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Der azurne Planet
Der azurne Planet
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Der azurne Planet

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About this ebook

»Die Kastenunterschiede hatten beim Schwimmblattvolk schnell ihre althergebrachte Bedeutung verloren. Anarchisten und Kuppler waren vollständig verschwunden. Ehen zwischen den Kasten waren keineswegs mehr ungewöhnlich, insbesondere, sofern sie zwischen Kasten mit annähernd gleichem sozialem Status geschlossen wurden. Die Gesellschaft verfiel dadurch natürlich nicht in Chaos. Die Trüger und Brandstifter wahrten – wie eh und je – ihre traditionelle Unnahbarkeit; die Schmieresteher konnten einer subtilen, nichtsdestotrotz allgemeinen Geringschätzung nicht entgehen, und dort, wo die Kasten mit einem Handwerk oder Gewerbe zu tun hatten, funktionierten sie mit unverminderter Effektivität. Die Bauernfänger stellten den Großteil jener, die von Korakeln – Weidenrutenbooten – aus fischten, und obwohl die einst zahlreichen Preller zu einer bloßen Handvoll zusammengeschrumpft waren, dominierten sie immer noch die Färbereien auf Feenblatt. Schmuggler kochten Firnis, Missetäter zogen Zähne. Lumpen bauten die Schwammlauben in den Lagunen, die Taschenspieler besaßen das vollständige Monopol auf dem Gebiet der Taschenspielerei. Letzteres erregte die Neugier der Jugendlichen, welche fragten: »Was war zuerst da: Taschenspieler oder Taschenspielerei?«
Soweit der Beginn des Romans Der azurne Planet.

Sklar Hast will nicht nur Zander Rohan als Gildemeister der Taschenspieler beerben, sondern hat es auch auf dessen Tochter Meril abgesehen. Doch es kommt alles anders als geplant: Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – Ereignisse, welche das Leben aller Schwimmblattbewohner verändern werden … Ein Roman über Identität, Freiheit und Wille.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateSep 16, 2018
ISBN9781619472983
Der azurne Planet
Author

Jack Vance

Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

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    Book preview

    Der azurne Planet - Jack Vance

    Jack Vance

    Der azurne Planet

    Edition

    Andreas Irle

    Hunschlade 27

    51702 Bergneustadt

    2017

    Originaltitel: The Blue World

    Copyright © 1966, 2005 by Jack Vance

    Originalausgabe: The Blue World – Ballantine: New York, 1966

    Deutsche Erstausgabe: König der Wasserwelt – Moewig: München, 1967

    Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Spatterlight Press

    Titelbild: Marcel Laverdet

    Satz: Andreas Irle

    Übersetzung: Andreas Irle

    Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald

    ISBN 978-1-61947-298-3

    V03 2017-03-20

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    spatterlight.de

    Management: John Vance, Koen Vyverman

    Das Buch

    »Die Kastenunterschiede hatten beim Schwimmblattvolk schnell ihre althergebrachte Bedeutung verloren. Anarchisten und Kuppler waren vollständig verschwunden. Ehen zwischen den Kasten waren keineswegs mehr ungewöhnlich, insbesondere, sofern sie zwischen Kasten mit annähernd gleichem sozialem Status geschlossen wurden. Die Gesellschaft verfiel dadurch natürlich nicht in Chaos. Die Trüger und Brandstifter wahrten – wie eh und je – ihre traditionelle Unnahbarkeit; die Schmieresteher konnten einer subtilen, nichtsdestotrotz allgemeinen Geringschätzung nicht entgehen, und dort, wo die Kasten mit einem Handwerk oder Gewerbe zu tun hatten, funktionierten sie mit unverminderter Effektivität. Die Bauernfänger stellten den Großteil jener, die von Korakeln – Weidenrutenbooten – aus fischten, und obwohl die einst zahlreichen Preller zu einer bloßen Handvoll zusammengeschrumpft waren, dominierten sie immer noch die Färbereien auf Feenblatt. Schmuggler kochten Firnis, Missetäter zogen Zähne. Lumpen bauten die Schwammlauben in den Lagunen, die Taschenspieler besaßen das vollständige Monopol auf dem Gebiet der Taschenspielerei. Letzteres erregte die Neugier der Jugendlichen, welche fragten: »Was war zuerst da: Taschenspieler oder Taschenspielerei?«

    Soweit der Beginn des Romans Der azurne Planet.

