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Die Winnetou-Trilogie: Über Karl Mays berühmtesten Roman
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Ebook368 pages4 hours

Die Winnetou-Trilogie: Über Karl Mays berühmtesten Roman

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Herr May, wie haben Sie das gemacht?
125 Jahre nach der Veröffentlichung des dreibändigen "Winnetou"-Romans geht die vorliegende Untersuchung der Frage nach, wodurch sich diese einzigartig erfolgreichen Bücher auszeichnen und wie sich der Mythos darstellt, der ihre Titelfigur umgibt. Dabei werden unerwartete literarische Qualitäten ebenso sichtbar wie originelle kulturgeschichtliche Zusammenhänge.
LanguageDeutsch
Release dateSep 17, 2018
ISBN9783780216298
Die Winnetou-Trilogie: Über Karl Mays berühmtesten Roman

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    Book preview

    Die Winnetou-Trilogie - Helmut Schmiedt

    Einleitung

    Karl May ist der meistgelesene Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte. Winnetou wiederum ist Mays prominenteste Schöpfung, ein Begriff auch für viele, die nie ein Buch von ihm gelesen haben, und die „neben Faust wohl berühmteste Figur der deutschen Literatur"¹.

    Es gibt etliche ungewöhnliche Indizien, die bereits auf den einzigartigen Rang Winnetous hinweisen. Als Karl May 1987 aus Anlass seines 75. Todestages eine Briefmarke gewidmet wurde, war darauf nicht etwa er selbst zu sehen, sondern das Winnetou-Porträt, das den Band Winnetou I in der Ausgabe des Karl-May-Verlags schmückt. Winnetou ist es auch als einziger Figur dieses Autors beschieden, in den Duden aufgenommen worden zu sein. Bei den Segeberger Karl-May-Festspielen, die alljährlich Hunderttausende von Zuschauern anlocken, ist zu erfahren, dass sie für viele jugendliche Zuschauer wegen der überragenden Präsenz ihrer ständig wiederkehrenden Hauptfigur inzwischen ‚Winnetou-Spiele‘ heißen; dass der verantwortliche Schriftsteller auch eine große Zahl von Romanen geschrieben hat, die außerhalb Nordamerikas spielen, dürfte vielen Besuchern unbekannt sein. Der Schauspieler Pierre Brice avancierte mit den Karl-May-Filmen der 1960er-Jahre in der Rolle Winnetous zum Star und Teenager-Idol, und als nach seinem Tod im Jahr 2015 sein durchaus unspektakulärer Nachlass öffentlich versteigert wurde, war das den verschiedensten Medien eine ausführliche Berichterstattung wert. Wann immer möglich, greifen künstlerische und kommerzielle Erzeugnisse, die mit Karl May zu tun haben, auf den Namen Winnetou zurück. In Ratgeber-Literatur der jüngsten Vergangenheit wird dargelegt, wie man mit Hilfe von zehn sogenannten Winnetou-Prinzipien „ethisch-moralisches Verhalten im Wirtschaftsleben"² durchsetzen kann und wie man dank einer Winnetou-Strategie das eigene Dasein selbstbestimmt, glücklich und erfolgreich gestaltet: „Werde zum Häuptling deines Lebens"³.

    Auch im Werk Karl Mays selbst spielt der fiktive Apache⁴ natürlich eine herausragende Rolle, denn er war in dessen literarischer Karriere – wie übrigens auch Faust in derjenigen Goethes – von den Anfängen bis zum Ende beharrlich präsent, wenn auch mit Unterbrechungen. Schon in einer der ersten kurzen Abenteuererzählungen Mays, Old Firehand (1875), taucht ein Indianer dieses Namens auf. Anderthalb Jahrzehnte später, als Mays Ruhm seinem Gipfel zutreibt, wird in großer Auflage ein nach ihm betitelter Roman veröffentlicht, der nicht weniger als drei Bände umfasst. Wiederum knapp zwei Jahrzehnte später trägt Mays letzter Roman den Titel Winnetou. 4. Band (1910) und handelt davon, welche Art von Nachruhm dem großen Häuptling angemessen ist, eine Problematik, mit der sich May – außer in Bezug auf sich selbst – nur bei dieser Figur beschäftigt, während etwa der ebenfalls nach einem heroischen Protagonisten benannte mehrbändige Old Surehand-Roman auf einen solchen Nachfolger verzichten muss. Ferner tritt Winnetou zwischendurch in vielen anderen Arbeiten seines Schöpfers auf, darunter so beliebten wie dem gerade genannten, dem Schatz im Silbersee und dem Ölprinz.

