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Ja. Roman
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Ebook581 pages7 hours

Ja. Roman

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About this ebook

'Besser du widersetzt dich! Sieh die Tannen, wie sie mit dem Sturm kämpfen, wie sie sich zur Wehr setzen, sobald der Wind aufkommt. Sie bewegen die Spitzen der Äste, stechen mit ihren Nadeln, heilen ihre Wunden mit dem eigenen Harz. Und sie unterliegen auch, selbstverständlich. Werden zu Asche. Genau wie die Menschen! Sie rebellieren, springen gegen den Himmel, wollen sogar das Reich Gottes einnehmen. Sie wollen alles haben, und was bekommen sie? Nur graue Asche.'
Die Idylle im Tal Stram, im Süden Bulgariens gelegen, täuscht. Als Neureiche aus der Stadt versuchen, Boden zu gewinnen, das Tal in eine Immobilie zu verwandeln, gerät selbst der türkisch-stämmige Schmied Juri in aufrührerische Wallung. Das Tal, Projektionsfläche von Tradition, Kultur und individuellen Lebensentwürfen steht zur Disposition.
Wie wird es enden mit den Leuten vom Stram-Tal? Mit der schönen Bozhana, mit Kamen und Wesko? Mit dem Kampf um die Erhaltung der eigenen Würde, um Lebenssinn?

Die Zwiespältigkeit im Menschen zwischen Tradition und Zukunft wird hier 'am Puls der Zeit' packend erfasst. Nikolaj Tabakov, in seiner Heimat bekannt und gerühmt für seine 'saftige bulgarische Sprache', entwirft in der Tradition des Schelmenromans ein tragikomisches Panorama der Lebenswirklichkeit im heutigen Europa. Erstmals erscheint ein Werk des Autors in deutscher Sprache, übersetzt von Rumjana Zacharieva.

LanguageDeutsch
Release dateNov 3, 2016
ISBN9783954286263
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    Ja. Roman - Nikolaj Tabakov

    Überlegugen

    TEIL I

    1. Kapitel - Warum lebe ich?

    Das Haus war Kamen Enevs Kleid, war sein wärmender Pullover, sein schützendes Panzerhemd. Es war alt, geerbt von seiner uralten Familie väterlicherseits. Es wurde dereinst mit großer Sorgfalt und feinem Gespür für das Detail gebaut, damals, als die Häuser dem Schutz vor Stürmen, vor wilden Horden und vor dem bösen Blick dienten. Das Haus hatte hohe, mit Zinnen besetzte Wände, Schießscharten und sogar einen Wachturm mit der unvermeidlichen Fahne ganz oben.

    Im Verlauf der Jahrhunderte war das Haus bald Konak, bald Festung gewesen, mittelalterliche Burg, Zeugnis der Geschichte, Taubenschlag und Gedächtnis des hier lebenden Geschlechts. Es war wuchtig, groß und aus Stein, glich einem Felsen mitten im Feld. Ein facettenreiches Bauwerk aus dem Mittelalter, das dank der eher nur nachlässigen Fürsorge, die ihm Enjos Vorfahren gelegentlich nach starken Unwettern angedeihen ließen, bis zum heutigen Tage den Launen der Natur getrotzt und überlebt hatte. Dieses Haus duldete auch nichts Vergleichbares um sich. Es hatte keine Nachbarn, war von keinem Zaun umgeben, es gab nichts, was auch nur den Schatten eines Zweifels auf seine monumentale Größe geworfen hätte. Die Eichenbalken, auf denen die breiten Flügel des Daches ruhten, schienen aus Eisen zu sein, so fest sahen sie aus. Vor Jahren hatte Kamen Enev versucht, einen Nagel einzuschlagen, um einen Knoblauchzopf aufzuhängen. Das Holz aber war so unnachgiebig, hatte sich dermaßen verhärtet, dass der Nagel nicht eindringen konnte, er krümmte sich unter den Hammerschlägen und verbog sich wie ein Harlekin. Kamen hatte den Hammer weggeworfen, finster den behauenen Balken angeschaut und es aufgegeben. Er hätte genauso gut versuchen können, einen Nagel in die Pyramide von Ramses II einzuschlagen.

    Wieder schaute er ins Dunkle da draußen, jenseits des Fensters. Und er schaute so beharrlich hinaus, als würde ihm von dort, mit den Böen des Windes und mit dem Klopfen der Zweige, die an die Scheiben schlugen, die Antwort entgegenflattern, rein und klar wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Jene bestimmte Antwort. Doch die Antwort blieb aus.

    Doch irgendetwas, irgendjemand ging da draußen unter dem Fenster vorbei, huschte vorbei, es war nur eine lautlose Bewegung. Kamen beugte sich vor, seine Stirn berührte fast das Fensterglas. Nichts. Die Bewegung hatte sich in der Dunkelheit aufgelöst. Hatte er sich getäuscht? Getäuscht hatte er sich, bestimmt. Er klopfte ungeduldig mit den Fingern auf das Fensterbrett, so klopft man auf den Ladentisch im Gemischtwarenladen, wenn die Verkäuferin gegenüber zu lange braucht, um auf dem Papier auszurechnen, was ein Kilo und dreihundert Gramm zu zweiundsechzig Stotinki das Kilo kostet, während du es eilig hast – zum Bus, oder zur Arbeit, oder zu einer Verabredung, die du zwar niemals gehabt hast, doch du hast es immer eilig, und wahrscheinlich bringt diese Eile dich irgendeinmal in ein Grab dort drüben unter den grünen Zypressen. Eile nur.

    Und die Verkäuferin kommt nicht zurecht, sie rechnet, spuckt auf den Tintenstift, das ist es eben, sie lässt dich warten!

    Die Antwort ließ auch auf sich warten.

