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Der Weg ist weiter als das Ziel: Christoph Strasser - Die Autobiographie
Der Weg ist weiter als das Ziel: Christoph Strasser - Die Autobiographie
Der Weg ist weiter als das Ziel: Christoph Strasser - Die Autobiographie
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Der Weg ist weiter als das Ziel: Christoph Strasser - Die Autobiographie

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Christoph Strasser ist der erfolgreichste Ultra-Radsportler der Gegenwart, unter anderem mehrfacher Gewinner des Race Across America und weiterer Nonstop-Rennen sowie 24-Stunden-Weltrekordhalter. Mit diesem Werk legt der Steirer eine ausführliche Autobiographie vor, in der er seine Anfänge als Radsportler beschreibt, aber auch Einblick in seine Gedanken- und Seelenwelt gibt. Die Freude im Ziel währt nur kurz, meint Strasser, wirkliche Zufriedenheit bringen die täglichen kleinen Schritte am Weg dorthin.

"Das Buch ist kein Motivationsratgeber, sondern eine offene, ehrliche Autobiographie mit vielen Einblicken hinter die Kulissen des RAAM. Ich gebe in diesem Werk auch sehr viel Persönliches preis, vor allem liegt mir daran, meine Schwächen und Rückschläge genauer zu beleuchten – denn diese haben mich letztendlich dazu gebracht, immer wieder aufs Neue nach Verbesserungen zu suchen. Rückschläge lehren jedoch auch Demut und bewahren vor Höhenflügen, ein wesentlicher und wichtiger Faktor. Es wird also kein Buch einem Helden-Epos gleich, wie manch' andere Sportlerbiografien, sondern ein authentischer Einblick hinter die Fassade. Mir liegt daran, zu zeigen dass man als "normaler" Mensch diese "unvorstellbaren" Dinge erreichen kann."
LanguageDeutsch
PublisherEgoth Verlag
Release dateOct 1, 2018
ISBN9783903183612
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    Book preview

    Der Weg ist weiter als das Ziel - Christoph Strasser

    RAAM 2014, gemeinsames Abendessen am letzten Tag vor dem Start: Deftiges für die Crew, Flüssignahrung für mich

    I

    „ICH WÜRDE EINE LEGENDE WERDEN WOLLEN!"

    RAAM, VORBEREITUNG

    Es war einer jener Sonnentage, die ich so liebe. Ich spazierte mit meiner Crew an den Strand von Oceanside, ein Getränk in der Hand, und Gänsehaut lief mir den Rücken hinunter. Es war wieder RAAM-Zeit – Zeit, um umzusetzen, wofür ich monatelange trainiert hatte.

    In der Ultra-Radsportszene kennt und erkennt man mich wohl, doch auch in Südkalifornien, dort, wo das Race Across America seinen Anfang nimmt, wissen die wenigsten etwas mit mir anzufangen. Wir gingen in ein Radsportgeschäft. „Keine Ahnung, wer du bist, sagte mir der Verkäufer, als meine Betreuer gegen meinen Willen andeuteten, dass ein besonderer Radfahrer vor ihm stand. Ich musste grinsen und wurde ein bisschen verlegen. „Ich nehme heuer am RAAM teil, das ist dieses lange Radrennen quer durch die ganzen USA. Eigentlich war ich schon öfters dabei und habe sogar schon Mal gewonnen, untertrieb ich und hoffte, dass mich niemand in ein typisch amerikanisches „Yeah, good job!"-Gespräch verwickelte. So kurz vor dem Start wollte ich am liebsten meinen Frieden und die knappe Vorbereitungszeit mit meinem Team verbringen.

    Nein, ich bin nicht berühmt und ich gehe Situationen außerhalb meines Berufslebens, in denen ich erkannt werden könnte, auch gerne aus dem Weg. Und ja, ich gebe zu, dass ich mich in Oceanside recht wohl fühle. Meine Heimat sind Kraubath und Graz, die Steiermark und Österreich. Doch auch Oceanside, Kalifornien und Annapolis, Maryland klingen vertraut. In meiner Welt bin ich kein Star, ich gehe nur meiner Leidenschaft nach, nämlich so richtig weit und möglichst schnell mit dem Rad zu fahren. Dass ich für viele Menschen zu einem Vorbild und einem „Star" geworden bin, freut mich, aber meine Einstellung zu mir selbst verändert sich dadurch nicht.