    Die substanziellsten Informationen über den literarischen Winnetou vermittelt die nach ihm benannte Trilogie aus dem Jahr 1893, denn darin geht es sozusagen um Eckdaten seiner Lebensgeschichte: um den Beginn seiner Bekanntschaft mit Old Shatterhand – die, weil Old Shatterhand als Ich-Erzähler vieler Winnetou-Geschichten fungiert, in einem sehr elementaren Sinne die Grundlage dafür bietet, dass wir so viel über den Apachen erfahren –, um eine frühe Liebesgeschichte und den Tod mehrerer Personen, die ihm nahestanden, und schließlich um Winnetous eigenen Tod und sein Testament. Wer also lesen will, wie es im Grundsätzlichen um diese populärste Figur im literarischen Kosmos Karl Mays bestellt ist, muss sich vor allem den ersten drei Bänden zuwenden, die er nach ihr benannt hat und in engster zeitlicher Folge erscheinen ließ. Unzählige Leser haben das denn auch getan: Winnetou I erreicht mit vier Millionen verkaufter Exemplare die höchste Einzelauflage in der Reihe der Grünen Bände, der weithin bekannten Edition des Karl-May-Verlags, über die die Mehrheit der deutschen Leser diesen Autor kennengelernt hat. Winnetou II und Winnetou III folgen in gebührendem Abstand.

    Das Gewicht des Romans bestätigt sich in zahlreichen anderen Ausgaben und Projekten. Wenn Karl May ediert wird, steht häufig Winnetou am Anfang, insbesondere der erste Band. Auch Versuche, Mays Texte in völlig neuer Gestalt anzubieten – sie haben sich in letzter Zeit gehäuft –, setzen oft mit diesem Werk ein oder beschränken sich darauf. Das war beim Karl-May-Verlag so, als er zu Beginn des 21. Jahrhunderts daranging, Mays Abenteuerromane in neuem Design und mit veränderten Titeln in gekürzter Form für junge Leser anzubieten: Die drei Winnetou-Bände tauchten da sogleich als Blutsbrüder, Der alte Scout und Tödlicher Staub auf. Das war so, als in den Jahren 2008–2010 ein österreichischer Verlag Karl Mays Winnetou neu erzählt von Engelbert Gressl publizierte; diesmal lauten die Titel Freunde am Marterpfahl, Mörderjagd in der Prärie und Das Geheimnis des Häuptlings. Eine für Unterrichtszwecke konzipierte „Schulausgabe" des Winnetou I, die der Verlag Hase und Igel 2009 veröffentlichte, trägt den Titel Mein Blutsbruder Winnetou; sie wird ergänzt durch ein für Lehrkräfte bestimmtes Heft, das „Materialien & Kopiervorlagen" enthält. Auch in einer vom Arena Verlag produzierten Reihe, die sich der altersgerechten Aufbereitung von Kinder- und Jugendbuchklassikern für Schüler der 2. Klasse, d. h. für Erstleser, widmet, tauchte 2014 eine entsprechend gekürzte, sprachlich angepasste und illustrierte Fassung von Winnetou I auf. Auf der anderen Seite des Editionsspektrums erschienen 2015 die drei Winnetou-Bände sowie Der Schatz im Silbersee gemeinsam in einem Schuber im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins; diese aufwändig gestaltete Leipziger Ausgabe erfolgt „getreu nach den Erstausgaben", legt also Wert auf die Nähe des Textes zur ersten Buchausgabe von 1893. Erzählungen Karl Mays sind darüber hinaus in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt worden; eine Version mit lateinischem Text gibt es jedoch nur von einem Winnetou-Band, in diesem Fall dem dritten: Vinnetv. Tomvs tertivs. Narratio itineraria quam in Latinum vertit Johannes Linnartz (1998).

