Bei gleichzeitigem Verschwinden: Zwei ineinander verschlungene Essays
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Wo die Historie schweigt, spricht die Poesie. Dorothea Macheiner wirft mit fundiertem Wissen Licht auf verheimlichte Begebenheiten und GELEUGNETE GESCHICHTE(N), spart auch nicht mit mutiger Kritik an heutigen Fehlentwicklungen.
Die prähistorischen GÖTTINNEN wurden im Patriarchat erfolgreich verdrängt. Also wird die Autorin bei ihren Reisen zu Kultstätten oder Artefakten nach MALTA und GOZO, in die WACHAU, ins WALDVIERTEL oder nach ST. MARGARETHEN zurückverwiesen auf ihre HOHE INTUITION: Sie lässt Visionen und Träume aufsteigen, tritt in Zwiegespräche mit der "STERNDEUTERIN", dem Goten THEODERICH, dem maltesischen Ordensbruder JEAN de VALETTE oder mit der VENUS von WILLENDORF -, lässt Neues faszinierend bewusst werden. Im zweiten Essay geht es um die musikalisch hochbegabte GRETE TRAKL, die im Schatten ihres Bruders GEORG verschwindet. Wird der Schatten belichtet, stößt man auf Verstörendes: den mutmaßlichen Inzest, eine lebenslange Abhängigkeit voneinander - und von Drogen. Die Geliebte, Muse, sein Spiegelbild (oder war er ihres?) folgt ihm zuletzt in seinen frühen Tod. Ein sachkundiges und inspirierendes Buch!
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Book preview
Bei gleichzeitigem Verschwinden - Dorothea Macheiner
Verschwinden
I. Bei gleichzeitigem Verschwinden - Gedicht
Sterndeuterin, Sterndeuterin
Ich werde den Weg beschreiben
Der mich zu Dir führte
Mühselig
Wie ein Pilgerweg
Ferne GÖTTIN
Oder warst Du die Priesterin
Einer solchen?
Was wissen wir von Dir?
A female stone bust
Said to have been discovered
At Ġgantija temples
So las ich
Unter Deiner Büste
Nicht aber gleichst Du
Den fülligen GÖTTINNEN
Erdmüttern
Aus der sogenannten
Tempelzeit
Deren Köpfe
Austauschbar schienen
– Und sie wurden auch
Meist kopflos gefunden –
Schemenhaft
Die Gesichter
Du aber entstammst
Einer anderen Zeit
Einer späteren?
Als das Gesicht
Einer Frau
Mehr bedeutete
Als der gebärende Schoß
Wer warst Du?
Wer hat Dich
Gemeißelt in Stein
Den limestone
Der Insel?
In göttlicher Nacktheit
Die Brüste wie Knospen
Das Haupt bedeckt
Von einer steinernen Krone
Unter der das strählerne Haar
Bis zu den Schultern reicht
Schmal gerundete Schultern
Ohne Andeutung der Arme
Zart auch der Hals
Der sich öffnet
Wie ein Kelch
Zur Blüte des Hauptes
Ikonenhaft schräggestellt
Die Augen
Der weit geöffnete Blick
In die Tiefe des Raumes
Der Zeit
Demoliert
Der Nasenrücken
Und der geschlossene Mund
ALLWISSENDE, Du –
II. Żebugġ
Żebugġ. Eine Stadt auf einem Hügelkamm, jenseits eines zerklüfteten Grabens, der sich meerwärts zu einem Tal weitet. Ein Ort, wie am Horizont einer Mondkraterlandschaft. Denn die dünne Erdschicht über den nackten Felsen gleicht einer räudigen Haut, die überall aufspringt. Bei näherem Hinsehen jedoch ist der Boden bedeckt mit dem Schorf der Garigue, den Flechten, Kräutern und Büschen. Dort, wo bewässert wird, grüne Flecken. Auch Żebugġ, übersetzt mit Olive, war einst von fruchtbaren Hainen umgeben. So sagt man.
Wie beim Anblick der Wüste erliegt das Auge über dem schroffen Abgrund des Grabens hinweg der Einbildung einer beinah greifbaren Nähe. Gleichzeitig aber sind die Häuser so winzig, dass sie sich fast wie ein Trugbild entziehen.
Wenn ich meinen Standort nur wenig verändere, sehe ich am Talausgang das Meer aufschäumen und hoch oben auf den Klippen terrassenförmig etwas zurückversetzt – die stille Stadt Żebugġ. Auch vom Meer aus gesehen also dieses Entrückt-Sein. Dieses Sehen ohne gesehen zu werden. Diese Noblesse einer Erscheinung, die mit dem Verschwinden spielt.