    Beim RAAM bin ich einer, der die österreichische Tradition fortsetzt und verstärkt. Franz Spilauer war 1988 der erste Sieger, der nicht aus den USA kam. Er inspirierte Wolfgang Fasching, der 1997, 2000 und 2002 gewann. Fasching war mein erstes großes Vorbild. Später kam auch Jure Robic dazu, der eine neue Ära des Ultra-Radsports einleitete. Seit Robics erstem RAAM-Erfolg 2004 kamen alle weiteren Sieger nur mehr aus Slowenien, der Schweiz, Deutschland oder aus Österreich.

    Medial erfährt das Race Across America jene Aufmerksamkeit, die es verdient, wobei die Popularität aufgrund der hiesigen Leistungsträger in Mitteleuropa am höchsten ist. Während in Österreich so gut wie jeder Sportinteressierte dieses Rennen kennt, führt es in Amerika ein mediales Schattendasein. Einmal im Jahr, für zwei, vielleicht drei Wochen, rückt es in jenen Regionen und Ländern, aus denen die Teilnehmer kommen, in das Interesse der Öffentlichkeit. Doch auch das ist peripher – von Hauptsportarten wie Fußball, Tennis oder Formel 1 ist das RAAM Lichtjahre entfernt.

    Einher geht somit, dass die Ultra-Radsportler, die am RAAM mit dabei sind, nicht jene Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdienen.

    Das RAAM ist kein bewegungstherapeutischer US-Urlaub, bei dem man Land und Leute kennenlernt und die schönsten Plätze Amerikas abfährt. Ganz im Gegenteil: Das RAAM erfolgreich zu bestreiten bedeutet, sich das gesamte Jahr damit zu beschäftigen. Ich denke und handle, ich schlafe und träume, ich trainiere und esse für das RAAM. Ich lebe das RAAM.

    Dieses Rennen ist so viel mehr, als ein paar Worte aussagen können. Die Fakten sind klar: Das Race Across America ist rund viertausendneunhundert Kilometer lang, in denen bis zu fünfzigtausend Höhenmeter eingebettet sind, und es führt vom kalifornischen Oceanside am Pazifik nach Annapolis, Maryland, an den Atlantik. Es wird als das härteste Radrennen der Welt bezeichnet. Nonstop fahren die Teilnehmer quer durch den Kontinent, machen Schlafpausen oder Powernaps, wann sie es wollen oder wenn sie es müssen, und benötigen weniger als zwei Wochen. Wer nach zwölf Tagen nicht im Ziel ist, wird aus der Wertung genommen. Wer es nicht in weniger als zehn Tagen schafft, hat in der Regel keine Chance auf einen Spitzenplatz. Nur ein einziger schaffte die Strecke unter acht Tagen – das war ich in den Jahren 2013 und 2014. Beim RAAM gibt es kein Preisgeld, und das ist auch gut so, weil dadurch die Möglichkeit gehoben wird, ein faires und dopingfreies Rennen zu erleben. Ich wähle bewusst das Wort „Möglichkeit", denn ganz sicher kann man sich ja nie sein – außer bei einem selbst.

    Der Wettbewerb bringt mich jedes Mal an meine körperlichen und geistigen Grenzen. Ich nehme zwischen zwei und vier Kilogramm ab. Dieser Umstand kann auf eine einfache mathematische Rechnung zurückgeführt werden: Ein Kilogramm Körperfett entspricht rund achttausend Kalorien. Pro Tag ergibt sich bei der Nahrungsaufnahme ein Defizit von viertausend Kalorien. Ich verliere im Idealfall alle 24 Stunden ein halbes Kilogramm Gewicht. Wenn es aber nicht gut läuft, kann man sogar Gewicht durch Wassereinlagerungen zulegen – auch das habe ich schon erleben müssen. Trotz des Kaloriendefizits, das durch die Verbrennung der Fettreserven ausgeglichen wird, erhält mein Körper genügend Nahrung, um zu funktionieren. Die fünfzehntausend Kalorien, die ich täglich benötige, entsprächen dreißig Tellern Spaghetti. Konventionelle Nahrungsaufnahme ist somit ein physiologisches Ding der Unmöglichkeit (und würde zudem auch noch wertvolle Zeit kosten – die Uhr läuft nun mal immer mit). Meine Körperkraft wird deshalb durch Flüssignahrung am Leben erhalten, und während der Sportarzt die Aufzeichnungen führt, was ich wann zu mir genommen habe, darf ich höchstens den Geschmack des dickflüssigen Getränks wählen: Schokolade oder Vanille. Menge und Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme werden mir vorgegeben.