    Nahezu unüberschaubar ist die Zahl der Bemühungen, den Winnetou-Roman unter Beanspruchung künstlerischer Freiheit in anderem Rahmen als dem einer Buchveröffentlichung anzubieten. Der Bogen spannt sich von einer Theaterversion des ersten Bandes, die 1919 nach einem Buch von Hermann Dimmler am Deutschen Theater München uraufgeführt wurde, bis zu aktuellen, mit immer neuen Textversionen aufwartenden Inszenierungen auf rund einem Dutzend Freilichtbühnen des deutschsprachigen Raums. Winnetou gab es als siebenteilige Hörspielserie des WDR in den 1950er-Jahren und als deren parodistische Version unter dem Titel Ja Uff erstmal (2000), ausgeführt von Stars der deutschen Comedy-Szene, als Musical, in diversen Comics und natürlich im Film. Es wäre eine eigene, ausführliche Untersuchung wert, der multimedialen Verwertung des Winnetou-Romans systematisch nachzugehen.

    Die vorliegende konzentriert sich jedoch in erster Linie auf die Buchfassung des Romans, wie sie zu Lebzeiten des Autors erschien. Das Ziel liegt darin, eine möglichst umfassende, perspektivenreiche Analyse zu erarbeiten: Wie ist er entstanden? Wie erzählt May? Wie geht er mit der historischen Realität um? Mit welcher Tendenz schildert er die Angehörigen verschiedener Länder und Kulturen, deren Mit- und Gegeneinander den Kern der Handlung bildet und seinen Ruf als „Abenteuerschriftsteller im Wesentlichen begründete? Welches Bild von den Geschlechtern zeichnet der Autor, und wie ist es um die sogenannten „Westmänner bestellt, eine Spezies von Menschen, die es sonst eigentlich gar nicht gibt, die May selbst aber in den Mittelpunkt des Geschehens rückt? Schließlich: Wie ist das Werk literaturhistorisch einzuordnen, und wie ist man nach dem Tod des Autors – von der erwähnten quantitativen Wirkung abgesehen – mit ihm umgegangen?

    Angesichts der Bedeutung, die der Winnetou-Roman in Mays gesamtem Schaffen einnimmt, und im Hinblick auf seine Wirkungsmächtigkeit liegt es nahe, eine derart weitreichende Untersuchung gerade an diesem Text vorzunehmen. Schon in früheren Forschungsarbeiten, die Teilaspekte ins Auge fassen, gibt es Anzeichen dafür, dass sie sich lohnt. Eine grundlegende These zur Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts zielt beispielsweise darauf, dass diese Art von Romanen grandiose Initiationsprozesse vorführt, bei denen sich eine Figur zu einer gänzlich neuen, besseren Persönlichkeit verwandelt; wo könnte das eindringlicher beobachtet werden als an einem Roman, dessen Ich-Figur binnen kurzer Zeit vom biederen Hauslehrer in St. Louis zum bewunderten Helden im Wilden Westen aufsteigt? Selbst Themen, die zunächst nebensächlich wirken, lassen sich offenbar ebenfalls ertragreich in Bezug auf diesen Roman abhandeln: Eine Untersuchung über Mays weibliche Figuren bezieht sich schon im Titel auf Winnetou I bzw. konkret auf Winnetous Schwester, die nur hier auftaucht, deren Mörder dann aber in den beiden Folgebänden gejagt wird: Nscho-tschi und ihre Schwestern (2012). Auch Merkwürdigkeiten, die der Aufklärung harren, treten zutage: Manche Leser der Erstausgabe werden mit einiger Irritation zur Kenntnis genommen haben, dass nach dem Vorwort des ersten Winnetou der Titelheld von einem Weißen erschossen wird, während ihn nach dem Zeugnis des dritten Bandes doch unzweifelhaft ein Indianer tötet.

    Die drei Winnetou-Bände werden im Folgenden mit Klammerzusätzen im fortlaufenden Text nach der historisch-kritischen Ausgabe zitiert, unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl; die Grundlage dieser Edition wiederum bildet die 1909 erschienene Ausgabe letzter Hand. Der Nachzügler Winnetou IV – heute eher bekannt unter dem Titel Winnetous Erben – wird auf dieselbe Art zitiert nach dem 1984 erfolgten Reprint der ersten Buchausgabe.