    Sklar Hast will nicht nur Zander Rohan als Gildemeister der Taschenspieler beerben, sondern hat es auch auf dessen Tochter Meril abgesehen. Doch es kommt alles anders als geplant: Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – Ereignisse, welche das Leben aller Schwimmblattbewohner verändern werden … Ein Roman über Identität, Freiheit und Wille.

    Der Autor

    Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.

    Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.

    Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

    Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:

    www.editionandreasirle.de

    Kapitel I

    Die Kastenunterschiede hatten beim Schwimmblattvolk schnell ihre althergebrachte Bedeutung verloren. Anarchisten und Kuppler waren vollständig verschwunden. Ehen zwischen den Kasten waren keineswegs mehr ungewöhnlich, insbesondere, sofern sie zwischen Kasten mit annähernd gleichem sozialem Status geschlossen wurden. Die Gesellschaft verfiel dadurch natürlich nicht in Chaos. Die Trüger und Brandstifter wahrten – wie eh und je – ihre traditionelle Unnahbarkeit; die Schmieresteher konnten einer subtilen, nichtsdestotrotz allgemeinen Geringschätzung nicht entgehen, und dort, wo die Kasten mit einem Handwerk oder Gewerbe zu tun hatten, funktionierten sie mit unverminderter Effektivität. Die Bauernfänger stellten den Großteil jener, die von Korakeln – Weidenrutenbooten – aus fischten, und obwohl die einst zahlreichen Preller zu einer bloßen Handvoll zusammengeschrumpft waren, dominierten sie immer noch die Färbereien auf Feenblatt. Schmuggler kochten Firnis, Missetäter zogen Zähne. Lumpen bauten die Schwammlauben in den Lagunen, die Taschenspieler besaßen das vollständige Monopol auf dem Gebiet der Taschenspielerei. Letzteres erregte die Neugier der Jugendlichen, welche fragten: »Was war zuerst da: Taschenspieler oder Taschenspielerei? Darauf antworteten die Ältesten gewöhnlich: »Als das Schiff aus dem Weltraum die Ersten auf diesen gesegneten Schwimmblättern aussetzten, waren vier Taschenspieler unter den Zweihundert. Später, als die Türme gebaut und die Lampen eingerichtet waren, gab es Taschen zu spielen und es erschien nur angebracht, dass sich die Taschenspieler mit diesem Gewerbe beschäftigten. Es kann gut sein, dass die Dinge in der Äußeren Wildnis so waren – vor der Flucht. Zumindest erscheint es wahrscheinlich. Zweifellos gab es Lampen, die man hat aufblitzen lassen und Taschen, die gespielt wurden. Natürlich gibt es Vieles, was wir nicht wissen, Vieles, worüber die Denkschriften entweder schweigen oder über das sie sich unklar ausdrücken.«

    Ob die Taschenspieler aufgrund der althergebrachten Anwendung zu ihrem Gewerbe herangezogen worden waren oder nicht, es gab jetzt nur noch selten einen Taschenspieler, der seine Berufung nicht bis zu einem gewissen Maß in einem der Türme fand, entweder als Takler, als Lampenpfleger oder als vollwertiger Taschenspieler.

    Eine weitere Kaste, die Langfinger, errichteten die Türme, welche gewöhnlich zwanzig bis dreißig Meter hoch in der Mitte der Schwimmblätter standen, unmittelbar über dem Hauptstrunk der Meerespflanze. Üblicherweise gab es vier Stränge geflochtener oder geschichteter Binderweide, die durch Löcher in der Pflanzenmatte an einem kräftigen Stängel fünf oder zehn Meter unter der Oberfläche befestigt waren. Oben am Turm befand sich eine Kuppel mit Wänden aus gespalteter Weide und einem Dach aus gefirnisster und geschichteter Pflanzenhaut. An Rahen, die an jeder Seite herausragten, hingen Gitterfenster mit neun in einem Quadrat angeordneten Lampen, einschließlich Taschen und Bedienmechanismen. Fenster in der Kuppel boten einen Blick über das Wasser zu den benachbarten Blattinseln – so weit wie die drei Kilometer Strecke zwischen Grünlicht und Adelranke oder so nah wie der halbe Kilometer zwischen Leumar und Volkreiche Billigkeit.