    Der theoretische Tagesbedarf an Nahrung und Flüssigkeit für einen Tag beim RAAM

    Mental herausfordernd ist das RAAM, weil es eine zermürbend monotone Angelegenheit ist. Es geht um nichts anderes, als die Kurbel des Rades stetig und kraftvoll nach unten zu drücken, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Nach 48 Stunden beginnt der Körper, den Schlafmangel zu spüren. Die Leistungsfähigkeit nimmt ab. Der Geist rebelliert, ich erlebe dann Phasen der Orientierungslosigkeit und Halluzinationen beginnen sich in den Windungen des Gehirns breitzumachen.

    Einmal sagte ich in einem Interview, dass der Schlüssel zu einem Erfolg beim Race Across America in rauschfreien Funkgeräten läge, und dass ich höchsten Respekt vor den Siegern in den 1980er- und 1990er-Jahren habe, die diese Hilfsmittel noch nicht hatten.

    Das Funkgerät ist meine Verbindung zur Außenwelt. Meine Außenwelt bei einem RAAM ist meine Crew, der ich bedingungslos vertraue und deren Weisungen ich diskussionslos Folge leiste. Von außen gesehen bin ich der Protagonist, um den sich alles dreht. Von innen betrachtet bin ich Teil eines Teams, wie der Rennfahrer in der Formel 1, der seine Mechaniker benötigt, die die Boxenstopps planen und durchführen, die Strategie entwickeln und die gesamte Rennsituation im Auge behalten, um wichtige Entscheidungen für den Fahrer zu treffen.

    Durch das Terrano Funksystem bin ich ständig mit der Crew verbunden

    Das ganze Jahr lang lebe ich das RAAM, ich trainiere hart nach vorgegebenen Plänen und interessiere mich dabei nicht dafür, wer meine härtesten Gegner sein könnten. Ich will in Bestform sein, ich will mit der Gewissheit zum RAAM fahren, das Rennen schnell zu Ende bringen zu können. Was soll daran gut sein, Stunden oder Tage länger als notwendig im Sattel sitzen zu müssen? Was soll es bringen, Zeit an Time Stations zu vergeuden, um Fotos zu schießen und Autogramme zu geben? Ich lebe das RAAM und will dennoch so rasch wie möglich wieder aus dieser Blase raus.

    Verschiedene Räder erleichtern mir die Aufgabe: Ich habe ein aerodynamisches Rad für die Passagen in Kansas, wenn es hunderte Kilometer eben dahingeht und mit einem Zeitfahrrad so richtig Tempo gebolzt werden kann. Ich habe die richtige Ausrüstung für die Pässe der Rocky Mountains oder der Berge der Appalachen, nämlich ein wesentlich leichteres Rennrad, auf das ich je nach Streckenabschnitt wechsle. Das Watt ist die Maßeinheit für den Energieumsatz pro Zeitspanne. Beim RAAM erreichte ich auf meiner Rekordfahrt 2014 während 183 Stunden einen Durchschnitt von 164 Watt, was 26,4 Kilometern pro Stunde entspricht.