    –Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung. Herausgegeben von der Karl-May-Gesellschaft. Abteilung IV. Band 12, 13, 14: Winnetou. Erster Band/Winnetou. Zweiter Band/Winnetou. Dritter Band. Hrsg. v. Joachim Biermann/Ulrich Scheinhammer-Schmid. Bamberg/Radebeul ²2013, ²2014, 2013.

    –Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. v. Roland Schmid. Band 33: Winnetou. IV. Band. Reprint der ersten Buchausgabe von 1910. Bamberg 1984.

    I. Entstehung und Struktur

    Leben und Streben

    Es ist Karl May nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einst zu den wirkungsmächtigsten Schriftstellern der deutschen Literaturgeschichte gehören sollte. Das „Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers"⁵, als das er sich selbst bezeichnete, wurde am 25. Februar 1842 in dem erzgebirgischen Städtchen Hohenstein – heute: Hohenstein-Ernstthal – als Sohn eines blutarmen Webers geboren und wuchs in extrem kümmerlichen Verhältnissen auf. Die in Heimarbeit tätigen Handwerker waren durch die internationale Ausbreitung maschineller Herstellungsverfahren in großen Fabriken und das Geschäftsgebaren ausbeuterischer Unternehmer ins Elend geraten: Opfer der Industriellen Revolution, deren Leid an anderen Orten zu den bekannten Weberaufständen führte. In seiner Autobiografie berichtet Karl May eindrucksvoll vom allgegenwärtigen Hunger jener Jahre, von milieuspezifischen Krankheiten sowie von einem Vater, der die Familie gelegentlich mit sadistischen Prügelorgien bedachte.

    Dem überdurchschnittlich begabten Jugendlichen gelang es, den misslichen Umständen eine Ausbildung zum Lehrer abzutrotzen und erfolgreich zu beenden. Allerdings erwies sich die bürgerliche Berufslaufbahn nach kurzer Zeit als Sackgasse. Schon während seiner Seminarzeit ließ sich der junge Pädagoge einiges zuschulden kommen, was Eingang in die Personalakte fand, und die Verstöße setzten sich zu Beginn der selbstständigen Lehrtätigkeit fort. Sie reichten vom Diebstahl einiger Kerzen aus dem Vorrat des Ausbildungsseminars über eine unziemliche Annäherung an die Ehefrau eines Mannes, bei dem er sich eingemietet hatte, bis zur Aneignung der Uhr eines anderen Mannes, mit dem er sich danach die Unterkunft teilen musste. Dieses Delikt trug ihm eine Gefängnisstrafe von sechs Wochen ein; daraufhin wurde er aus der Liste der Lehramtskandidaten ein für alle Mal gestrichen. Wenig später geriet May endgültig auf die schiefe Bahn. In den Jahren 1864/65 und 1869 vagabundierte er als Dieb, Hochstapler und Betrüger durch die Umgebung seines Heimatortes; 1865–1868 und 1870– 1874 saß er die daraus resultierenden Haftstrafen ab. Anschließend gelang ihm eine umfassende Resozialisierung, auch wenn er 1879 noch einmal eine dreiwöchige Gefängnisstrafe wegen Amtsanmaßung auferlegt bekam. Von nun an konzentrierte er sich auf eine Tätigkeit als Schriftsteller und zunächst auch als Redakteur. Die Arbeit für verschiedene Publikationen des Dresdner Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer, die beides umfasste (1875–1877), vermittelte ihm wertvolle Erfahrungen auf dem literarischen Feld im weitesten Sinne.

    Obwohl nun also die schriftstellerische Laufbahn Karl Mays langsam in Gang kam, war noch keineswegs zu ahnen, dass er später vor allem mit weltumspannenden Abenteuererzählungen Erfolg haben würde. Bei den ersten Veröffentlichungen aus seiner Feder, von denen wir wissen, handelt es sich um kleine Gedichte unter Titeln wie Mein Liebchen – gemeint ist eine Tabakspfeife –, Liebeslied-Recept und Wandergrüße. Die anderen Arbeiten dieser Jahre bewegen sich in unterschiedlichsten Bereichen: Sachtexte, zu denen Geographische Predigten ebenso gehören wie ein voluminöses Buch der Liebe, Humoresken, Dorfgeschichten, historische Novellen. Karl May probiert aus, was er zu leisten vermag und was der Markt des Publikationsbetriebs verlangt bzw. ermöglicht. Auch kurze Erzählungen entstehen, die abenteuerliche Ereignisse in fernen Ländern schildern. Deren erste heißt Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. Aus der Mappe eines Vielgereisten, Nr. 1; die Figur Inn-nu-woh lässt mit dem Klang ihres Namens und einigen anderen Eigenschaften bereits an einen späteren legendären Apachen denken.

