prozess der Modernisierung, war wert, dass es zugrunde ging; manches könnte sich auch als Baustein für etwas Neues erweisen. Diese Möglichkeit sollte wenigstens offengehalten werden.

    Gleich gegen gleich

    »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – diese Formel aus dem Gesetz der hebräischen Bibel¹ gilt vielen Menschen immer noch als Ausweis für ein archaisches, zum Glück längst überwundenes Rechtsverständnis: Hier gehe es um Vergeltung oder gar Rache, heute aber ziele unser Strafrecht auf Entschädigung und Resozialisierung. Wenn man aber nach den Wurzeln der Tauschgerechtigkeit fragt, dann ist diese alte Formel aus dem Bereich ihrer Zwillingsschwester, der Strafgerechtigkeit, sehr wichtig: Hier ist sehr früh und mit auffallend weiter Verbreitung ein Prinzip formuliert worden, das später auch für die Tauschgerechtigkeit leitend wurde. Das sogenannte Talionsrecht, also die Festlegung einer Strafe, die der Schädigung entspricht, ist demnach gar nicht so weit weg von uns, wie es zuerst scheint.

    Talionsformeln kommen nicht nur in der jüdischen Überlieferung vor, sie sind altorientalisches Allgemeingut. Wichtigstes Vorbild ist die Stele mit dem Gesetz des babylonischen Königs Hammurapi († 1750 v. u. Z.): Nach diesem Gesetz sollen die Schädigungen, die an freien Bürgern begangen werden, mit der gleichen Schädigung des Täters bestraft werden: »Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören.« (§ 196) Dies unterscheidet sich aber von einem früheren Recht aus Mesopotamien, dem Kodex Eschnunna (ca. 20.–19. Jh. v. u. Z.), der für Köperschädigungen nur Ersatzleistungen in Geld (Silber) nennt (§ 42): Für eine Nase ist eine Mine (ca. 500 Gramm) Silber fällig, für ein Auge ebenso, für Zahn und Ohr nur jeweils eine halbe Mine und für einen Schlag auf die Wange nur zehn Schekel Silber (ca. 83 Gramm).² Die Entschädigungszahlung ist also historisch früher belegt als die Strafe am gleichen Körperteil. Das sollte davor bewahren, vermeintlich klare Entwicklungslinien von der Vergeltung zur Entschädigung zu konstruieren. Beide Logiken existierten nebeneinander; und manchmal scheinen die Grenzen zwischen beiden zu fließen.

    So taucht in der hebräischen Bibel die Talionsformel im Kontext von Entschädigungszahlungen auf. Im sogenannten Bundesbuch (Ex 21,1–23,19), einem Gesetz, das wohl Ende des 8., Anfang des 7. Jahrhunderts v. u. Z. aus zum Teil älteren Rechtssätzen zusammengestellt wurde, werden verschiedene Fälle von Körperverletzung bei Mensch und Tier aufgelistet, bei denen Ersatzleistungen zu zahlen sind. Etwas unvermittelt heißt es dann: »Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.« (Ex 21,23–25) Danach werden aber wieder Fälle aufgeführt, bei denen körperliche Schädigungen mit Geldzahlungen beglichen werden sollen. Von daher kann man wohl sagen: Die oben zitierten Verse »haben Ersatzleistungen im Blick und formulieren ein Strafzumessungsprinzip, das auf eine gleichwertige Ersatzleistung, nicht auf einen gleichartigen Schaden zielt«.³ Nicht die Täter zu verstümmeln, sondern Ersatz für die Opfer zu schaffen, ist hier wohl das Ziel. Aber der Ersatz soll eben gleichwertig sein, also der Schädigung entsprechen – das ist entscheidend und wird durch die Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« unterstrichen.