Tagsüber tarnen sich die Häuser in verschwiegenem Weiß. Nachts aber, unter südlichem Sternenstaub, glitzern fragile Lichtschnüre. Denn die stille Stadt ist bewohnt. Ihre fragwürdige Entfernung zeigt sich auch darin, dass ich weder Autostraßen noch sonstige Verkehrswege entdecke. Und so stelle ich sie mir wie herabgesenkt von einem anderen Planeten vor. Mit anderen Gesetzen und Zeitläufen als den unseren.
Anders auch als Mdina, eine weitere stille Stadt auf der Insel Malta. Denn hier befinden wir uns auf Gozo. Mdina, die alte Hauptstadt vor dem Eintreffen des Ordens der Ritter des Heiligen Johannes, ist eine Ansammlung von Palästen, Konventen und Kirchen, deren Verfallserscheinungen sorgfältig restauriert wurden. Dennoch widersteht Mdina, auch Die Schweigsame genannt, dem Vergleich mit einem Freilichtmuseum. Dazu sind diese alten Adelspaläste zu sehr in sich selbst verschlossen, den Geheimnissen ihrer ehemaligen Bewohner zugewandt, die sie voreinander geheim hielten und erst recht vor den Außenstehenden. Die Glut der Leidenschaften, das Auszehrende der Leiden ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, generationenlang, sodass der Frevel wie das Opfer zuletzt an Bedeutung verlor, zur Arabeske gerann wie auf den filigranen Mustern der schmiedeeisernen Gitter, durch die man das Verrinnen der Tage betrachtete.
In den Kirchen ist es die Ekstase der Maler, die die Räume beseelt. CARAVAGGIO, der mit seinem Blut signierte, MATTIA PRETI, der die Heiligen in den intimsten Momenten ihrer Verzückung zeigt, ANTOINE de FAVRAY, der die Kunst der ästhetischen Verführung beherrscht, mit der er die Großmeister des Ordens in ihrer weltlichen Eitelkeit porträtiert. Sie alle widerstehen dem Musealen. Zu heftig rühren sie an unsere eigenen Geheimnisse. An das, was wir vor uns selbst verbergen.
Żebugġ aber? Zwar sehe ich einen Kirchturm, ansonsten aber soll sich der Ort durch seine Spitzenklöpplerinnen hervorgetan haben. Eine weibliche Tätigkeit, die das Bräutliche evoziert. Die Olivenhaine also und die Brautkleider. Denn natürlich hat auch Żebugġ eine irdische Vergangenheit. Ich kann ihm sogar bei dieser Lage auf dem Plateau eines Hügels über dem Meer eine allerälteste Vergangenheit ansehen. Eine nicht nur bis in die phönizische oder die Bronzezeit zurückreichende, sondern eine steinzeitliche Herkunft. Nur die Gegenwart Żebugġs entzieht sich mir und selbstverständlich seine Zukunft.
Auch wenn es wahr wäre, dass es sich um einen Zweitwohnsitz wohlhabender Maltesen handelt, so würde dieser Umstand meinen Eindruck von einer Geisterstadt nur bestätigen.
Als ich Jahre später die Kirche und den Platz davor auf einem Foto sehe, erinnern sie mich in ihrer auffallenden Leere an GIORGIO de CHIRICOs Bilder. Die barocken Häuser mit ihren steinernen Balkonen und doppelten Fensterbögen, aber auch das Erdgeschoß der Kirche wirken abweisend verschlossen. Kein Mensch, kein Tier. Links und rechts des Platzes ein Bäumchen, auf einer Seite eine zerbröckelnde Steinmauer.
Die Kirche ist der Himmelfahrt MARIENs geweiht. Der Bau erscheint im Vergleich zu den Häusern und dem Vorplatz architektonisch sehr groß. Drei hohe Glockentürme und ein Erker über dem Eingangsportal mit einer Statue der Heiligen ziehen den Blick auf sich. Die zuvor als surreal empfundene Leere erhält nun einen befreienden Aspekt, vielleicht auch, weil man einige Schritte weiter das Meer ahnt.