    Allmählich kristallisiert sich heraus, dass es dieses Genre ist, in dem Karl May am erfolgreichsten arbeitet. Ende der 70er-Jahre wird er mit Abenteuererzählungen zum regelmäßigen Mitarbeiter im Deutschen Hausschatz, einer renommierten Familienzeitschrift des katholischen Milieus, und seit 1887 publiziert er in Der Gute Kamerad, einer Zeitschrift für die männliche Jugend. Daneben wird er auch noch einmal für Münchmeyer aktiv, indem er ihm – überwiegend unter Pseudonym – fünf umfangreiche Fortsetzungsromane schreibt, die nach den damaligen Maßstäben des gutbürgerlichen Geschmacks als Trivialliteratur anrüchigster Art gelten, vergleichbar den Groschenheften des folgenden Jahrhunderts. Zu Beginn der 90er-Jahre hat May sich als Unterhaltungsschriftsteller etabliert, aber der materielle Erfolg hält sich immer noch in engen Grenzen.

    Die jüngere Literaturgeschichte zeigt, dass der Weitblick und das Geschick von Verlegern oft eine wichtige Rolle bei der Entwicklung literarischer Karrieren spielen. Bei May wird diese Funktion nach seinem Tod der Jurist Euchar Albrecht Schmid mit der Gründung des Karl-May-Verlags übernehmen; in Bezug auf Mays Lebzeiten ist insbesondere Friedrich Ernst Fehsenfeld zu nennen. Fehsenfeld gründet 1890 in Freiburg i. Br. einen eigenen Verlag, dessen Veröffentlichungen sich zunächst den verschiedensten Themen widmen. Bei der Suche nach profitablen Texten stößt er auf die Zeitschriften-Publikationen Mays, ist fasziniert von ihnen und konfrontiert May brieflich mit dem Gedanken, sie in Büchern gesammelt vorzulegen. May reagiert erst einmal zurückhaltend, aber ein persönlicher Besuch Fehsenfelds führt dann zu der angestrebten Zusammenarbeit. Am 17. November 1891 schließen Fehsenfeld und May einen Vertrag, der die Buchausgabe der zuvor verstreut erschienenen Reiseromane Mays vorsieht. Die auf diese Weise entstehende Edition wird 1912, in Mays Todesjahr, 33 Bände umfassen, darunter auch einige, die May nicht mit älteren Arbeiten füllt, sondern ganz oder teilweise neu schreibt. Schon nach kurzer Zeit fällt der finanzielle Ertrag so gewaltig aus, dass May es sich leisten kann, in Radebeul bei Dresden eine ansehnliche Villa zu kaufen, die er „Villa Shatterhand" nennt; später wird er eine anderthalbjährige Orientreise von seinen Einkünften finanzieren. In den Jahren nach 1900, als May aus verschiedenen Gründen ins Zentrum heftiger öffentlicher Kontroversen rückt und literarisch neue Wege geht, bricht der Verkauf allerdings ein, und Fehsenfeld denkt gelegentlich daran, seinen Verlag zu verkaufen. In die bittere Armut seiner Kinderzeit fällt May allerdings auch nicht annähernd zurück, zumal er Fehsenfeld im Zuge einiger Vertragsveränderungen immer günstigere Konditionen abgerungen hat.

    Als die Buchreihe eröffnet wird, ist es wichtig, gleich einen ebenso attraktiven wie umfangreichen Roman zu präsentieren, und so werden 1892 sechs Bände veröffentlicht, die – mit kleinen Veränderungen und einem eigens geschriebenen Anhang – das heute als Orientroman bzw. Orientzyklus bekannte Werk enthalten, das zuvor in Fortsetzungen über mehrere Jahre hinweg im Deutschen Hausschatz erschienen war: Durch Wüste und Harem (später: Durch die Wüste), Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul, In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren, Der Schut. Der nächste Roman führt auf den anderen großen Schauplatz der May’schen Abenteuerzählungen: in den sogenannten Wilden Westen Nordamerikas, durch den sich Mays Ich-Held, der im Orient Kara Ben Nemsi heißt, unter dem Namen Old Shatterhand bewegt. In der Besinnung auf eine schon vorher bestens eingeführte „prächtige Gestalt"⁶ gibt May dem nun entstehenden Werk den Namen Winnetou, der Rote Gentleman. Er kalkuliert zunächst mit zwei Bänden, entscheidet sich dann aber für eine Trilogie.