    Der Meistertaschenspieler saß an einem Bedienpult. Zu seiner Linken waren neun Klopfstangen, die mit den Lampentaschen im Gitterfenster zu seiner Rechten verbunden waren. Genauso steuerten die Klopfstangen zu seiner Rechten die Taschen zu seiner Linken. Auf diese Art und Weise waren die Abfolgen, welche er eingab, von seinem Standpunkt aus betrachtet identisch mit jenen, welche er erhielt, und somit kam er nicht durcheinander. Während des Tages waren die Lampen aus und weiße Scheiben übernahmen die gleiche Funktion. Der Taschenspieler gab die Abfolgen mit schnellen Schlägen der rechten und linken Hand ein und trat auf den Auslöser, der daraufhin die Taschen oder die Blenden an den entsprechenden Lampen oder Scheiben auslöste. Jede Abfolge brachte ein Wort zum Ausdruck; das Meistern eines Wortschatzes und die zuweilen bemerkenswerte Geschicklichkeit waren das Kapital eines Meistertaschenspielers. Sie alle konnten mit nahezu der Geschwindigkeit des gesprochenen Wortes senden. Alle kannten zumindest fünftausend und einige sechs-, sieben, acht- oder sogar neuntausend Abfolgen. Das Blattvolk vermochte die Abfolgen mehr oder weniger gut zu lesen. Sie wurden gleichfalls (gegen den vehementen Protest der Schreiber) zur Pflege des Archivs verwendet sowie in verschiedenen anderen Korrespondenzen, öffentlichen Bekanntmachungen und Botschaften.*

    zur Linken Farbe. Folglich:

    Weiß

    Schwarz

    Rot

    Rosa

    Dunkelrot

    und so weiter.

    Auf Tranque, tief im Osten der Blattgruppe, war der Meistertaschenspieler ein gewisser Zander Rohan, ein rigoroser und anspruchsvoller alter Mann, der über siebentausend Abfolgen beherrschte. Sein erster Geselle, Sklar Hast, besaß ein Wissen von gut über fünftausend Abfolgen. Wie viel mehr genau, hatte er nie öffentlich gemacht. Es gab zwei weitere Gesellen und drei Lehrlinge, zwei Takler, einen Lampenpfleger und einen Weidengeflecht-Instandhalter, letzterer ein Langfinger. Zander Rohan kümmerte sich von der Morgendämmerung bis zum Mittabend um den Turm: die betriebsamen Stunden, während derer Klatsch, Bekanntmachungen, Neuigkeiten und Meldungen bezüglich König Kragken die achtzig Kilometer lange Kette von Schwimmblättern hin- und herflackerten.

    Sklar Hast spielte die Taschen am Nachmittag. Anschließend, wenn Zander Rohan in der Kuppel erschien, kümmerte er sich um Wartungsarbeiten und beaufsichtigte die Lehrlinge. Als vergleichsweise junger Mann hatte Sklar Hast seinen Status durch die unkomplizierteste nur vorstellbare Art und Weise erlangt: Mit großer Hartnäckigkeit hatte er nach Vortrefflichkeit gestrebt und versuchte, die gleichen Standards auch an die Lehrlinge anzulegen. Er war ein positiver und direkter Mann, ohne große Freundlichkeit, der nichts von Bosheit oder Arglist und nur wenig Takt oder Geduld kannte. Die Lehrlinge ärgerten sich über seine Schroffheit, respektierten ihn aber. Zander Rohan hielt ihn für übermäßig pragmatisch und unzulänglich, wenn es um die Ehrerbietung gegenüber Respektspersonen ging – was bedeutete: gegenüber ihm selbst. Sklar Hast kümmerte es so oder so nicht. Zander Rohan musste sich bald zur Ruhe setzen; zu gegebener Zeit würde Sklar Hast Meistertaschenspieler werden. Er hatte keine Eile. Auf dieser ruhigen, hellen, unveränderlichen Welt, auf der die Zeit eher dahintrieb denn pulsierte, war nur wenig durch Eile zu gewinnen.