Ein in seiner Leichtigkeit zwischen Himmel und Erde schwebender Ort, so zeigt er sich mir. Eine stille Stadt für herumschweifende Seelen, ein Soundsovieler-Seelenort …
Ich werfe einen Blick in den Spiegel. Die roten Pusteln überziehen nun schon den Hals und die Arme. Ich habe einen allergischen Ausschlag, der sich von Tag zu Tag verschlimmert. Dabei hoffte ich, hier Heilung zu finden auf der Insel der GÖTTIN. Der Name Gozo bedeutet Freude, Vergnügen. Gozo, ein Kraftort mit seinen uralten Tempeln und Steinkreisen.
Einer alten Sage nach war es die Insel Ogygia, auf der die griechische Nymphe KALYPSO den von Troja heimkehrenden, schiffbrüchigen ODYSSEUS für sieben Jahre in ihrem Zauberreich gefangen hielt. Dann endlich erhörte ihn JUPITER und sandte seinen Götterboten HERMES, der die Nymphe zwang, ihn ziehen zu lassen …
Die ganze Insel, hören wir, ein paradiesischer Garten mit alten Tempeln, rieselnden Quellen und betörendem Gesang. Reich der GÖTTINNEN und Priesterinnen seit den Zeiten von Atlantis.
Man hatte mir im Hotel Cornucopia ein Zimmer über den Garagen gegeben. Nur im Halbstock über der Straße gelegen – gegenüber der Parkplatz. Tag und Nacht das Rattern des Ventilators, der für das Kühlsystem zuständig war. Jedes Auto oder Motorrad, das vorbei donnerte, war schon von weitem und noch lange über die Kurve hinaus, die zum Ort Xagħra zurückführte, zu hören. Dieser Krach zerriss in unregelmäßigen Abständen die Stille, die dem Ort eigentümlich gewesen wäre. Zu welchem Zweck die vielen Lastwägen unterwegs waren, die in allen Fugen schepperten, erfuhr ich erst, als ich die Großbaustelle hinter dem Hotel entdeckte. Da wurde ein mehrstöckiges Gebäude für Ferienwohnungen errichtet.
Von meinem Balkon aus konnte ich nicht nur Żebugġ, sondern südwestlich davon, am äußersten Horizont, die Konturen der alten Cittadella der Inselhauptstadt Victoria erkennen.
Dorthin möchte ich mich nun, trotz meines fragwürdigen Aussehens, auf den Weg machen. Es gäbe einen Fußweg, sagte man mir, eine Abkürzung, die auch von Anrainern befahren würde.
Zunächst geht es am Rande des alten Ortskernes von Xagħra den tiefen Graben, hier Valley genannt, entlang. Eine leichte Steigung führt mich zu einer überwältigenden Aussicht auf die Tafelberge und Dörfer jenseits des Talschlusses, aber auch in den weitgeschwungenen tiefen Graben hinein, der einmal eine Meeresbucht gewesen sein muss. Jetzt ist der zum Teil felsige Boden nicht nur von dem Gestrüpp der Garigue überzogen, es wird auf den terrassierten Hängen auch Wein angebaut. Kleine, kultivierte Gärten vermischen sich mit einer schütteren Wildnis, die hier nichts Bedrohliches hat. Nun kann ich auch die schmale Straße sehen, die sich an den einzelnen Hütten und Höfen vorbei schlängelt, bis sie zwischen den Häusern am Meer verschwindet.
Und in gerader Luftlinie habe ich die Cittadella von Victoria vor mir. Eine befestigte, mittelalterliche Stadt, die wie ein gestrandetes Schiff auf einem Hügel thront. Herausragend der barocke Turm einer Kathedrale und ein Türmchen mit einer weithin sicht- und bestimmt auch hörbaren Glocke. Zur Zeit der türkischen Piraten haben sich die Inselbewohner manchmal monatelang in dieser Festung verschanzt. Heute ist die Cittadella nahezu unbewohnt. Ein düsterer Hochhauskomplex, der einen Teil der Wehranlagen verdeckt, stört den Anblick der locker bebauten Besiedelung, die sich bis an die alten Wallmauern herandrängt. Doch meine Art, mich Victoria zu nähern ist nicht die Übliche. Ich werde, den tiefen Graben überwindend, die Steilseite hinaufgehen.
Vor mir liegt eine halsbrecherisch abschüssige Straße, eine Mischung aus Teer und grobem Schotter, die überall aufreißt. Die Haarnadelkurven sind für Autos gedacht. Ich werde während meines mühsamen Abstieges allerdings nur einem einzigen Lieferwagen begegnen, der sich lautstark heraufquält. Für mich ist