    Kamen Enev wartete auf diese Antwort schon seit fünf Jahren. Er hatte seine Frage mit sechsundzwanzig gestellt, jetzt war er einunddreißig, doch die Antwort … die Frau da hinter dem Ladentisch hatte immer noch nicht ausgerechnet, was ein Kilo und dreihundert Gramm mal zweiundsechzig Stotinki das Kilo kostet, wusste nicht, wie sie das machen sollte, rechnete etwas vor sich hin, spuckte auf den Tintenstift, den sie in der Hand hielt. Die Antwort … »Vergiss es!«

    Sagte Kamen und drehte sich um, drehte sowohl der Antwort als auch dem Fenster den Rücken zu, und auch jener flüchtigen Bewegung, die am Fenster vorbeigehuscht war, wandte er den Rücken zu. Wer soll da um ein Uhr nachts unter seinem Fenster vorbeikommen, wenn die nächste Ortschaft sieben Kilometer entfernt liegt, draußen aber die Hölle los ist? Wenn man bei diesem Wetter den Hund draußen auf dem Hof ließe, würde er zu einem Eisklumpen gefrieren. Ein Hund ist doch kein Eskimo, oder? Es war niemand da draußen. Es war nur eine Täuschung gewesen.

    Es war aber keine Täuschung.

    Die Frage, die er vor Jahren dem ihn umgebenden Raum, der allumfassenden Stille des Weltalls, der Dunkelheit dieser Unendlichkeit gestellt hatte, könnte man ungefähr so formulieren: »Wie soll man leben?«

    Der (damals) junge Kamen Enev arbeitete (damals) als einfacher Hilfsarbeiter auf einer Baustelle und war gleichzeitig Fernstudent im Fach Slawische Philologie an der Sofioter Universität. Und folgendes Ereignis hatte ihn damals höllisch beeindruckt, um nicht zu sagen – entsetzt:

    Man goss Beton, das heißt, die Fundamente wurden gegossen. Für irgendeine Fleischverarbeitungsfabrik. So stand es zumindest in den Bauunterlagen; später verwandelte sich das Fleischkombinat plötzlich in eine Fabrik zur Herstellung von Schießpulver und Sprengstoff. Aber das kam erst hernach. Jetzt wurden die Fundamente gegossen, das war nicht leicht, denn die Baugrube war gewaltig, der Beton wurde auf drei Ebenen gegossen, aus der Vogelperspektive sah die Baustelle aus wie ein ausgetrockneter Stausee, von dessen Grund aus sich ein provisorischer Fahrweg hinaufwand. Hinauf, hinauf, immer weiter hinauf, eine Serpentine, ähnlich der Kühlspirale eines Kessels zum Schnapsbrennen, nur dass dieser Kessel hier nicht aus Kupfer, sondern aus Erdreich war, dessen Schichten mit jeder Serpentine ihre Farben wechselten. Harte Arbeit war das, die Bautermine mussten eingehalten werden, die Bagger gruben die Erde aus, während gleichzeitig die Armierung verschweißt wurde, und der Beton ergoss sich über den soeben noch Funken sprühenden Stahl. Die Betontransporter fuhren heran, einer nach dem anderen, die Betonpumpen arbeiteten, es drehten sich die Kräne, die mit ihren Auslegern steifbeinigen orangefarbenen Störchen glichen, während die Erdbagger sich in Sicherheit brachten, weg vom Grund der Baugrube, damit nicht auch sie mit Beton überschüttet, nicht zu zubetonierten Fossilien wurden. Zu Mammuts aus Stahlbeton.

    Der letzte Bagger – gelb und mit schwarzer Aufschrift »Mitsubishi« über der Fahrerkabine – setzte sich in Bewegung, um aus der Baugrube herauszukriechen. Er kroch schwerfällig wie ein Maikäfer auf den Serpentinen nach oben, schwankte, neigte sich seitlich, der Baggerfahrer senkte immer wieder die Stahlschaufel, um das Fahrzeug zu stützen, als wäre es ein Greis, der einen Gehstock braucht. Da, wo es besonders steil war, schob sich die Maschine eigentlich von selbst hinauf. Doch wie zu befürchten war, der Bagger überschlug sich: Erst kippte er plötzlich zur Seite, geriet aus dem Gleichgewicht, grub seine Schaufel in den morastigen Serpentinenweg, als wollte er sich mit Händen festhalten, doch nach und nach und gleichsam unaufhaltsam und mit der Stetigkeit eines sich entfernenden Flugzeuges rutschte er immer tiefer hinab. Ja, anfangs – nach und nach, dann aber nicht mehr so langsam. Der Bagger überschlug sich zwei Mal und krachte auf die Sohle der Baugrube. Das Blech dröhnte, der Stahl ächzte.

    Die Baggerschaufel – eine winkende schwarze Hand. Den Abgrund hinab. Nach ganz unten hin. Staub wirbelte auf, es krachte, dann schwieg der Bagger, auf dem Rücken liegend, in einer mächtigen Staubwolke. Stille trat ein, der Kran hielt inne, und alle schauten in die Baugrube, wo sich der Staub langsam legte und die Ketten des Baggers hervorglänzten. Die rechte Kette drehte sich immer noch. Und genau dann begriff man, dass der rücklings fallende Bagger unter seinem Stahlrücken einen Menschen erdrückt hatte, und dass der Mensch Matejko die Mutter hieß und der Brigadier der dritten Montagebrigade war. Das wurde folgendermaßen klar.

    Matejko die Mutter schrie um Hilfe und seine Mutterflüche flogen nach allen Seiten, auch nach oben und dorthin, wo man die Armierung schweißte. Die Mutterflüche. Und alle kamen herbeigelaufen. Zu Hilfe oder was? Zu Hilfe. Ja, aber Matejko war eingequetscht, man konnte ihn nicht hervorziehen. Man versuchte, den Bagger zu bewegen, man spannte einen Lkw davor, der heulte in der großen Baugrube auf wie ein wildes Tier, spie Rauch und Abgase. Doch der Bagger rührte sich nicht von der Stelle. Er rührte sich nicht.

    Denn er war sehr schwer.

    Matejko die Mutter aber, der Brigadier der dritten MontageBrigade, starb unter der Last des Baggers. Und den Leuten, die helfen wollten, wurde kalt, so kalt, dass es ihnen die Haut zusammenzog. Diese Kälte ging von der Brust aus, überzog sie wie eine Eisdecke, es erstarrten die Zehen und es war unmöglich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Die Ursache war nicht der Tod Matejkos – so etwas passiert auf Baustellen; die Ursache war, dass dieses Sterben so lange dauerte. Der unglückliche Matejko schrie, stieß Mutterflüche aus auf jede Kreatur, und die anderen standen wie versteinert um ihn herum und konnten ihm nicht helfen und sie beteten, dass er endlich erlöst werde. Und er wurde erlöst. Doch genau vor seinem Ende, kurz bevor der Tod eintrat, schrie Matejko aus Leibeskräften, schrie so, dass es die Luft erschütterte und zerfetzte. Und er schrie:

    »Aaaaah, verflucht, gevögelt sei die Mutter und mein Schicksal! Ich konnte nicht mal den Zaun um mein Haus zu Ende bauen!«

    Und erst dann starb er. Später, bei der Autopsie, wurde festgestellt, dass die Last beide Beine dieses Mannes zerquetscht hatte, auch sein Becken und seine Wirbelsäule ab dem soundsovielten Wirbel. Daher hatte also Matejko keinerlei Schmerzen mehr gespürt, nichts hatte er gespürt, nur gewusst, dass er stirbt. Er sei paralysiert gewesen. Wie soll er es nicht gewusst haben? Wärest du an seiner Stelle gewesen, hättest du es auch gewusst!

