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Aufleben
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Aufleben

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Das Experiment, sein Leben in 30 Tagen so intensiv wie möglich zu leben - mit dem Ziel, das Unmögliche wahr werden zu lassen. Dafür überschreitet Jonas alle Grenzen, es ist seine letzte Chance.
Gemeinsam mit seiner Weggefährtin Katrin, die auf der qualvollen Suche nach ihrer entführten Tochter ist, fordern die beiden die unfassbarsten Abenteuer heraus, um sich und ihre Liebsten zu retten.

„Aufleben“ zeigt, was alles in uns Menschen steckt, wenn wir den Alltag hinter uns lassen und uns der Intensität des Lebens öffnen. Eine bildgewaltige Reise auf einem fremden Kontinent, voller überwältigender Emotionen und persönlichem Wachstum beginnt.

Reizüberflutung der Sinne, dem Unbekannten eine Türe öffnen - innehalten und durchatmen.

LanguageDeutsch
PublisherLatos Verlag
Release dateJun 17, 2016
ISBN9783943308310
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    Book preview

    Aufleben - Florian Frick

    1.

    Die Sonne geht unter, während mein Blick über die Häuser der Stadt und die Lichter der Nacht schweift. Das Flachdach im achten Stock bietet den fast perfekten Blick auf ein Sammelsurium aus Mensch, Gebäude und dem nun erstrahlenden Kunstlicht. Der Tag verabschiedet sich, die Nacht bricht an. Auch ich werde mich jetzt verabschieden, um Platz für ein neues Ich zu machen. Der Wind bläst und das brennende Ende meiner Zigarette knistert ein letztes Mal auf, bevor ich sie auf der Betonbrüstung ausdrücke. Ich bin nicht schwindelfrei, aber an das Hinunterhängen meiner Füße von hier oben habe ich mich gewöhnt. Diesen Ausblick werde ich vermissen …

    „Jonas, du erfrierst hier oben noch, komm doch endlich rein!"

    Alexa hat ihren langen Mantel mit den grünen Punkten an, sie hat ihn damals von mir auf dem Flohmarkt geschenkt bekommen. Eine tolle Erinnerung. Nach einem kurzen, instinktiven Blick, wende ich mein Gesicht wieder von ihr ab. Ihr brünettes Haar, ihre glasig blauen Augen und der kleine Mund, der mir so vertraut ist, ich sehe sie vor meinem inneren Auge. Der echte Anblick ist unnötig, denn künftig werde ich nur noch mit den Erinnerungen und Bildern in meinem Kopf von ihr leben müssen. Ich nicke.

    „Ich bin dann mal im Wohnzimmer und warte auf dich", ertönt es von hinten ein weiteres Mal, bevor ich die Türe ins Schloss fallen höre.

    Meine Finger sind schon blau vor Kälte und zittern. Mein Herz bebt schon den ganzen Tag. Mein Blick fällt auf den Zeitungsartikel neben mir. Vorsichtig falte ich das Stück Papier zusammen. Die tiefen Falzlinien zeugen davon, wie oft ich ihn schon durchlas. Ich stecke ihn in meine Hosentasche, atme tief durch und schaue ein letztes Mal auf Berlin hinab. Es ist so weit, gleich wird es geschehen.

    Die Treppe hinter der Terrassentüre führt direkt in Alexas Zweizimmerwohnung. Die Wohnungstür ist angelehnt, ich gehe hinein. Es fühlt sich an, als würde ich eine Bühne betreten. Im Wohnzimmer sitzt sie, ihr Blick entspannt, das eine Bein unter ihrem Gesäß abgewinkelt. Unsere Blicke treffen einander, nur kurz halte ich ihnen stand. Ich senke meine Augen, als müsste ich den Weg zur Couch navigieren, obgleich ich diesen auch blind laufen kann. Zögerlich setze ich mich neben sie, schaue nach vorne an die leere Wand und bedauere, dass dort kein Fernseher steht, der noch etwas Ablenkung verschaffen könnte. Alexa ist sehr sensibel und kennt mich besser als jeder andere Mensch. Ich spüre, wie ihr Blick an mir haftet und die Situation durch mein Schweigen langsam zu einem Umbruch führt. Nun passiert das Unausweichliche, ich lasse es beginnen. Meine Augen wandern langsam nach rechts, an der Wand entlang, bis mein Kopf so weit gedreht ist, dass ich ihr ins Gesicht schauen kann.

    „Alexa, es ist aus", entgegne ich ihr ruhig und sachlich.