    In meinem Team sind in der Regel zwei Mechaniker mit dabei, ein Sportarzt, ein Physiotherapeut, drei Fahrer für zwei Autos und ein Wohnmobil, ein Fotograf, ein Koch, ein Kameramann und ein Medienbeauftragter. Doch jeder ist wesentlich mehr, als die engste Job-Beschreibung aussagen würde. Wir alle sind „Team Strasser, haben das gleiche Ziel – nämlich schnellstmöglich von West nach Ost zu fahren –, mit individuellen und übergeordneten Aufgaben. Meine einzige Pflicht ist, in die Pedale zu treten. Um alles andere kümmert sich mein Team. Nicht nur darum, mich zu verpflegen und zu informieren, sondern beispielsweise auch darum, mir in der Nacht die Straße auszuleuchten oder den nächsten Rastplatz zu suchen. Das Team hält mich wach und bei Laune, stellt mir Quizfragen oder gibt mir Rechenaufgaben, brüllt ein „Wach auf! durch den Lautsprecher, gefolgt von einer aufheulenden Hupe des Autos, sollte ich kurz davor sein, in den Sekundenschlaf zu verfallen und das Treten einzustellen. Mein Team liest mir E-Mail- oder Facebook-Einträge von Freunden und Fans aus der Heimat vor, es reißt Witze, spielt die Musik, die ich gerade mag, oder fährt voraus, steht am Straßenrand und macht die „Welle", wenn ich daherkomme.

    Ohne meine Leute wäre ich ganz schön aufgeschmissen.

    Doch viele von uns kennen die Herausforderung, ein funktionierendes Team zusammenzustellen – sei es in einem Sportverein oder in einem (anderen) beruflichen Umfeld. Der schöne Satz von Antoine de Saint-Exupéry, in dem es um Sehnsüchte und gemeinsame Ziele geht, ist wertvoll, inspiriert und geht dennoch nicht weit genug.

    Sehnsucht allein reicht nicht, um schnellstmöglich durch Amerika zu fahren. Es bedarf des Wissens und der Erfahrung, Kommunikation und des Krisenmanagements, damit das gelingen kann. Es bedarf des unbändigen Glaubens und Willens, die gesetzten Ziele zu erreichen – und das erste, vorrangige lautet jedes Jahr, das Rennen in Annapolis unter dem Zielbogen zu beenden. Als ich 2014 gewann, konnte ich auf eine Mannschaft vertrauen, die es mit mir auf insgesamt 42 RAAM-Teilnahmen gebracht hatte – ein unbezahlbares Maß an Erfahrung. Ein Jahr später, mit einer teilweise neuen Crew, spielte uns das Unterbewusstsein einen Streich: Da dachten einige wohl ein wenig überheblich, das „Team Strasser" müsste nur antreten, um sich den Sieg zu holen. Doch es kam anders: Ich schied aus. Wir alle schieden aus.

    „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer."

    Teamtreffen im Mai 2017

    Mannschaften werden nicht in den USA zusammengewürfelt, sondern im Laufe der Monate zuvor gefunden und geformt. Es gibt Teamtreffen, bei denen einander alle besser kennenlernen, um später acht, neun Tage unter extremen Bedingungen und auf engstem Raum miteinander auszukommen. Das Rennen ist nicht nur für mich eine Herausforderung, sondern ebenso für jeden der Betreuer: Die Tag-Nacht-Barriere ist aufgehoben, geschlafen wird im Schichtwechsel. Die Nahrungsaufnahme mag vielfältiger als meine sein, aber sicher nicht gesünder. Die Begleitautos müssen jeden Tag grundgesäubert werden, weil sie sich in fahrende Müllhalden verwandeln. Weil all diese Herausforderungen noch nicht reichen, hat natürlich jeder einen eigenen Charakter und seine persönlichen Marotten. Willkommen beim RAAM!

    Dass ich keine Frauen im Team habe, hat nichts mit Sexismus zu tun, sondern rein pragmatische Hintergründe. Da geht es um Schlafsituationen und Toilettengänge, da geht es aber auch um Hahnenkämpfe zwischen den Jungs und Flirts der einen mit den anderen. Es gibt auch noch einen anderen Aspekt: Frauen neigen zu mehr Empathie und Mitgefühl, vor allem dann, wenn es jemandem schlecht geht. Doch gerade in diesen Momenten benötige ich nicht Mitgefühl oder Mitleid, sondern Anweisungen und Unterstützung, weil mich alles andere von der eigentlichen Mission ablenkt, nämlich davon, mich schnellstmöglich durch die USA zu lotsen.