    Und da wurde allen klar, sehr klar sogar, dass es Matejko um nichts anderes leid tat als um seinen Gartenzaun. Alle wussten, dass er einen Zaun um sein Grundstück hochzog, damit nicht irgendwelche Diebe sein kleines Häuschen ausraubten. Einen stabilen Zaun. Wie viel Beton er für Sockel und Pfosten auf der Baustelle gestohlen hatte, das war schon nicht mehr schön.

    Und da erschrak Kamen Enev damals, sein Herz erstarrte. Es war nicht der Tod, der ihm so viel Angst einjagte, er ängstigte sich nur, weil Matejkos Sterben so lange gedauert hatte, ihn erschreckte der Zaun, den Matejko, Brigadier der dritten Montagebrigade, um sein Grundstück errichtete.

    Das soll es sein?, fragte sich Kamen Enev.

    Ist das der Sinn des Lebens?

    Der Zaun? Die Pfosten? Der Beton?

    Also was? Wenn schon die anderen nichts verstanden, so sollte wenigstens er verstehen. Wofür befasste er sich schon im vierten Jahr seines Fernstudiums mit den Literaturen der weisen slawischen Völker? Dann stellte er aber fest, dass alle anderen alles sehr gut verstanden, er aber, ausgerechnet er, der Philologe, rein gar nichts verstand. Und er besann sich, er, Kamen Enev, damals, hängte die Philologie an den Nagel, nahm auch kein anderes Studium auf, sondern wandte sich seinem Inneren zu und schaute nach oben, zum Himmel, wandte sich seinen Gefühlen zu, seinem Wissen und der Religion, Gott, den Wolken und den Substanzen, so tat er also und stellte seine Frage. Und wie wir schon sagten – die Frage lautete: »Warum lebe ich auf dieser Welt? Ich werde doch wohl nicht bloß wegen eines Gartenzauns leben!«

    Dies also gelobte sich unser Held und im Laufe der Zeit machte er das uralte Haus seiner Väter, Großväter und Urgroßväter wieder bewohnbar und pflanzte sogar Magnolien. Dort oben, ganz hoch oben. Auf dem Berg über dem Dorf. So dass es dort keine anderen Menschen außer ihm gab, und ihn weder Menschen noch deren Hühner mit ihrem Gegacker belästigten und er in völliger Ruhe inmitten seiner Magnolien sitzen und denken und seine Frage stellen konnte. Immer wieder, ohne Ende. Doch er erhielt keine Antwort. Zumindest bis jetzt nicht. Jetzt?

    Ja, richtig, gerade jetzt ist jemand draußen wie ein Schatten vorbeigehuscht. Unmerklich. Gruselig. Ja, irgendwie gruselig. Doch Kamen Enev nahm es nicht wahr, drehte sowohl dem Fenster als auch seiner eigenen Frage den Rücken zu, auch dem vorbeihuschenden Schatten.

    Eine fünf Jahre alte Frage. Fünf Jahre lang – gute Absichten. Selbstverständlich wollte er nicht so leben, dass er bei seinem Tod einem Gartenzaun nachtrauern würde. Man muss anders leben, man muss, wie es heißt, sinnvoll leben, damit man nach seinem Tode etwas hinterlässt – für die Menschen, für die Erben, für Schüler und Gleichgesinnte. Aber was? Einen Gartenzaun? Pfui!

    Nach jenem Tod, dem Tode von Matejko, hatte Kamen Enev nicht nur die Philologie, sondern auch die Arbeit auf der Baustelle für immer aufgegeben. Sollen sie doch dort weiterbauen, sterben, Gartenzäune errichten, sollen sie machen, was sie wollen! Nicht mit ihm, mit ihm nicht!

    Und er begann, Kranke zu heilen. Ja, er wurde ein Heiler. Mit Heilkräutern, mit Heilmitteln, mit Eichenblättern, mit Handauflegen. Eine Gabe! Sein Großvater, der alte Enjo Belija, war wohl auch einer gewesen. Und weil ihn die Menschen kannten – nun, man weiß ja, wie die Leute sind, wenn die Gesundheit schwindet, wenn sie die letzte Hoffnung verlieren, da lassen sie Krankenhaus, Doktoren und teure Medikamente links liegen und laufen zu den Wunderdoktoren und suchen dort Hilfe. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wenn es weit und breit keinen Wunderdoktor gibt, so denken sich die Leute einen aus.

    »He du, Junge!«, sagte zu ihm damals ein älterer Mann mit grauem, hängendem Schnauzbart. »Komm mit und schau nach, was meinem Weibe fehlt!«

    »Was ist denn mit ihr?«, fragte Kamen erschrocken.

    »Was weiß ich? Du weißt es. Ich denke, die stirbt mir bald weg.«

    »Und was kann ich da machen?« Kamen trat einen Schritt zurück.

    »Ich bin doch kein Doktor.«

    »Red kein dummes Zeug!«, sagte noch strenger der Mann mit dem Schnauzbart. »Dein Großvater war ein großer Heiler, da musst du doch seine Fähigkeiten erworben haben. Komm mit! Ich zahl dir Geld und gebe dir ein Lamm dazu. Bring du nur die Sache ins Lot!«

    Kamen Enev ging auf der Stelle mit um nachzusehen, was mit der armen Frau dieses Mannes los war, aber nur so, mehr aus Neugier, und damit er den Mann nicht beleidigte. Denn dieser meinte es ernst und war auch noch ein Freund seines Großvaters, des alten Enjo Belija.