    Sklar Hast besaß eine kleine Pflanzenmatte, die er als einziger bewohnte. Die Matte, ein herzförmiger Bausch schwammartigen Gewebes von dreißig Metern Durchmesser, trieb im Norden der Lagune. Seine Hütte war von Standardbauart: aus gebogenen und festgezurrten Weidenruten gefertigt, über welche Bahnen von Pflanzenhaut gespannt waren, die widerstandsfähige, nahezu durchsichtige Membrane, die von den Unterseiten der Meerespflanzenmatten abgeschält wurde. Anschließend war alles mit gut abgelagertem Firnis überzogen worden, der aus gekochtem Meerespflanzensaft gewonnen wurde, dem das Wasser entwichen war und dessen Harze miteinander verschmolzen waren.

    Dem schwammartigen Gewebe der Matte entwuchs weitere Vegetation: Büsche, ein Dickicht aus bambusähnlichen Rohren, die als Binderweide von guter Qualität verwendet wurden, und Aufsitzerpflanzen, die von der Zentralähre der Meerespflanze herabhingen. Auf anderen Matten mochte der Bewuchs entsprechend der ästhetischen Theorie angepflanzt worden sein, doch Sklar Hast hatte nicht viel Geschmack an solchen Dingen gehabt und die Mitte seiner Matte war nur wenig anderes als ein unordentliches Gestrüpp aus unterschiedlichen Halmen, Wedeln, Ranken und Blättern in verschiedenen Tönen von Schwarz, Grün und Rostorange.

    Sklar Hast hielt sich für einen glücklichen Mann. Unglücklicherweise gab es auch eine Kehrseite, denn genau die Eigenschaften, welche ihm Prestige, seine Position und ein Privatblatt eingebracht hatten, waren nicht jene, die dazu angetan waren, ihn leicht durch die bedächtigen Routinen der Blattgesellschaft zu bringen. An diesem Nachmittag erst war er in einen Streit über eine ganze Reihe grundlegender Blattprinzipien hineingeraten. Nun saß er auf der Bank vor seiner Hütte, nippte an einem Becher Wein, beobachtete, wie sich die lavendelfarbene Dämmerung über den Ozean legte und brütete über die eigensinnige Verrücktheit Meril Rohans, Tochter von Zander Rohan. Eine Brise kräuselte das Wasser und bewegte das Laubwerk. Als er tief Luft holte, spürte Sklar Hast, wie sich sein Ärger löste und abfloss. Meril Rohan konnte tun, was ihr gefiel. Es wäre eine Torheit, sich zu ereifern – sei es im Zusammenhang mit ihr oder Semm Voiderveg oder sonst etwas. Die Verhältnisse waren nun einmal wie sie waren. Wenn niemand anderes Einwände erhob, weshalb sollte er es tun? Bei diesem Gedanken lächelte Sklar Hast ein schwaches, recht bitteres Lächeln in dem Wissen, dass er sich dieser Doktrin nicht vollkommen verschreiben konnte … Doch der Abend war viel zu mild und wohltuend für Streitsüchtigkeit. Zu gegebener Zeit würden sich die Dinge schon richten. Und während er zum Horizont blickte, vermeinte Sklar Hast in einem Moment der Klarheit die Zukunft zu sehen, so ausgedehnt und leuchtend wie die träumerische Weite von Wasser und Himmel. Bald würde er sich mit einem der Mädchen, die er gerade prüfte, vermählen – und für immer das Alleinsein aufgeben, überlegte er wehmütig. Es gab keinen Anlass zur Eile. Im Fall von Meril Rohan … Doch nein. Sie nahm seine Gedanken lediglich wegen ihrer verdrehten und halsstarrigen Pläne hinsichtlich Semm Voidervegs in Anspruch – worüber nachzudenken sich nicht lohnte.