    Stille … ihre Augen öffnen sich weit, die Unterlippe weicht so weit nach unten, dass ein Kirschkern dazwischen passen könnte. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter.

    „Jonas?! Was hast du da gerade gesagt? Wie meinst du das?", entgegnet sie mir fragend, obwohl ich es nicht klarer hätte formulieren können. Ich schweige kurz, atme dann tief ein, um durch meine Nüchternheit überzeugender zu wirken.

    „So wie ich es sage, ich trenne mich von dir."

    Ein Schlag trifft mich von der Seite, es ist nur die flache Hand - ich hätte mehr erwartet.

    „Spinnst du, Jonas? Was um alles in der Welt ist los? Habe ich etwas verpasst? Sind wir nicht ein glückliches Paar, das sich liebt? Wieso redest du noch vor einem Monat über das Zusammenziehen?", feuert sie Sätze aus ihrem Mund, während sich die inneren Enden ihrer Augenbrauen nach oben ziehen und ihr Tränen in die Augen steigen.

    „Aber so ist es nun mal", entgegne ich ihr kalt.

    Der Moment ist durchtränkt von Schwere, lange hatte ich diese Worte geprobt, sie vor dem Spiegel aufgesagt. Ob mein Gesicht nun so ausschaut wie beim Üben, ich weiß es nicht. Ihre Hand fasst meine Schulter, sehr behutsam. Mein Herz trommelt.

    „Jonas, das bist doch nicht du. Lass uns darüber reden, du weißt doch, wir können über alles reden, wir finden eine Lösung. Das, was du sagst, kann nicht dein Ernst sein, was ist los?"

    Sie kann nicht streiten, dafür ist sie viel zu friedfertig. Doch selbst in diesem Moment so zu reagieren ist wirklich verwunderlich.

    „Alexa, ich habe mit Silke geschlafen", offenbare ich ihr unmissverständlich.

    „Du hast mich betrogen? Mit der Silke?!", schreit sie mich wutentbrannt an und springt auf.

    Die Friedfertigkeit wechselt schlagartig in Raserei, als würde ein Schuss aus einer Waffe ertönen und Hunderte Vögel gleichzeitig von den Bäumen aufschrecken.

    „Wie kannst du mir das antun? Du beschissener Kerl, wie kannst du nur? Wieso?", entgegnet sie mir und entfernt sich einen großen Schritt von mir.

    „Es ist passiert. Vielleicht hat mir das Gefühl des Abenteuers gefehlt. Wir leben harmonisch zusammen, aber weniger als Paar. Wir sind doch eher Freunde als Liebende."

    „Abenteuer? Was willst du denn? Soll ich mich von dir auspeitschen lassen oder was?"

    „Wir brauchen darüber nicht zu diskutieren", antworte ich und stütze mich vom Sofa auf.

    Wir stehen uns gegenüber, vom kleinen Glastisch getrennt, als wäre dies eine geschmolzene Eisscholle, die uns nicht mehr weiter tragen kann.

    „Dann verpiss dich doch! Verpiss dich sofort und komme nie wieder! Wie kannst du mir das antun!", schreit sie mir mit einer unbekannt druckvollen Stimme entgegen.

    Und dann: Da ist es, ich kann es sehen. Ihre Augen werden mehr als glasig. Sie schimmern immer heller und die salzige Flüssigkeit füllt ihre Augen. Die Unterlippe bebt, ihre Augenbrauen schreiben Verzweiflung in ihr Gesicht. Ich halte diesem Anblick nicht stand, senke meinen Kopf zu Boden und laufe einen Halbkreis um sie, als wäre ich ein Hund, der gerade Tadel erhielt. Langsam öffne ich die Türe zum Treppenhaus und schreite aus der Wohnung. Einen letzten Blick lasse ich in das hell erleuchtete Zimmer schweifen. Immer noch an derselben Stelle, mit dem Rücken zu mir gekehrt, fällt sie langsam auf ihre Knie und hebt ihre Hände vors Gesicht. Ihre Schultern zucken im Takt der Wellen ihrer Tränen, es bricht aus ihr heraus, maßlose Enttäuschung, Trauer, Wut und eine glückliche Zukunft, die nun Vergangenheit sein soll. Ich spüre meine Tränen, die tief in mir verschlossen sind. Langsam schließe ich die Türe, der helle Bildausschnitt wird schmaler und schmaler, bis auch die letzte Lichtlinie verschwindet. Da stehe ich, regungslos und in der Dunkelheit des Treppenhauses. Ein paar Sekunden lasse ich verstreichen, ehe ich den Lichtschalter im Flur betätige. Zeit zu gehen, die Zukunft liegt in meiner Hand.