    Der Frau ging es schlecht. Sie stöhnte, warf sich hin und her, fieberte und schwitzte, aber der Schweiß konnte das Fieber nicht löschen. Und als sie sah, dass Hilfe nahte, brach sie ganz in Tränen aus und fing an zu bitten und zu beten. Betete zu ihm, als sei er der liebe Gott, weil sie am Leben hing. Kamen aber, zu seinem eigenen Erstaunen, berührte ihre Stirn mit der Hand und siehe da, die Stirn hörte auf zu glühen. Und er berührte die Frau ein wenig tiefer, und an der Seite, und ein wenig höher, überall dort, wo er mit Anstand die Frau berühren konnte und wo sie sich nicht zu schämen brauchte, und das Fieber verließ den schmächtigen Körper der Frau. Sie setzte sich im Bett auf und starrte Kamen mit offenem Mund an, als sei er kein Geringerer als Christus selbst. Er wiederum wusste in diesem Augenblick weder wer noch wo er war. Seine Hände glühten, glühten sehr lange. Und er begriff, begriff sofort, dass er die Frau geheilt hatte, vollkommen geheilt. Er wusste nicht, was ihr gefehlt hatte, woran sie erkrankt war. Ihm waren auch die Fähigkeiten seines Großvaters unbekannt. Kamen war gerade sechzehn, als der Alte von dieser Welt schied; ihm, Kamen, schwindelte damals von den karierten Röcken der Mädchen im Gymnasium, und das Tag und Nacht. Wie sollte da Zeit gewesen sein für die Heilkunst des Großvaters, für Aberglauben und Kurpfuscherei? Doch jetzt begriff er plötzlich – er hatte die Frau geheilt, er und kein anderer. Er, Kamen Enev, Enkel des berühmten Heilkundigen Enjo Belija, der letzte Spross des berühmten Geschlechts der Eneiden. Und aus diesem Geschlecht ging in jeder zweiten Generation ein Heilkundiger hervor. Wie sich das zutrug, ob das Gottes Wille war, eine göttliche Kraft – jedenfalls konnte auch Kamen plötzlich die Krankheiten der Menschen heilen. Was nun?

    Fürs Erste steckte er die hundert Lewa ein, die ihm der strenge Schnauzbärtige gegeben hatte, er nahm auch das Lamm mit, wollte aber, dass es vorher geschlachtet und gehäutet werde. Dann kam – zum zweiten – schon am nächsten Tag der Forstaufseher namens Gevatter Wolf (so nannten ihn die Bauern, weil er so gefährlich aussah) und zeigte ihm seinen bis zur Schulter aufgerissenen Arm. Er war von einer Buche gestürzt, als er einigen Männern auflauerte, die heimlich Holz fällten.

    »Da war ein Aststumpf, der hat mir den Arm auf’schlitzt«, sagte Gevatter Wolf.

    »Geht zum Arzt«, riet ihm Kamen unverzüglich und guten Gewissens.

    »Fang auf der Stelle an, denn wenn mich der Zorn packt…«

    Gevatter Wolf musste seine Drohung nicht erst zu Ende aussprechen, da war schon alles klar.

    Und so fing Kamen also an und kurierte auch den Gevatter Wolf. Seine Pfote, pardon, sein Arm heilte in kaum drei, vier Tagen. Wer es nicht glaubt, der soll nach Klein-Karaulukovo gehen und dort nachfragen, in das Dorf da in der Nähe von Madan, in den Rhodopen.

    Ihr kennt es nicht? Doch, Ihr kennt es!

    Und was verstand eigentlich Kamen Enev von Hautverletzungen? Eine interessante Frage! Was verstand er von inneren Krankheiten? Nichts, aber auch gar nichts! Und trotzdem heilte er. Mit Handauflegen. Sein Großvater kannte sich wenigstens noch mit Heilpflanzen aus. Natürlich heilte auch er mit Handauflegen. Doch er griff auch hin und wieder zu Heilpflanzen und Arzneien. Kamen jedoch kannte sich damit nicht aus. Er fasste an, berührte, legte Hand auf. Und seine Hände glühten, glühten, glühten. Manchmal schien es ihm, als würde er selbst in Flammen aufgehen, aber er brachte es nicht fertig, die Leute unverrichteter Dinge wegzuschicken. Das konnte er nicht, und die Leute kamen und kamen immer weiter zu ihm. Und es wurden immer mehr, bei Gott. Es nahm kein Ende.

    Sollte die Antwort auf Kamens Frage lauten, der Sinn des Lebens bestehe im Heilen der Menschen, so mochte er dies nicht akzeptieren. Ein anderer heilte, nicht er, ob Gott oder wer auch immer, das war ohne Belang. Die Gabe war ihm von oben gegeben. Doch er stellte diese Frage an sich selbst, nach sich selbst fragte er. Was sollte er mit sich selbst auf Erden tun? Was er mit den Menschen tat, war klar. Ja, er konnte sie heilen, also tat er es, und das war es dann. Aber warum lebte er, er selbst, warum war er da? Das war es, wonach er fragte.

    Und während er, Kamen Enev, sich (jetzt) zu den nassen Fensterscheiben hinwandte und ins Dunkle und in den Wind hinausstarrte, fragte er erneut. Von draußen aber, durch die Regentropfen, die wie Sand aufs Glas rannen, von draußen, wo die nassen Blütenblätter der Magnolien vom Wind gezaust wurden und wo es nass, kalt und gefährlich war, ganz im Gegensatz zum behaglichen Darinnen, genau von dort aus schaute ein menschliches Antlitz herein, an die Fensterscheibe gedrückt, und blieb dort als Aufschrei, als Ruf, als Schlag, als … aufgeklebter Nekrolog.

    Kamen sprang zurück, bis in die Mitte des Zimmers. Sein Hintern berührte den schweren Eichentisch, er setzte sich unbewusst darauf, rückte immer weiter nach hinten, so weit er konnte. Er wollte weglaufen, weglaufen. Weglaufen vor dem Fenster, vor dem bleichen Gesicht, vor den Augen …! Seine Hände, diese heilenden Hände zitterten, und er vermochte nicht, dieses schreckliche Zittern aufzuhalten. Denn – oh, er war sich absolut sicher! – der Mensch da draußen war tot. Das Gesicht, das außen am Fenster klebte, war tot. Die Augen, ja, auch sie waren tot.

    Ein Wunderdoktor sieht so etwas sofort.