    Deren Komposition – im doppelten Sinne als Erstellung des Textes und als deren Ergebnis – gestaltet sich überaus heikel und kompliziert. Während May den ersten Band weitestgehend neu schreibt, füllt er die Bände zwei und drei überwiegend mit verschiedenen älteren Erzählungen, die er im Hinblick auf den jetzigen Zusammenhang natürlich verändern muss, und ergänzt sie um einige Kapitel, mit denen er sinnvolle Übergänge und Ergänzungen zu schaffen und eine harmonische Verbindung im Sinne einer schlüssig fortlaufenden Handlung herzustellen versucht. Eine Einleitung in Band I und ein Nachwort in Band III runden den umfangreichen Text ab.⁷ Das Verfahren ist also deutlich anders als bei der Neupublikation des Orientromans: Da reproduziert die Buchausgabe im Wesentlichen einen fertigen, in sich geschlossenen Text, während der Fehsenfeld-Winnetou zum erheblichen Teil aus früheren Erzählungen besteht, die völlig unabhängig voneinander geschrieben und veröffentlicht worden sind; in einigen der Folgebände wird May noch einmal anders verfahren und mehrere separat entstandene Erzählungen ohne Versuch einer nachträglichen Verknüpfung aufnehmen, die Bücher also als Sammelbände anlegen. Betrachtet man den Verlagsvertrag mit Fehsenfeld, so ist das Procedere beim Winnetou zweifellos zulässig, vielleicht sogar wünschenswert, aber es stellt den Autor vor Probleme eigener Art und steht literaturgeschichtlich als etwas überaus Seltenes, wenn auch nicht einzig da; z. B. hat Honoré de Balzac seinen Roman Die Frau von dreißig Jahren (1842) ebenfalls aus mehreren Werken zusammengesetzt, die ursprünglich eigenständig und getrennt voneinander erschienen waren, und auch Raymond Chandler ist so verfahren, z. B. bei Der große Schlaf (1939).

    Was erzählt nun der auf diese Weise erarbeitete Roman aus dem Jahr 1893?

    Inhalt des Winnetou

    In der Einleitung kündigt „der Verfasser an, er berichte im Folgenden über das traurige Schicksal der Indianer, die er „während einer ganzen Reihe von vielen Jahren persönlich kennengelernt habe und denen er in Gestalt von „Winnetou, de(m) große(n) Häuptling der Apachen, (…) das wohlverdiente Denkmal setzen (will)" (I 12). So wird der Leser unter zwei elementaren Vorzeichen in die Handlung geführt: Wir bekommen es zum einen mit vermeintlich autobiografischen Schilderungen zu tun, die denn auch in der Ich-Form vermittelt werden, und zum anderen mit Abenteuern, deren Darbietung im Dienste eines höheren Ziels steht.