    Die Vorbereitungen der letzten Tage liefen nach Plan. Ich verlasse das Haus, blicke nicht zurück und fahre mit dem Bus direkt zum Flughafen Berlin-Tegel, an dem ich schon heute Morgen war. Dort angekommen laufe ich zielstrebig zur Wand aus Schließfächern und entnehme meinen tags zuvor erworbenen und gefüllten Reiserucksack sowie meinen Reisepass, der nach zwei Jahren noch immer auf seinen ersten Stempel wartet. An der Fluginformation begrüßt mich eine stark geschminkte, blond gelockte Dame mit einem noch immer bemerkenswert natürlichen Lächeln. Sie ist schätzungsweise Mitte 40 und erfüllt optisch die Anforderungen, die ihr Job voraussetzt.

    Guten Tag der Herr, wie kann ich Ihnen behilflich sein?"

    „Hallo, ich brauche einen Flug, so bald wie möglich und ziemlich weit weg. Ein fremdes Land irgendwo am anderen Ende der Welt! Und warm soll es sein", beantworte ich ihre Frage zielstrebig, womit alle für mich relevanten Anforderungen gestellt sind.

    „Können Sie mir genauere Vorstellungen nennen? Wie viel soll das Ticket höchstens kosten? Wir haben eine Vielzahl an Flugzielen. Ist Ihnen die Sprache wichtig?"

    Sprache, an so etwas hatte ich noch nicht gedacht.

    „Ist mir glaube ich egal. Machen Sie doch einfach ein paar Vorschläge", entgegne ich ihr schulterzuckend.

    „Ist gut, dann schaue ich einfach mal. Einen Moment bitte."

    Während die Tasten ihrer Tastatur durch ihre Fingernägel klackern, schärfe ich meinen Blick auf das Namensschild, welches an ihrer Bluse festgeklemmt ist.

    „Also ich hätte da einen Flug nach Bali, Indonesien für 599 Euro, alternativ Buenos Aires, Argentinien für 579 Euro oder Neu-Delhi, Indien für 499 Euro."

    „Ähm, im Grunde ist es egal, ich kenne keines der Länder und kann auch keine der Sprachen. Welcher Flug wäre der nächste?"

    „Das wäre der nach Buenos Aires, spätester Check-in ist in einer Stunde."

    „Dann soll es so sein, ich nehme Argentinien", strahle ich Frau Hinterberg an, die meiner Meinung nach einen schöneren Namen verdient hätte.

    Nachdem alle Formalitäten erledigt sind und ich den Weg durch Sicherheitskontrolle und Gate hinter mich bringe, betrete ich den Flieger mit einem Gefühlscocktail aus Freude, Schmerz, Sehnsucht und Hoffnung. Kein Mensch wird mich erreichen können, mein Handy bleibt daheim. Ich will meine Reise isoliert bestreiten, ohne lästigen Floskelwechsel oder Telefonate, die mich an mein Alltagsleben erinnern.

    Es ist mittlerweile Nacht und ich bekomme einen Platz am Fenster zugeteilt. Die Menschen im Flieger sehen müde aus, es ist fast totenstill. Ich atme tief aus und senke meine Stirn, bis sie die seitlich angebrachte Plastikverkleidung berührt. Mein Blick fällt durch das kleine Fenster auf die richtungsweisenden Leuchten entlang der Rollbahn. Jetzt kann ich loslassen, das Schwierigste ist überwunden. Bilder in meinem Kopf fügen sich zu einem Film zusammen. Was wird mich erwarten und kann ich mein Ziel erreichen? Das Pulsieren in meiner Bauchgrube erinnert mich an den ersten Kuss mit Alexa. Wie es ihr wohl gerade geht? Ich blende den Gedanken gleich wieder aus. Ein weiteres Mal ziehe ich den Artikel aus meiner Tasche, atme tief durch und beginne auf der Rückseite meine Liste zu schreiben. Eine Liste des Schicksals, dem ich versuche ein Schnippchen zu schlagen. Die Schlagworte fallen mir wie Schuppen von den Haaren. Unterbewusst hatte ich mich schon die letzten beiden Wochen damit auseinandergesetzt, welche Punkte ich auf die Liste setzen würde, das zahlt sich jetzt aus. Nach getaner Arbeit strahlt mir die Flugbegleiterin mit großen dunklen Augen entgegen und fragt nach meiner Essenswahl. Ich nehme das asiatisch klingende Chickenmenü. Asiatisch hasse ich, das kommt mir sonst nie auf den Tisch.