    Eines Tages im Frühjahr 2014 saß ich mit meinem Team im Gartenhaus meiner Eltern in Kraubath zusammen und wir alle besprachen die kommende Aufgabe – das Race Across America 2014. Unser Teamleader Rainer Hochgatterer, der mich seit 2011 auch trainingstechnisch betreute, befragte mich zu meiner Motivation. Ich übte mich wie so oft in Untertreibung, redete über einen möglichen Sieg, darüber, dass es wichtig wäre, bescheiden zu bleiben und dass ich mein Bestes geben würde. Rainer grinste. Er wusste, dass mich seine Fragen irritierten und provozierten. Und dann unterbrach er mich knallhart: „Wenn ich du wäre, würde ich in meinem Sport eine Legende werden wollen."

    So einfach kann man Dinge auf den Punkt bringen.

    Rainer war jene Person, der ich während meiner ultraradsportlichen Laufbahn wohl am meisten zu verdanken habe. Als Sportarzt und Teamleiter vereinte er über Jahre die beiden wichtigsten Funktionen in meiner Crew, was bedeutete, dass mögliche Konflikte nicht auftreten konnten. Es kann sein, dass der Mediziner plädierte, das Rennen aus gesundheitlichen Gründen abzubrechen, doch der Teamleiter war anderer Meinung – wie das tatsächlich bei meiner ersten Teilnahme geschehen war.

    Jemanden wie Rainer an meiner Seite zu haben, gab mir Vertrauen und Motivation – und Durchhaltevermögen. Nach meiner Rekordfahrt 2014, die ich in 7 Tagen, 15 Stunden, 53 Minuten beendet hatte, schrieb er mir eine humorige Nachricht: „Ausgemacht waren 7 Tage, 12 Stunden. Ich finde, du solltest dich das nächste Mal ein bisschen mehr bemühen. In jedem Witz steckt ein Körnchen Wahrheit, und ich verstand, was er damit sagen wollte: „Ruh dich nicht auf den Lorbeeren aus, du hast noch nicht alles erreicht.

    Beim RAAM 2014 führte er mich und uns alle zum Erfolg, doch ich spürte, dass er mit seinen Gedanken nicht immer zu hundert Prozent auf das Rennen fokussiert war. So überraschte es mich nicht, als er mir kundtat, in Zukunft schweren Herzens nicht mehr zur Verfügung zu stehen.

    Sieben RAAM-Fahrten – einmal mit Fasching, zweimal mit Gerhard Gulewicz, viermal mit mir – waren genug für ihn. Er setzte sich neue Ziele im Leben und nahm sich fortan mehr Zeit für seine Familie.

    So sehr der Abgang schmerzte, so entscheidend war er dennoch für meine weitere Laufbahn. Rainer Hochgatterer war in meinem Sportlerleben zu einer Art Vaterfigur geworden. Mich von ihm abnabeln zu müssen, war insofern ein wichtiger Schritt in meiner Persönlichkeitsentwicklung.

    Wie bedeutend er für mich und für das gesamte Team war, erkannten wir an einer E-Mail, die er uns allen drei Wochen nach dem RAAM 2012 schickte. Wir waren in einem emotional aufgeladenen und frustrierend geendeten Rennen knapp Zweiter hinter dem Schweizer Reto Schoch geworden. Und Rainer stellte die Frage in den Raum, ob auch wir uns unter Wert geschlagen fühlten. Nun ist „unter Wert im Sport eine äußerst gewagte Aussage. Die Ergebnisliste ist Fakt. Man kann noch so viele Ausflüchte, Ausreden, Überlegungen anführen – sie ist unveränderbar. Doch er brachte unseren Gefühlsstatus auf den Punkt: „Der Sieg beim RAAM gehört nach Österreich, in die Steiermark. Der Sieg beim RAAM gehört Christoph Strasser, schrieb Rainer, und im Geiste sah ich all meine Teamkameraden bei diesen Zeilen nicken, wie es auch mir gerade passierte.