    Sklar Hast leerte den Weinbecher. Es war töricht, sich zu sorgen, töricht, sich zu ärgern. Das Leben war schön. In der Lagune hingen Gitterlauben, an denen die fleischigen, schwammähnlichen Organismen wuchsen, welche, gesäubert, gepflückt und gekocht, die Hauptnahrungsquelle des Schwimmblattvolks darstellten. Die Lagune wimmelte von essbaren Fischen, die mittels eines riesigen Netzes von den Raubfischen des Meeres getrennt waren. Es standen noch viele andere Nahrungsmittel zur Verfügung: Sporen vom Fruchtkörper der Meerespflanze, verschiedene Ranken und Knollen ebenso wie das gepriesene Fleisch des Graufischs, den die Bauernfänger aus dem Ozean fischten.

    Sklar Hast schenkte sich einen zweiten Becher Wein ein, lehnte sich zurück und blickte hinauf zu den Sternbildern, die mittlerweile funkelten. Auf halber Höhe im südlichen Himmel hing ein Sternhaufen aus fünfundzwanzig hellen Sternen, von dem, so behaupteten die Überlieferungen, seine Vorfahren auf der Flucht vor den sie verfolgenden, größenwahnsinnigen Tyrannen gekommen waren. Zweihundert Personen von verschiedenen Kasten hatten es geschafft sich auszuschiffen, bevor das Weltraumschiff im Ozean versunken war, der sich ungebrochen um die gesamte Welt erstreckte. Jetzt, zwölf Generationen später, waren aus den zweihundert zwanzigtausend geworden, die sich über die achtzig Kilometer der schwimmenden Meerespflanze zerstreut hatten. Die Kasten, welche während der ersten Generationen so eifersüchtig voneinander abgegrenzt worden waren, hatten sich allmählich aneinander angepasst und waren mittlerweile sogar miteinander vermischt. Es gab nur wenig, was den ruhigen Fluss des Lebens störte, nichts Brutales oder Unerfreuliches – außer, möglicherweise, König Kragken.

    Sklar Hast stand auf, ging zum Rand des Blattes, wo König Kragken vor zwei Tagen erst drei seiner Lauben leergerupft hatte. König Kragkens Appetit nahm von Jahr zu Jahr zu, genauso wie seine Masse, und Sklar Hast fragte sich, wie groß er letztendlich noch werden mochte. Gab es eine Obergrenze? Während seiner Lebenszeit war König Kragken deutlich gewachsen und hatte mittlerweile eine Länge von vielleicht achtzehn Metern erreicht. Sklar Hast blickte finster westwärts über das Meer, in die Richtung, aus der König Kragken gewöhnlich auftauchte, indem er lange Züge mit seinen vier Schaufelflossen vollführte und dabei aussah wie ein riesiger, grotesk hässlicher Mensch beim Brustschwimmen. Damit hörte die Ähnlichkeit mit einem Menschen natürlich schon auf. König Kragkens Körper bestand aus zähem schwarzem Knorpel und besaß die Form eines langen Zylinders, der auf einem massiven Rechteck ritt, aus dessen Ecken sich die Schaufeln erstreckten. Der Zylinder, welcher König Kragkens Hauptmasse bildete, öffnete sich vorne zu einem von vier Mandibeln und acht Tastern gesäumten Maul und hinten zu einem Anus. Oben auf dem Zylinder, ziemlich weit vorn, erhob sich eine Haube, aus der vier Augen hervorstanden: zwei starrten nach vorn, zwei nach hinten. König Kragken stellte eine schreckliche Vernichtungsmacht dar, doch glücklicherweise war er leicht zu besänftigen. Er erfreute sich an üppigen Massen von Schwämmen, und wenn sein Appetit gestillt war, verletzte er niemanden und richtete auch keinen Schaden an. Tatsächlich hielt er andere, plündernde Kragken aus der Region fern, indem er sie entweder tötete oder um sich schlagend und in Panik durch das Meer davonjagte.