    Dahinter steht die Vorstellung von einer Welt, die in einer vorgegebenen Balance gehalten werden soll: Wenn diese Balance oder Ordnung der Welt gestört wird, dann muss der Störung ausgleichend entgegengetreten werden, um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Die altorientalischen Begriffe, die wir heute mit »Gerechtigkeit« übersetzen, hatten zu ihrer Zeit oft eine weitere Bedeutung. Für das altägyptische Wort Ma’at hat der Ägyptologe Jan Assmann »Gerechtigkeit« als Grundbedeutung angegeben, aber mit dem Hinweis, dass es dabei auch um die Vorstellung einer kosmischen Weltordnung gehe: »Im Rahmen dieses Denkens wird die kosmische Sphäre in den Begriff der Gerechtigkeit einbezogen. […] Der Begriff Ma’at bezeichnet das Programm einer politischen Ordnung, die nicht nur unter den Menschen soziale Gerechtigkeit herstellen, sondern dadurch Menschen- und Götterwelt in Einklang bringen und die Welt insgesamt in Gang halten will.«⁴ Die Ordnung der Menschen soll der Ordnung des Kosmos entsprechen. Genauer gesagt, eine gerechte Ordnung unter den Menschen ist Teil der kosmischen Harmonie und damit notwendig um die Welt in Ordnung zu halten.

    Diese Ordnung oder Balance der Welt galt als gewährleistet, wenn es dem, der Gutes tut, auch gut ergeht. Als »Definition der Gerechtigkeit« zitiert Assmann immer wieder einen Text aus einer Inschrift des ägyptischen Königs Neferhotep (um 1700 v. u. Z.): »Der Lohn des Handelnden liegt darin, dass für ihn gehandelt wird. Das hält Gott für Ma’at⁵ Man kann in dieser positiven Wiedervergeltung quasi das Gegenstück zur negativen Vergeltung des Talionsrechts sehen. Assmann nennt diese Gerechtigkeit »konnektive Gerechtigkeit«: Die Menschen sollen eine Verbindung zwischen gutem Tun und Wohlergehen herstellen. Wer gut handelt und sich für andere einsetzt, dem soll es von den anderen Menschen vergolten werden. Oder andersherum gesagt: Wer »tut, was geliebt wird«, dem soll daraus kein Nachteil entstehen, und wer andere schädigt, soll nicht mit einem Vorteil davonkommen.

    Insbesondere dem jeweiligen König wurde die Aufgabe zugeschrieben, für Gerechtigkeit zu sorgen: »Re [der Sonnengott] hat den König eingesetzt / auf der Erde der Lebenden / für immer und ewig / beim Rechtsprechen der Menschen, beim Befriedigen der Götter, / beim Entstehenlassen der Ma’at, beim Vernichten der Isfet«,⁶ heißt es in einem ägyptischen Text. Isfet ist das Gegenprinzip zur Ma’at: Gewalt, Unrecht. Das Mittel, mit dem der König für Gerechtigkeit sorgen soll, scheint demnach die Rechtsprechung zu sein. Der Topos vom König, der für Gerechtigkeit sorgt, war keineswegs nur auf Ägypten beschränkt. Auch König Hammurapi erklärte am Ende einer langen Einleitung auf sein Gesetzeswerk unter Berufung auf den Gott Marduk: »Als Marduk mich beauftragte, die Menschen zu lenken und dem Lande Sitte angedeihen zu lassen, legte ich Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes und trug Sorge für das Wohlergehen der Menschen.«⁷ Dass der König für »Recht und Gerechtigkeit« einstehen muss, ist auch die Erwartung, die in der jüdischen Geschichte immer wieder formuliert worden ist (z. B. 2 Sam 8,15; Ps 58,2; Ps 72,1–4; Spr 16,12). Dieses Begriffspaar macht deutlich, dass man erwartete, dass Gerechtigkeit sich durch Gesetze beziehungsweise Rechtsprechung realisiert.

    Das altorientalische Königsrecht war – im Gegensatz zum Recht in Stammesgesellschaften – immer auch Herrschaftsinstrument, Gesellschaftssteuerung von oben; aber der König und sein Recht legitimierten sich auch als Schutzmacht für die Schwachen. In einer Gesellschaft aus

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1