    Rainer begann drei Wochen nach einem Race Across America, das uns alle an unsere körperlichen, geistigen, emotionalen Grenzen geführt hatte, uns für ein Event zu motivieren, das in rund 340 Tagen stattfinden sollte:

    „Im Jahr 2013 sollte er sich den Sieg wieder zurückholen. Und zwar in einer Manier, wie es sie noch nie gegeben hat. So, dass die Gegner nicht mal auf die Idee kommen, ihn anzugreifen. Christoph kann mit unserer Hilfe eine Zeit von deutlich unter acht Tagen beim RAAM fahren.

    Und ich meine deutlich unter acht Tagen.

    Rechnet man die Etappenbestzeiten 2011 und 2012 zusammen und baut noch die üblichen Schlafpausen ein, könnte er es unter sieben Tagen und zwölf Stunden fahren!

    Ich glaube daran, ich bin mir sicher, ich verspreche, dass er das schaffen kann. Mit unserer Hilfe. Ich finde, wir sollten uns unsterblich machen, wir sollten Christoph unsterblich machen.

    Also was sagt ihr?"

    Es gibt so viele Motivationsreden, die Wirkung erzeugen können oder das erhoffte Resultat dennoch verfehlen. Die Worte von Rainer Hochgatterer gingen direkt in mein Herz. Und ich setzte mich, 340 Tage vor dem nächsten RAAM, für eine Trainingseinheit auf das Rad.

    „Was soll es denn bringen, das RAAM zu fahren?, fragte mich ein Radsportfreund, als ich das erste Mal mit dem Gedanken spielte, dort anzutreten. „Ich weiß nicht, antwortete ich. „Es wäre doch cool, oder?"

    Das war zu einer Zeit, in der ich hin- und hergerissen war zwischen meinem Ansatz, bescheiden zu bleiben und mit dem zufrieden zu sein, was ich hatte und was ich war, und meinem ehrgeizigen Anspruch, ein richtig guter Radsportler zu werden. Als ich 2004 bei einem Weiterbildungsseminar auf Wolfgang Fasching traf, der vom RAAM erzählte und über mentale Stärke referierte, präsentierte ich mich in der Vorstellungsrunde als einer, der „vielleicht irgendwann beim Race Across America auch dabei ist." Drei Jahre später saßen wir bei einem Interview für das damalige Top-Times Magazin. Fasching war dabei, seine Karriere zu beenden, ich drauf und dran, in seine Fußstapfen zu treten. Es war das erste Mal, dass wir uns länger unterhalten konnten, und es war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute anhält.

    Ich werde in der Tat oft gefragt, was es denn bringt, schon wieder am RAAM teilzunehmen, was ich dort noch erreichen will, ob ich denn nur auf Rekorde aus sei. Die Wirklichkeit liegt irgendwo in der Mitte, aber vor allem in einer Tatsache: Ich liebe diesen Sport, das „Weitradlfoan", wie ich es auf Steirisch nenne. Ich liebe es, Rad zu fahren und Abenteuer zu erleben. Doch die Antwort ist ebenfalls einfach, wenn ich über Siege und Rekorde befragt werde: Es macht sich gut, der erfolgreichste oder beste Sportler einer Disziplin zu sein. Diesen Fakt wird kein Athlet jemals verneinen, auch ich nicht.

    „Mir persönlich geht es nicht vorrangig um Rekorde. Sie sind mir ehrlich gesagt nicht wirklich wichtig. Natürlich möchte ich die Rennen gewinnen, aber in der Vorbereitungszeit wäre mir diese Aussicht als Motivation zu wenig. Erfolge sind schlussendlich das Ergebnis, wenn man das tut, was einen tagtäglich erfüllt – denn nur dann sind sie überhaupt möglich."

    Das Race Across America entfacht in mir nach wie vor ein Feuer und den Willen, noch härter an mir zu arbeiten, mich immer weiter zu verbessern und aus meinen Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen. Wenn dieser Wille und die harte Arbeit dann mit einem Sieg belohnt werden, ist es natürlich umso schöner. Aber: Die Freude über einen Sieg verfliegt recht schnell, es bleiben vielmehr die Freude, der Feuereifer und die harte Arbeit, die mich bis dorthin führen. Nirgendwo anders als beim RAAM trifft der Satz besser zu, dass der Weg das Ziel sei. Es ist ein verdammt langer Weg, der eigentlich zwölf Monate zuvor, unter dem Zielbogen in Annapolis, immer wieder neu beginnt. Denn eines ist klar: Je härter ich im Vorfeld trainiere und je penibler ich mich vorbereite, umso einfacher wird es für mich später in den USA sein. Bin ich in der Vorbereitungszeit jedoch inkonsequent, kürze Trainings ab und mache es mir angenehmer und leichter, werde ich das im Rennen büßen, denn umso mehr werden mich die Schwierigkeiten des Wettbewerbs, begonnen bei Wind und Wetter oder körperlichen Problemen, dann fordern.