    Sklar Hast kehrte zur Bank zurück und drehte sich zur Seite, sodass er das Spiel vom Tranqueturm sehen konnte. Zander Rohan war an den Taschen; er erkannte seine Anschläge. Sie waren von einer gewissen getragenen Schneidigkeit, die ganz allmählich hölzern wurde. Für das ungeübte Auge war Zander Rohans Stil sauber und gewandt; seine Präzision und Flexibilität waren jene eines Meistertaschenspielers. Doch nahezu unmerklich ließ seine Geschwindigkeit nach, sein Zeitgefühl versagte. Seinem Spiel wohnte eine gewisse spröde Eigenschaft inne, statt des subtilen Rhythmus’ eines Taschenspielers auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Zander Rohan wurde alt. Sklar Hast wusste, dass er ihn jederzeit überspielen konnte, sofern er den alten Mann demütigen wollte. Das jedoch war das Letzte, was er wollte, trotz all seiner Schonungslosigkeit und seines Mangels an Takt. Aber wie lange würde der alte Mann noch darauf beharren, seine Pflichten zu erfüllen. Selbst jetzt noch verzögerte Zander Rohan unvernünftigerweise seinen Ruhestand – aus Missgunst und Verbitterung, vermutete Sklar Hast.

    Die Antipathie war einer ganzen Reihe von Umständen geschuldet: Sklar Hasts kompromissloser Art, seinem Selbstbewusstsein, seiner fachlichen Kompetenz. Und dann war da noch die Angelegenheit mit Meril, Zander Rohans Tochter. Vor fünf Jahren, als die Beziehung zwischen den beiden Männern noch nicht so schwierig gewesen war, hatte Rohan eine ganze Reihe von nicht allzu subtilen Andeutungen gemacht, dass Sklar Hast Meril gerne als mögliche Ehepartnerin in Betracht ziehen könne. Von einem objektiven Standpunkt aus gesehen, hätte diese Aussicht seine Begeisterung wecken sollen. Meril war von seiner eigenen Kaste, die Tochter eines Gildenmeisters. Sklar Hasts Laufbahn konnte dadurch nur gefördert werden. Sie waren von der gleichen Generation, beide Elfer, eine Sache, zwar ohne formelle Bedeutung, die jedoch allgemein als wünschenswert und vorteilhaft erachtet wurde. Außerdem war Meril alles andere als unattraktiv, obwohl etwas langbeinig und jungenhaft schroff in ihren Bewegungen. Was Sklar Hast zu denken gab, war Meril Rohans Unberechenbarkeit und verdrehtes Verhalten. Wie die meisten Blattmenschen konnte sie die Abfolgen lesen, aber sie hatte auch die Schreibschrift der Ersten erlernt. Sklar Hast, dessen Augen auf die Präzision und Eleganz der Taschenspielabfolgen konditioniert waren, hielt die Schrift für unleserlich, verworren und mysteriös. Er ärgerte sich über ihren Mangel an Einheitlichkeit, obwohl er die Meistertaschenspieler erkannte und ein Kenner der einzigartigen und individuellen Stile war, die jeden von ihnen kennzeichnete. Bei einer Gelegenheit hatte er sich nach Meril Rohans Beweggründen erkundigt, die Schrift zu lernen. »Weil ich die Denkschriften lesen will«, hatte sie ihm gesagt. »Weil ich eine Schreiberin werden möchte.«

    Sklar Hast fand nichts an ihrem Ziel auszusetzen – jeder sollte seine Träume verfolgen können – aber er war verwirrt gewesen. »Wozu die ganze Mühe? Die Gesammelten Werke sind in Abfolgen widergegeben. Sie lehren uns das Wesentliche der Denkschriften und lassen die Absurditäten weg.«

    Meril Rohan hatte auf eine Art und Weise gelacht, die Sklar Hast etwas befremdlich gefunden hatte. »Aber genau das ist es, was mich interessiert! Die Absurditäten, die Widersprüche, die Anspielungen – ich frage mich, was das alles bedeutet!«

    »Es bedeutet, dass die Ersten ein Haufen verworrener und entmutigter Männer und Frauen gewesen sind.«

    »Was ich tun möchte«, hatte Meril entgegnet, »ist, eine sorgfältige neue Studie der Denkschriften vorzunehmen. Ich würde gern jede der Absurditäten notieren und versuchen, sie zu verstehen, versuchen, sie mit allen anderen Absurditäten in Beziehung zu setzen – weil ich einfach nicht glauben kann, dass die Menschen, welche die Denkschriften verfasst haben, diese Abschnitte als Absurditäten betrachtet haben.«

    Sklar Hast hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt. »Übrigens hat dein Vater erwähnt, dass du möglicherweise Interesse hättest, geprüft zu werden. Wenn du magst, kannst du ab morgen früh jederzeit auf mein Blatt

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