    2.

    Mit Zwischenstopp in Madrid, wo mein Reisepass entjungfert wird, dauert die Anreise fast 25 Stunden. Bedenkt man, dass der Flieger mehrere Hundert Kilometer pro Stunde schnell ist, wird mir klar, wie verdammt groß die Erde ist und wie wenig ich von diesem Planeten kenne. Berlin ist eben auch nicht die Welt. Stolz durchquere ich die Passkontrolle in Buenos Aires. Geschafft, hier bin ich. Während ich auf meinen Rucksack am Gepäckband warte, lasse ich meine Blicke durch die Halle schweifen. Sicherheitspolizisten stehen würdevoll in ihren Anzügen da und blicken mit eiserner Miene drein. Dagegen wirken die Polizisten in Deutschland wie pubertierende Dorfjungen, die gerade nach ihrem Hund suchen. Ich sehe graziöse, braun gebrannte Frauenbeine an mir vorbeilaufen. Südamerikanische Frauen waren nie mein Typ, ich stand immer auf die osteuropäischen oder skandinavischen. Dennoch muss ich mir eingestehen, der gesunde Hautton, im Vergleich zu den momentan blassen Gesichtern in Deutschland, wirkt in diesem Moment sehr reizend. Schließlich erreicht mich mein Rucksack, der noch genauso ausschaut wie vor dem Abflug. Nach einer TV-Reportage über das Abfertigen von Reisegepäck an Flughäfen glaubte ich, man würde dem Gepäckstück die kilometerlangen Beförderungsstrecken in Form von Abschürfungen ansehen. Bevor ich den Airport verlasse, ziehe ich mir mehrfach den maximal möglichen Pesobetrag aus dem Automaten, schließlich soll kein Punkt meiner Liste am fehlenden Kleingeld scheitern. Die elektronischen Schiebetüren des Flughafenausgangs öffnen sich und mir prallt eine sauerstofflose Hitzefront entgegen. Ich bewege mich zögerlich nach draußen, bleibe seitlich stehen, schließe meine Augen und halte inne. Das ist der erste entscheidende Moment der kommenden vier Wochen, es gilt, ihm den nötigen Respekt zu zollen und ihn so wahrzunehmen, wie es mir vorgegeben wird. Die Wahrnehmung ausdehnen, mit allen Sinnen das Jetzt aufsaugen. Spüren, leben! Als würde ich vor einem Lagerfeuer stehen, fühle ich, wie sich die schwüle Luft den Weg durch meine Lungenflügel bahnt. Sie gleitet warm zwischen den Haaren meiner Unterarme hindurch. Feuchtigkeit sammelt sich in meinen Lidfalten, und als ich die Augen wieder öffne, spüre ich einen Tropfen Schweiß, der sich am Rand meines Auges gesammelt hat. Mit dem Finger tippe ich ihn an und stecke ihn mir in den Mund. Mein erster richtiger Schweißtropfen außerhalb von Europa, so schmeckt die weite Welt. Salzig schmeckt er, verbunden mit einer Note, die ich dem Bereich Schmutz zuordnen würde. Nächstes Mal sollte ich mir erst die Hände waschen. Schon jetzt bin ich stolz auf mich, hier zu stehen.

    Ich steige in den Shuttlebus, der mich ins Zentrum der pulsierenden Metropole bringen wird. Neben mich setzt sich ein junges Mädchen, das nach meinen Vorstellungen völlig untypisch für eine Südamerikanerin aussieht. Ihre Haare sind lila, die Fingernägel schwarz lackiert. Von der Seite kann ich zwischen ihren Augen und der großen Sonnenbrille durchlinsen. Schwarzer Lidschatten schmückt ihre Augenpartie. Sie trägt viel Silberschmuck und schwarze, hautenge Kleidung. Das erste Mal sitze ich neben einer Latina und sehe keinen Unterschied zu einer anderen Gothic-Braut, die genauso in Prenzlauer Berg wohnen könnte. Hoffentlich bleibt dies die Ausnahme und alles andere ist anders als daheim.

    An mir ziehen verwitterte Häuser vorbei, deren Farbe wie Wachs von Kerzen abblättert. Die Fensterläden sind ausgeblichen und die Vorgärten wirken im Vergleich zu deutschen gänzlich ungepflegt. Obgleich ich mich südlich vom Äquator befinde, säumt ein sattes Grün die Landschaft. Die offenen Fenster im Bus vertreiben die stehend schwüle Hitze und sorgen für etwas Erfrischung. Es scheint, als hätte ich mit jeder Reisestunde ein Grad Celsius dazugewonnen. Wo in Berlin das Thermostat sich stur auf etwa fünf Grad einpendelte, genieße ich jetzt die Wärme von gefühlten 30 Grad.