    2. Kapitel - Die Kinder toben umher

    Durch den Schornstein kam ein Storch heruntergefallen. Plumps! Und er schüttelte die Asche der Feuerstelle aus dem Gefieder. Bozhana starrte wie hypnotisiert auf den Storch, die Asche und die Feuerstelle. Wie kam es, dass der Storch durch den Schornstein gefallen ist? Wie kommt es, dass Störche in die Stube herabfallen? Seit Jahren, seit Jahrhunderten, seit einer Ewigkeit saß das Storchennest wie ein Igel auf dem Schornstein ihres Hauses und bis jetzt war noch niemals ein Storch… Warum schaut mich dieser Storch so an? Sie sprang auf, rannte zur offenen Haustür und schrie.

    »Vater! He, Vater!«

    »Ja, was ist?«, fragte eine strenge Männerstimme weit hinter der Mauer des Vordachs, hinter der Scheune mit den schwarzen, von der Zeit gebogenen Balken, weit hinter dem Holzstapel mit den ordentlich aufgeschichteten, weißen Buchenholzscheiten.

    »Ein Storch, ein Storch ist heruntergefallen!«

    »Wo?«, fragten von Weitem der Schuppen, die Scheune, der Holzstapel, fragte ein groß gewachsener Mann in einem blauen Arbeitskittel und schaute von dort herüber. Sein Kopf, wuschelig wie ein Storchennest, sein Schnauzbart – wuschelig, sogar seine Augenbrauen wuchsen nach allen Seiten. Darunter blinzelten blaue Augen, klar wie der Himmel und streng wie das Leben.

    »Er fiel auf die Feuerstelle«, erklärte Bozhana schnell.

    »Ah so, auf die Feuerstelle!«, begriff der Mann, schob das Mädchen beiseite und schaute in die Stube.

    »Stimmt«, sagte er. »Aber es ist ein Storchenjunges, noch ein Küken. Wer weiß, wie es durch den Schornstein gefallen ist. Ich muss es wieder hinauf ins Nest bringen. Komm her, mein Freund!«

    Sagte der Mann zum Storch.

    Bozhana hob den Kopf zum Himmel über dem Haus. Und am Himmel – die Störche, beide. Sie kreisten über dem Haus, warfen schnelle Schatten auf den grünen Rasen im Hof, waren unruhig und aufgeregt. Sie wussten offensichtlich, dass ihr Storchenjunges im Hause war. Was, wenn sie über das Haus herfallen? Störche sind gutmütige, friedliche Vögel, aber wenn es um ihr Junges geht … Für ihre Kinder sind die Menschen bereit, alles zu tun. Und auch die Störche.

    Unterdessen brachte der Vater das Storchenjunge aus dem Haus und blickte ebenfalls zum Himmel.

    »Pass auf!«, sagte Bozhana zu ihm.

    »Macht nix«, antwortete er. »Keine Angst. Sie verstehen alles.«

    Und er ließ den kleinen Storch auf die Erde gleiten. Das Storchenjunge lief sofort bis ans Ende des Hofs, bis zur Umfriedung, ein wenig linkisch und komisch, wie ein Mann auf Stelzen. Beide Altvögel ließen sich sofort flügelschlagend zu ihm herab, ein Wirbel aus Wind und Federn. Sie stelzten um den Kleinen herum, klapperten mit den Schnäbeln, umgaben ihn mit ihren Flügeln und Körpern, und jetzt konnte man sehen, dass sie viel größer waren als das Storchenjunge und dass ihr Gefieder viel weißer war. Der junge Storch sah recht grau und schmächtig neben ihnen aus. Der Vater lächelte ein wenig hinter der Strenge seines Schnauzbartes und der Bläue seiner Augen.

    »Komm jetzt!«, sagte er zu seiner Tochter. »Lassen wir sie in Ruhe. Marsch nach Hause, im Laufschritt!«

    Und gab ihr einen leichten Klaps hinten drauf.

    Bozhana lachte ebenfalls, und mit ihren weißen Zähnen als auch mit den Grübchen in ihren Wangen, fröhlichen Glöckchen vergleichbar, sah sie wie Schneewittchen aus. Sie war schön, sie war jung, und sie ging vor ihrem Vater her, als würde sie über der Erde schweben, sie bewegte sich, als gäbe es für sie keine Schwerkraft, als flöge sie bei jedem Schritt mit ihren kleinen, kräftigen Füßen. Der Vater aber schaute ihr nachdenklich nach und lächelte wieder in seinen Bart, es war ein in Gedanken versunkenes Lächeln. Einerseits freudig, andererseits – nicht so freudig. Seine Tochter wuchs heran, und je mehr sie heranwuchs, desto schöner wurde sie. Bald werden die Burschen aus dem Dorf über meinen Hofzaun springen, sagte sich der Mann mit ein wenig Bitternis und spuckte auf die Erde. Er spuckte die Bitternis aus.

    So war das nun mal.

    Bozhana war im Dezember sechzehn geworden, und jetzt war schon Ende Mai, und die Bäume glichen Blumenkörben, ihr Duft stieg zu Kopf, und die Jungen versammelten sich abends in der Disko, wenn man die alte Lesestube so nennen darf, es dröhnten die Klänge der Karawadscho-Band aus dem Lautsprecher, und vom vielen Tanzen blieb einem die Luft weg, genauer – den jungen Leuten blieb die Luft weg, und sie küssten sich später in den stillen Gassen des Dorfes, und wenn es nur dabei geblieben wäre, aber sie trieben andere solche Sachen, dass … ihnen die Luft ausging.

    Und Bozhana auch, wie alle anderen!

    »Hör mal!«, sagte der Vater streng zum Popeline-Rücken des Mädchens vor ihm.

    »Was ist denn?« Bozhana drehte sich um, und auch ihr Haar drehte sich mit ihr um, aber nicht sofort, ihr üppiges Haar drehte sich mit einer kleinen Verzögerung um, sodass es auf dem Gesicht des Mädchens lag, auf der Stirn, auf den Schläfen, bis hin zu den geradegewachsenen, straffen Schultern. Es war ein schöner Anblick.

    »Warum hast du dich gestern Abend verspätet?« Der Mann fragte noch strenger und zog ein so finsteres Gesicht, sodass er einer Wolke und gleichzeitig einem heißen Bügeleisen glich.