    Es waren „(u)nerquickliche Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang (I 14), die das vorerst namenlose deutsche Ich einst in die Vereinigten Staaten getrieben haben, wo es dem Leser zunächst als Hauslehrer in St. Louis begegnet. Dort lernt der junge Mann den Büchsenmacher Henry kennen, der ihn mit zwei besonders wertvollen Gewehren ausstattet, dem weittragenden „Bärentöter und später dem 25-schüssigen „Henrystutzen". Henry sorgt, nachdem er die außergewöhnlichen geistigen und körperlichen Fähigkeiten seines jungen Freundes erkannt hat, auch dafür, dass dieser als Landvermesser bei einer Eisenbahngesellschaft angestellt wird, eine Tätigkeit, die ihn mitten in den sogenannten Wilden Westen führt, ein von staatlicher Ordnung noch so gut wie gar nicht erfasstes, zwischen Eingeborenen und weißen Invasoren umkämpftes Gebiet, in dem zahlreiche Banditen ihr Unwesen treiben. Unter der Anleitung des skurrilen Westmanns Sam Hawkens – der Westmann ist eine von Karl May erfundene Spezies männlicher Lebensführung: die ortsspezifische Variante des guten Menschen, der vorrangig im permanenten Abenteuer sein Lebensglück sucht – entwickelt das Ich nebenbei die Talente weiter, deren es für die Rolle des echten Westmanns bedarf. Erste Jagderlebnisse stellen seiner Umsicht und Tatkraft, seiner physischen wie psychischen Stärke ein glänzendes Zeugnis aus, und als der junge Mann den Zwist mit einem Kollegen dadurch beendet, dass er den Widersacher mit einem einzigen Hieb an die Schläfe niederstreckt, erhält er den Kriegsnamen Old Shatterhand. Wenig später kommt es zu einer Konfrontation mit Mescalero-Apachen, den eigentlichen Besitzern des für die Bahnstrecke vermessenen Landes. Diese Indianer zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter dem Einfluss eines Mannes namens Klekih-petra stehen, eines Deutschen, der an der Revolution von 1848 beteiligt war, nach Amerika geflüchtet ist und nun versucht, durch einen im humanen Verständnis erzieherischen Einfluss auf die Eingeborenen seinem Leben noch einen guten Sinn zu geben. Allerdings wird Klekih-petra schon bei der ersten Begegnung mit den Bahnvermessern von einem der zwielichtigen Begleiter Old Shatterhands erschossen, und so ist die kriegerische Zuspitzung der Konfrontation unvermeidlich. Bei den rasch ausbrechenden Kämpfen bedienen sich die Weißen der Unterstützung der Kiowas, Angehörige eines mit den Apachen verfeindeten Stammes, die sich freilich als wenig zuverlässig erweisen. Old Shatterhand schenkt seine Sympathie insgeheim den Apachen und bewährt sich nach und nach in verschiedenen Kampfsituationen, darunter rituell ablaufenden Duellen mit einem Kiowa-Krieger und mit Intschu tschuna, dem jetzigen Häuptling der Apachen. Allerdings zieht er sich auch zwischendurch im Kampf mit dessen Sohn Winnetou eine lebensbedrohliche Stichverletzung am Hals zu und gerät in die Gefangenschaft der Apachen. Bei der Ausheilung der schweren Wunde hilft ihm Nscho-tschi, Winnetous Schwester. Am Ende, nach Überwindung von mancherlei Irrungen und Wirrungen, stehen die völlige Aussöhnung mit den Apachen und sogar eine durch Blutsbrüderschaft besiegelte Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand. Von den Weißen überleben den Konflikt nur Shatterhand, Sam Hawkens und ihre Freunde Dick Stone und Will Parker.

    Bei den Mescaleros setzt nunmehr Winnetou den aufs Wildwest-Leben gerichteten Unterricht für Old Shatterhand fort: „Wir (…) machten weite Ritte, während welcher ich mich in allem, was zur Jagd und zum Kriege gehörte, üben mußte." (I 352) Zugleich stellt sich heraus, dass Nscho-tschi sich in den Gast verliebt hat, ein heikler Vorgang, da Old Shatterhands Lebensplan eine Verheiratung mit all ihren Folgen derzeit nicht vorsieht; auf diesbezügliche Äußerungen der Apachen antwortet er ausweichend. Nach einiger Zeit darf Old Shatterhand die unterbrochenen Vermessungsarbeiten beenden und begibt sich mit einer größeren Reisegesellschaft auf den Rückweg nach St. Louis. Dabei kommt es zu einer neuen Katastrophe: Sowohl Winnetous Vater als auch Winnetous Schwester werden von weißen Banditen erschossen, die sie im Besitz von Goldschätzen wähnen. Drei der Täter werden getötet, aber Santer, ihr Anführer, entkommt und flüchtet zu den Kiowas, mit denen daraufhin neue Auseinandersetzungen entstehen. Santer entkommt endgültig, und die Wege von Winnetou und Old Shatterhand trennen sich vorerst, da der eine Santer verfolgt und der andere mit Hawkens, Stone und Parker den Weg nach St. Louis fortsetzt.