    Immer enger werden die Straßen und gleichzeitig schwillt die Höhe der Gebäude an, bis sie einen Schatten über den gesamten Bus werfen. Alte Laster und Autos, die in Deutschland schon seit Jahrzehnten keine TÜV-Plakette mehr gesehen hätten, ziehen an uns vorbei. Die Autos sprühen durch die verschiedenflächigen Lackierungen Charakter aus, keines gleicht dem anderen. Eine sympathische Abwechslung im Vergleich zur müden Monotonie der deutschen Straßen, auf denen allenfalls ein alter Bully noch als Charakterschnauze wahrgenommen wird.

    Je näher sich der Bus in Richtung Zentrum bewegt, umso weniger Leute sitzen im Bus. Die Gothic-Braut wird durch einen alten Argentinier mit markanten Gesichtszügen und tiefen Augenfalten ersetzt. Meine Haut wirkt neben ihm wie gebleichtes Papier. Er trägt eine Art Baskenmütze, die ihn aus meiner Sicht jugendlicher erscheinen lässt. Plötzlich spricht er mich an und überhäuft mich mit spanischen Sätzen. Keine Ahnung, was er von mir will. Ich deute mit dem Finger auf meine Brust und sage: „Germany".

    „Oh German, de Alemania. Si, Ballack!", entgegnet er mir freundlich strahlend.

    „Ballack, yes. Germany", ist das Einzige, was mir darauf einfällt.

    „You don’t speak Spanish? I lived in Cologne for one year. Ein Kölsch, bitte."

    „Yes, Cologne. I’m from Berlin, you know?"

    Er erzählt mir von seiner Zusammenarbeit mit deutschen Ingenieuren, die seiner Meinung nach die kreativsten Arbeiter der Welt seien. Dann klärt er mich darüber auf, in Argentinien gebe es dafür die besten Steaks der Welt. Als einheimischer Argentinier müsse er jedoch zugeben, in Köln das beste argentinische Steak seines Lebens gegessen zu haben - welch eine Ironie. Unser Gespräch wird abrupt beendet, da er schon bei der übernächsten Station den Bus verlässt. Erfreut über mein erstes Gespräch mit einem richtigen Argentinier schaue ich erwartungsvoll aus dem Fenster und fühle, dass wir dem Stadtzentrum schon sehr nahe sein müssen. Die Häuserdichte lässt keinen Platz mehr für Grün.

    Entgegen dieser Einschätzung erreiche ich erst nach weiteren 30 Minuten Fahrt den Stadtkern. Die Ausmaße müssen denen Berlins sehr ähnlich, wenn nicht noch größer sein. Eigentlich wollte ich gleich durch das Land streifen, doch allein der Name „Buenos Aires klingt so imposant und kraftvoll, dass es mich doch wie ein Magnet anzieht. Im Zentrum finde ich schnell eine Touristeninformation. Der Mann hinter dem Tresen zeigt mir, was es an Sehenswürdigkeiten gibt, aber diese interessieren mich nicht. Hellhörig werde ich erst, als er mir sagt, in welchem Viertel es für Touristen gefährlich ist. Von den Randgebieten der Stadtteile San Telmo und La Boca wird Touristen abgeraten. Ohne lange zu zögern, verabschiede ich mich und lasse mich von einem Taxi genau in diese Gegend fahren. Nicht gleich zum Randgebiet, sondern zum lebhaften Marktplatz von San Telmo. Müde von der langen Reise und geschwächt durch die zusätzliche Hitze betrete ich das erstbeste Hostel. Obwohl ich mir locker ein Einzelzimmer in einem Hotel leisten könnte, möchte ich mehr von der Backpacker-Reisementalität, die ich von Lara, einer begeisterten Reisefreundin, erzählt bekommen habe, erfahren. Ein blonder Sunnyboy mit Surfshirt und Badehose, nimmt am Empfang meine Daten auf. Als er in meinem Reisepass das Herkunftsland sieht, entgegnet er mir in einem miserablen Deutsch: „Scheißendreck! Schlamp! Prost!

    Ich muss lachen, nicke ihm zu und versuche ihm somit das Gefühl von Sympathie entgegenzubringen.

    Der größte „Dorm", was so viel wie Mehrbettzimmer mit geteilten sanitären Anlagen bedeutet, wird von acht Travellern

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