    »Wer hat sich verspätet?«, reagierte Bozhana schnell. »Du hattest um elf gesagt und ich war pünktlich da um …«

    »Von wegen um elf!«, sagte der Vater bitter. »Als würde ich die Uhr nicht lesen können!«

    »Eh, sollte ich mich tatsächlich verspätet haben, so handelt es sich nur um paar Minuten. Nicht der Rede wert!«

    »Es war Viertel nach elf!«, stellte der Mann finster fest und schnaufte in seinen Schnauzbart. »Wer hat dich nach Hause gebracht?«

    »Nach Hause? ... Wesko.«

    »Welcher Wesko? Ich will wissen, mit wem du befreundet bist und, wenn ich bitten darf, antworte mir klar und deutlich, wenn ich dich etwas frage!«

    »Aber Vater«, sagte Bozhana einschmeichelnd, »du kennst doch den Wesko, der von den Maslarovs. Der in Sofia Jura studiert.«

    »Ist der denn nicht zu alt für dich?«

    »Mich findet er schön!«, sagte Bozhana selbstbewusst und lachte auf. »Ausgerechnet mich, und nicht die Studentinnen!«

    Und sie lachte wieder, glücklich lachte sie, und die Grübchen auf ihren Wangen sprangen auf und nieder wie weiße Häschen.

    Das Gesicht ihres Vaters verfinsterte sich, er schluckte, sagte aber nichts. Das ist mir eine, dachte er, wie eine kleine Wolke. Und wie schön sie ist, sieht wie ihre Mutter aus. Nur die Augen hat sie von mir, die blauen Augen. Ach, könnte ihre Mutter sie jetzt sehen, sie würde sich freuen. Aber er, er konnte sich nicht freuen. Er war sehr beunruhigt. Aber worüber, das frage ihn mal einer? Das war halt die Jugend, so war sie eben. War er niemals jung gewesen, erinnerte er sich nicht mehr? Natürlich erinnerte er sich. Aber trotzdem – er war verärgert.

    »Heute auf den Tag ist sie gestorben«, erinnerte ihn Bozhana so nebenbei. »Hast du es vergessen? Wir müssen Kerzen kaufen.«

    »Ob ich es vergessen habe?«, antwortete der Mann finster. »Wenn ich bloß vergessen könnte!«

    Er zog seinen blauen Arbeitskittel aus und hängte ihn über den Zaun.

    »Geh, mein Mädchen, geh zum Popen Wetko und kauf Kerzen, ich ziehe mich inzwischen um. Ist der Kirchenweizen fertig gekocht?«

    »Ich habe ihn zum Abtropfen ins Sieb getan. Wie viele Kerzen denn?«

    »Woher soll ich das wissen? Frag den Popen.«

    Bozhana ging durchs Hoftor hinaus und rannte los. Der Vater schaute ihr lange nach, dann setzte er sich auf den alten Baumstumpf neben dem Holzstapel und starrte die Störche an.

    Die stelzten weiterhin um ihr Junges herum, dort, am unteren Ende der Wiese, sie klapperten mit den Schnäbeln, schwenkten die Flügel. Offensichtlich wussten sie nicht, wie sie ihr Junges zurück ins Nest befördern sollten. Der junge Vogel konnte noch nicht fliegen, und wahrscheinlich hatten die Eltern große Angst, dass ihm etwas Schlimmes bei den Menschen hier im Hof widerfahren könnte.

    »Und was soll ihm da passieren?«, fragte sich der Mann und lächelte ein wenig. »Nichts wird ihm passieren. Ich bin doch hier.« Und er lächelte wieder.

    Die Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder, sagte der Mann zu den Störchen, was aber tun die Kinder? Die toben sich aus, das tun sie!

    3. Kapitel - Das Dorf Roggen

    Die Familie Maslarov wohnte im Dorf Roggen seit eh und je, das heißt, sie wohnte da, seit das Dorf gegründet wurde, Generation um Generation, eine ganze Ewigkeit schon. Damals, vor sehr langer Zeit, spätestens im 14. Jahrhundert, waren einige Stämme aus Südwest-Thrakien in das MeropeGebiet (die westlichen und mittleren Rhodopen) eingewandert, hatten sorgsam das Tal ausgesucht (es sollte Weideland haben, genügend Wasser, so was alles) und sich dort für immer niedergelassen, wie man so sagt. Das Tal war schön, ein mäandernder Fluss durchschnitt seine grünen Wiesen und von allen Seiten war es von schützenden Berghöhen umgeben, und das war das Wichtigste. Rundum war es still, grün und ruhig, fast gefahrlos. Es stimmte zwar, dass dort in der Ferne eine kleine Burg zu sehen war und dass darauf eine Flagge wehte, ja, das war so. Es ist auch wahr, dass einmal ein Reiter gekommen war und gesagt hatte, das Tal gehöre ihm. Doch sie hatten sich vor ihm verneigt und ihm hundert Goldstücke gegeben. Er hatte sie angeschaut, einen nach dem anderen, und abgewinkt: »Lebt in Frieden!«

    Und sie begannen ein neues Leben. Sie pflügten die Erde und säten Roggen (was hätte da sonst gedeihen sollen auf diesem Gebirgsboden, dessen Krume nur zehn Zentimeter tief war und unter der nur noch Steine, Steine und immer wieder Steine lagen), und als im Frühsommer (da schoss der Roggen in die Höhe) die Schäfer mit ihren weißen Herden hier vorbei nach dem ägäischen Thrakien zogen und sich fragten, was das denn für ein neues Dorf sei, das da über den Winter entstanden war, da sagte einer von ihnen:

    »Roggen. Hier gibt es nur Roggen. Das ist das Dorf Roggen.« Und lachte.

    Der Name aber blieb. Und was die Maslarovs betraf … Ja!