    Der Anfang von Winnetou II schließt unmittelbar an diese Ereignisse an. In St. Louis erfährt Old Shatterhand, dass seine Taten ihm inzwischen eine gewisse Prominenz eingetragen haben: Er ist zu einem allgemein bekannten Helden avanciert. Anschließend büßt er bei einem Schiffsunglück sein gesamtes Bargeld ein und verdingt sich deshalb als Privatdetektiv in New York. Ein großer Auftrag führt ihn zurück in den Wilden Westen: Der Bankierssohn Ohlert ist entführt worden, Old Shatterhand soll ihn und den Entführer finden. Die Verfolgungsjagd, an der sich auch der berühmte Westmann Old Death beteiligt, führt nach Texas und Mexiko. Die Reisenden werden dabei nicht nur in Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Indianerstämmen der Apachen und Comanchen hineingezogen, sondern auch in die realgeschichtlichen Konflikte des amerikanischen Bürgerkriegs und des mexikanischen Machtkampfes zwischen Juarez und Maximilian. Während Shatterhand seine Mission erfolgreich zu Ende führt, stirbt Old Death an einer irrtümlich auf ihn abgefeuerten Kugel, aber er erreicht noch das große Ziel, das er sich gesetzt hat: die Verzeihung durch seinen lange verschollenen Bruder, den er einst ins Unglück getrieben hat. Winnetou wirkt in diesem Teil des Romans nur sporadisch mit.

    Anders verhält es sich mit den folgenden Ereignissen, die einige Zeit später stattfinden und in denen das Ich erst einmal einer vom frevelhaft-unvorsichtigen Umgang mit frisch gefördertem Öl hervorgerufenen Brandkatastrophe entkommen muss. Bei dieser Gelegenheit erfährt man, dass Winnetou sich vor langer Zeit in die Indianerin Ribanna verliebt, auf eine Verbindung mit ihr aber zugunsten seines Freundes Old Firehand verzichtet hat; Ribanna wurde dann von einem abgewiesenen weiteren Verehrer, dem Weißen Tim Finnetey, ermordet. Dieser Mann taucht nun als Parranoh, Anführer der Ponka-Indianer, wieder auf und stiftet sie zu allerlei Verbrechen an, insbesondere zu Überfällen auf einen Eisenbahnzug und auf die Pelzjägergesellschaft Old Firehands, bei der sich auch dessen Sohn Harry befindet. Zwar fällt Parranoh schließlich, aber die Kämpfe verlaufen für Old Shatterhand und seine Freunde, zu denen neben Winnetou auch wieder Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker gehören, ungewöhnlich verlustreich: Stone und Parker sterben, ebenso zahlreiche Männer aus Firehands Pelzjägergruppe, und dieser selbst wird schwer verwundet.

    Um die gelagerten Felle zu verkaufen, nehmen Winnetou und Old Shatterhand Kontakt zu einem in der Nähe tätigen Händler auf. Zu spät stellt sich heraus, dass dieser Mann niemand anders ist als Santer, der seinerzeit geflüchtete Mörder von Winnetous Vater und Schwester. Er nimmt die überraschten Feinde gefangen und bedroht sie mit dem Tod. Mit Hilfe einer List fliehen sie, aber es gelingt ihnen wieder nicht, den Verbrecher ihrerseits in die Hände zu bekommen. Am Ende trennen sich die Blutsbrüder auf unbestimmte Zeit.

    Der dritte Winnetou-Band setzt ohne direkten Anschluss an das Vorherige zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt ein und schildert zunächst eine Reihe verschiedener, durch das Personal verbundener Abenteuer. Im ersten Kapitel verhindert Old Shatterhand einen Indianerüberfall auf einen Eisenbahnzug, im zweiten zerstört er in der Wüstenlandschaft des Llano estaccado das Beutelager einer Verbrecherbande, im dritten besteht er wiederum Kämpfe mit einer Gruppe von Comanchen. Seine wichtigsten Begleiter sind der Westmann Sam Hawerfield, genannt Sansear, der Juwelier Bernard Marshal, dessen Diener Bob und, vom dritten Kapitel an, Winnetou. Als Hauptbösewichter agieren Fred und Patrik Morgan, Vater und Sohn, die in all diesen Konflikten eine üble Rolle spielen

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