    „Du hast es ja leicht als Profi, du kannst den ganzen Tag trainieren und musst nichts arbeiten", höre ich manchmal von Radsportkollegen, die damit kämpfen, ihren familiären Alltag, den Beruf und das Training unter einen Hut zu bringen. Ich möchte mit ihnen darüber auch nicht diskutieren. Ja, es ist einfacher, sich seinen Tag flexibel rund um das Training einteilen zu können. Doch vielleicht wird verdrängt, dass ich in einer Sportdisziplin unterwegs bin, in der es keine Preisgelder gibt. Sponsoren decken Ausgaben. Ich benötige Vorträge bei Institutionen und Unternehmen, um Umsatz zu generieren, und einen gut laufenden Online-Shop für Radsportler. Das alles bedeutet viel Organisation und Arbeit abseits des Trainings. Die Annahme, dass ich nur am Rad sitze und dafür allein fürstlich entlohnt werde, ist falsch.

    Der Radsport ist mein Leben und durch ihn verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Meine Hingabe und mein Feuer für das Race Across America wird durch den Umstand verstärkt, dass es in meiner aktuellen Lebensphase einen Teil meiner Existenzgrundlage darstellt. Wenn mein Lebensunterhalt bzw. mein berufliches Weiterkommen davon abhängt, dann ist aufzugeben einfach undenkbar. Bleibt das Erfolgserlebnis aus, an dem auch das berufliche Dasein hängt, ist das Drama einer Niederlage größer. Wenn es lediglich ein kostspieliges Hobby ist, geht das Leben normal weiter. Wenn es darauf ankommt, wer den Erfolg stärker will, dann wird sich jener durchsetzen, bei dem es um mehr geht. Auch das bin ich.

    In Oceanside fragte niemand, was es denn brächte, das Race Across America zu bestreiten. Auch wenn mich nicht alle erkannten, so war ich mir doch ziemlich sicher, dass alle 170.000 Einwohner wussten, was das RAAM ist. Immerhin startet es am 1888 erbauten Oceanside Pier; dieser ist mit 592 Metern der längste, hölzerne Pier an der US-amerikanischen Westküste und somit ein Denkmal für sich.

    In Oceanside werden die Mietautos für das Rennen vorbereitet

    Beim Race Across America erhält jeder Teilnehmer eine Startnummer, die ihm ein Leben lang bleibt. Es sind die Zahlen einer mehr oder weniger großen Karriere beim RAAM. Franz Spilauer, Österreichs erster Sieger, würde heute wie damals die Nummer 66 tragen. Wolfgang Fasching hatte die Nummer 201 zugeteilt bekommen. Gerhard Gulewicz trägt Zeit seiner Karriere die 316. Ich erhielt die 377, nach mir wurden beispielsweise David Misch die 469, Franz Wintersberger die 471 oder Severin Zotter die 536 zugeteilt. Alexandra Meixner, die erste Österreicherin, die (2017) das RAAM beendete, war mit Nummer 568 im Ziel.

    Die Tage vor Rennbeginn sind geprägt von Hektik und Umtriebigkeit. Die Organisatoren finalisieren das Road Book, in dem die knapp 55 Time Stations und der Weg, den die Teilnehmer minutiös zu folgen haben, eingezeichnet sind.