    In ihrem anderen Leben, früher, im südwestlichen Thrakien, waren sie Viehzüchter gewesen. Sie hatten dort an die hundert Rinder besessen, hatten sie gemolken, hatten Käse und Butter gemacht. Wenn einem der Sinn nach guter Butter stand, ging man zu den Maslarovs. Sie verkauften also Butter und Käse, trieben längs der Küste des Ägäischen Meeres ihren Handel, und daher ihr Name – die Maslarovs. An ihren neuen Wohnnort kam die Familie aber nur mit zwei abgemagerten Kühen, zwei Ziegen und einer Eselin zum Lastentragen. Was war mit den Herden, den saftigen Wiesen, dem florierenden Handel geschehen? Hatten die Maslarovs das alles aus Abenteuerlust aufgegeben? Von wegen! Die Erklärung war einfach und typisch fürs Mittelalter. Damals wüteten Räuberbanden im ägäischen Thrakien. Sie kamen im Namen des Woiwoden Momtschil, im Namen von Johannes Kantakuzenos, der Imperatorin Anna von Savoyen, im Namen von Alexios Apokaukos oder des türkischen Herrschers Umur Pascha. Der Name hatte wohl nichts zu bedeuten, Pogrome konnte man unter jedweder Ägide veranstalten. Gott ist hoch, der Zar ist weit, die Zentralmacht war also schwach und da konnten Räuberbanden ihr Unwesen treiben. Wer auch immer sich als Draufgänger fühlte, scharte Abenteurer um sich, und sie raubten und sengten, ganz Thrakien versank in Furcht und Schrecken. Brandstiftungen, Vergewaltigungen, Massaker. Die Menschen flüchteten, gingen in die Berge, suchten Zuflucht an abgelegenen Orten. Ja, das Leben im Gebirge dort oben war schwer, aber wichtiger war wohl, dass der Kopf auf den Schultern blieb, und dass die Töchter nicht an den Haaren gepackt und über den Erdboden geschleift wurden.

    So war es also mit den Maslarovs.

    Doch die Zeit verging, das Rad des Lebens drehte sich. Am neuen Wohnort vergrößerte sich die Familie der Maslarovs, sie wurde reich, baute erst ein Haus, dann ein zweites. Arbeitsame, hartnäckige Leute. Wieder wuchs die Zahl der Rinder, wieder hörte man das rhythmische Klappern der Holzschlegel in den Butterfässern, die Maslarovs butterten. Sei es mit Butter, sei es mit Roggen und Gemüse – die Maslarovs kamen wieder zu Wohlstand, zogen Kinder groß, dann Enkel und Urenkel und so von einer Generation zur anderen bis heute. Groß war die Familie Maslarov und sie sollte noch größer werden.

    Heutzutage, in den angeblich modernen Zeiten, haben sich die Maslarovs über halb Bulgarien verstreut, Vettern und Nichten lebten in Plovdiv, in Pasardschik, sogar in Kjustendil.

    Doch der Kern dieses Geschlechts verdiente weiter seinen Lebensunterhalt auf den Bergweiden des Dorfes Roggen.

    Macht nichts, dass die jungen Leute bis in die Hauptstadt Sofia gingen, um dort zu studieren, macht nichts, dass sie Mädchen aus anderen Gegenden heirateten, macht rein gar nichts.

    Denn sie kehrten immer wieder ins Dorf zurück. Früher oder später. Zu den Feiertagen und während der Ferien. Während des Urlaubs. Sie kehrten zurück. Beide massiven Häuser der Maslarovs waren fast immer voller Menschen, waren fast immer erleuchtet, voller Fröhlichkeit. Die Urbanisierung, die Weltfinanzkrise, das Internet, Satelliten und andere moderne Dinge hatten die Nabelschnur dieser Familie bis zum Zerreißen gespannt, aber sie riss nicht, die Nabelschnur.

    Die der Maslarovs.

    Wesko von den Maslarovs (jener Student, der Gefallen an der sechzehnjährigen Bozhana gefunden hatte, und zwar nur an ihr und an keiner anderen) hielt sich während der Semesterferien im Dorf auf. Er kam mit dem Bus aus Plovdiv um zehn Uhr an, und um elf Uhr half er schon seinem Vater beim Holzsägen. Die Kreissäge kreischte, die Holzstücke, weiß wie Brot, fielen ihm vor die Füße, während der heiße Geruch von Maschinenöl und Sägespänen wie ein vertrauter Hausgeist über dem Hof lag. Weskos Vater, der Peter Maslarov, reichte ihm, Wesko, mit gemessenen Bewegungen die Holzstämme zu, die Umdrehungen beschleunigten sich, die Maschinerie kreischte auf wie ein Rettungswagen an einem steilen Berg, doch die Zähne der Säge griffen schon nach dem nächsten Baumstamm, und das Kreischen ging in ein gurgelndes Knurren über, das geschnittene Holz fiel herunter, wieder flog ein Kreischen gen Himmel, man hätte meinen können, die Maslarovs hätten keine Motorsäge im Hof, sondern würden ein Schwein schlachten.

    Doch sie schlachteten kein Schwein, sondern sägten Holz und stapelten es unter dem Vordach der Scheune. Es ist leicht, das so in einem Satz hinzusagen, aber es ist und bleibt eine schwere und langwierige körperliche Arbeit. Wesko wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute ein wenig neidisch auf den Vater. Der alte Maslarov bückte sich und richtete sich auf mit solch einer Leichtigkeit, dass wohl niemand die einundfünfzig Jahre geschätzt hätte, die er auf dem Buckel trug. Er war hager, zäh, streng und schweigsam wie eine Sphinx. Vielleicht auch weise. Als Wesko zehn Jahre alt war, hatte er zu ihm gesagt: »Das Leben liegt vor dir, Junge!« Und dann mit zwanzig: »Sieh zu, dass du keine Dummheiten machst!« Und das war es. Er zeigte seine Freude an seinem Sohn, indem er ihm auf die Schulter klopfte oder aufs Knie, wenn sie zusammen am Tisch saßen. Vielleicht war er stolz auf seinen Sohn, wie sollte es sonst sein, der studierte ja Jura in Sofia, aber diesen Stolz behielt er für sich. Er sprach von Wesko weder in der Dorfkneipe, noch zu Hause. Und worüber sprach er überhaupt, der alte Peter Maslarov? Er war ein schweigsamer Typ, er schwieg sich in diesem Leben aus.

    Und es war kaum anzunehmen, dass er im Jenseits redseliger sein würde. Sein Charakter eben.