    Mein Team organisiert all jene Materialien, die für unseren langen Trip notwendig werden könnten: Kabel, Klebeband, Werkzeug, Wasser, Lebensmittel und so weiter. In unserer Unterkunft wird die notwendige Technik für Funk und Kommunikation in die Mietautos verbaut, es werden Lautsprecher und Zusatzscheinwerfer installiert, Dachträger für die Ersatzfahrräder montiert und das Wohnmobil rennfertig gemacht. Abends sitzen wir beim gemeinsamen Abendessen und besprechen letzte taktische Details. Abendessen gibt es für mich übrigens keines, ich stelle bereits drei Tage vor dem Start meine Ernährung auf Flüssignahrung um, damit sich mein Verdauungstrakt schon an die Rennverpflegung gewöhnt.

    Selbstverständlich gehören zur 14-tägigen Akklimatisation auch leichte Trainingsfahrten. Dabei geht es weniger darum, sich den letzten Schliff zu holen – dafür hatte ich ein Jahr lang Zeit, und wenn ich es in dieser Spanne nicht geschafft haben sollte, würden die letzten beiden Wochen auch nichts mehr retten können –, sondern vielmehr darum, erste Teilstücke der Strecke abzufahren und mich mit diesen sowie mit den herrschenden klimatischen Bedingungen vertraut zu machen.

    Wie jeder Spitzensportler mache ich auch in meiner Jahresplanung Pause, und zwar im Herbst. Im November geht es mit den ersten Trainingskilometern los, und über den Winter hindurch wird der acht Monate lange Formaufbau richtig hart und intensiv. „Winter" heißt, dass es stürmt und schneit oder dass es regnet und rutschig ist. Deshalb sitze ich sechs Tage in der Woche und meist deutlich über dreißig Stunden in der Woche am Ergometer.

    Hitzetraining ist vor dem RAAM sehr wichtig, um sich an die Hitze zu gewöhnen

    Da ich mir meinen Trainingsraum so eingerichtet habe, dass ich neben meiner körperlichen Aktivität auch telefonieren und arbeiten kann, finde ich lange Ausdauereinheiten manchmal gar nicht so schlimm. Mit Ski-Rennen, den Tennisspielen im Rahmen der Australian Open und mit Musikvideos vertreibe ich mir die Zeit. Die Trainingspläne beinhalten aber auch viele hochintensive Tempo- oder Kraftintervalle, die mich bis an die Grenzen bringen. Oft bin ich am Abend völlig fertig und zu nicht mehr viel zu gebrauchen. Abzüglich der Rennen bringe ich es pro Jahr auf tausend Stunden am Rad – das ergibt umgerechnet knapp über dreißigtausend Trainingskilometer.

    Es mag paradox klingen: Wenn ich die härtesten Momente des RAAM beschreiben müsste, dann sind es diese Wochen im Winter. Draußen schneit es, die Beine tun mir schon am Morgen von den Einheiten der vergangenen Tage weh, ich bin mit mir alleine und weiß, dass heute wieder sieben Stunden auf der Rolle am Plan stehen. Erst wenn es draußen wieder dunkel ist, steige ich vom Rad. Dafür brauche ich meine gesamte Motivation. Manchmal muss ich mit mir selbst kämpfen, um diesen Alltag zu ertragen. Aber ich weiß, dass ich beim RAAM nur dann die beste Leistung bringen werde, wenn ich diese Trainings durchziehe. Im Frühling verlagert sich das Training dann mehr und mehr ins Freie, ich treffe wieder auf meine Trainingskollegen und damit vergrößert sich auch der Spaßfaktor enorm. Die Wochen vergehen dann irrsinnig schnell, der Start rückt immer näher.

    Ab dem Moment, in dem ich starte, gibt es endlich keine Fragen mehr, kein Denken, kein Grübeln, kein Entscheiden. In diesem Moment ist alles schon passiert. Ein Jahr voller Sinnfragen, voller Selbstmotivation, voller Aufbäumen und manchmal auch Faulheit, voller schlechtem Gewissen, wenn mal wieder nichts gegangen ist im Training liegt dann bereits hinter mir. Sämtliche Fragen sind dann längst beantwortet: Ist das Team gut genug vorbereitet? Bin ich technisch top organisiert? Ist das Rad in Ordnung? Habe ich alles für die Sponsoren gemacht und für die Medienarbeit in die Wege geleitet? Ist an alles gedacht und sind alle tausend Puzzleteile am richtigen Platz?

    Wenn der Startschuss fällt,

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