    Weskos Mutter jedoch, Tante Nedelja, war ein Plappermaul. Flink und beweglich wie eine Bachstelze, lief sie überall im Dorf herum, schnatterte mit den Weibern und wusste um jeden Tratsch. Wenn du hören willst, woran die alte Subotiza erkrankt war oder wie viele Hennen Iwan Smiljaneza am Freitag auf dem Markt verkauft hat, frag sie. Sie wird es dir nicht nur sagen, sondern wird die Geschichte auch ausschmücken, wird sie ins Lächerliche ziehen und dich zum Lachen bringen und gleichzeitig verärgern. Auch ihrem Mann, dem Peter, erzählte sie diese Dinge, auch ihn erheiterte sie und verärgerte ihn gleichzeitig, doch der war mit der Zeit hart gesotten, hatte so viele Schnattertiraden erdulden müssen, dass er weder lachen, noch sich ärgern konnte, er schaute sie nur mit seinen umfältelten Augen an und manchmal zuckte er mit den Schultern. Dies deutete sie als Zustimmung.

    Und sie hatte Recht damit.

    Und Wesko? Wesko war nach seinem Vater geraten, mit seinen hohen Schultern, der hageren Figur, den leichten Bewegungen. Er war schweigsam wie sein Vater, ein wenig schüchtern, aber beständig und arbeitsam. Ein echter Maslarov. Sonst war er ein schöner Junge, mit dem weichen, dunklen Haar über der hohen Stirn, mit den regelmäßigen Zügen seines länglichen Gesichts und mit seinem stillen Lächeln. Na ja, er hatte auch ein Handicap. Sind wir vielleicht alle vollkommen? Eins seiner Beine war einfach ein wenig kürzer als das andere. Von Geburt an. Er spielte nicht so virtuos Fußball wie der berühmte brasilianische Fußballstar Garrincha, er ließ sich nicht einmal in der Nähe des Fußballfeldes blicken. Die Dorfjungen ließen ihn nicht auf den Platz. Sie lachten ihn aus, scheuchten ihn weg. Kinder sind manchmal sehr grausam. Dafür entdeckte Wesko bei sich ein ungeahntes sportliches Talent. Während er das englischsprachige Gymnasium in Plovdiv besuchte, meldete er sich zum Fechttraining an. Und das nur deshalb, weil es dafür keine Interessenten gab. Alle wollten Fußball spielen, Basketball, höchstens noch Volleyball. Fechten – niemand.

    Beinahe hätte man auch Wesko wegen seines Handicaps nicht in die Trainingshalle gelassen, aber der Übungsleiter erbarmte sich seiner. Er war ein intelligenter Mann, ein früherer Landesmeister im Degenfechten, und außerdem wusste er, dass er sein Salär nicht bekommen würde, wenn keine Kinder in seinen Kurs kamen. Also ließ er den kleinen Wesko zum Training zu, war sprachlos über die Koordination seiner Bewegungen, über die Schnelligkeit seiner Reflexe. Und machte aus ihm ein echtes Ass im Fechten. So ist halt diese Sportart – schnell wie das Boxen, sogar viel schneller. Da wird Kaltblütigkeit verlangt, die angeborene Fähigkeit, die Situation vorauszusehen, und Schnelligkeit, Schnelligkeit, Schnelligkeit. Mit seinem so gar nicht standardgemäßen Gang und mit seinem angeborenen Talent gelangte Wesko bis ins Finale der Landesmeisterschaft. Nun, er gewann nicht, aber das war nicht die Hauptsache. Hauptsache war, dass ihm der Sport half, die Eigenschaften einer Wildkatze auszubilden und die Kaltblütigkeit einer Schlange, die genau weiß, dass sie tödlich beißen kann, es aber vorzieht, sich zurückzuziehen. Das Gift – nur wenn sie getreten wird. Ja, der Trainer namens Blagolazh – wundert euch nicht, dass er so hieß, der Name hätte dem Werk des Schriftstellers Elin Pelin entnommen sein können – der Trainer also brachte dem jungen Wesko innere Selbstkontrolle und die vorsichtige Geduld eines wilden Tieres bei.

    Brachte ihm das Überleben bei.

    Doch nach dem Gymnasium hängte Wesko trotz seiner offensichtlichen Begabung und trotz der Überredungsversuche seines Trainers Blagolazh den Sport an den Nagel und betrat nie wieder die Trainingshalle. Weil er sich mit ganzer Kraft einer neuen Leidenschaft ergeben hatte, und weil er, wie jeder aus der Maslarov-Familie, immer nur eine Sache verfolgte. Er war ein Mensch der Konzentration. Seine neue Leidenschaft war die Kunst des Lernens, des Studierens, und Wesko widmete sich ihr mit ganzem Herzen. Hier ist nicht die Rede davon, dass er ohnehin ein ausgezeichneter Student war. Nein. Auch das zählte nicht so sehr. Er hatte begriffen, hatte wahrgenommen, dass das Erlangen von Wissen, von Weisheit, wenn man so will, etwas äußerst Interessantes war und den ganzen Menschen forderte. Dass die Kunst an sich ein Wert ist. Er versenkte sich in die Geschichte der Malerei, kam bis zu den modernen Malern, war verrückt nach den Installationen und Graphiken des modernen italienischen Künstlers Danielli Ezra. Was für eine Entdeckung! Außer Abhandlungen über moderne Kunst las er Heine, Shakespeare, las jene sympathischen Mystiker des Ostens, die wie die Bibel in Rätseln sprachen, las Tolstoi, Baudelaire, Salinger und überhaupt viele Dichter.

    Er las sogar Kobayashi Issa. Und das mit Vergnügen. Und da wir bei Dichtung sind, müssen wir Bozhana erwähnen.

    Wesko verliebte sich in sie mit leidenschaftlicher Hingabe. Einmal und das für immer. Ewig. So sind die Maslarovs.

    Restlos hingegeben dem Einzigen, dem Ein und Allem. Das ganze Leben lang. Bis in die Ewigkeit.

    Doch seine angeborene und auch anerzogene Bescheidenheit sollte ihm übel mitspielen. Er ging zu den Tanzabenden im Dorf, tanzte aber nicht. Wie hätte er tanzen sollen mit seinem Hinkebein? Er stand an der Wand, wo andere Langweiler herumlümmelten (solche gehören zu dieser Art von Zusammenkünften), und schaute sich die Menschen an, die Gläser, die Tänze, den Zigarettenrauch. Doch unter alldem sah er einzig und allein … na was denn.

    Bozhana dagegen tanzte und tanzte …, tanzte. Das Tanzen lag ihr im Blut, sie schwebte, leicht wie eine Schneeflocke, und manchmal machte sie so komplizierte Tanzschritte, dass ihm übel im Magen wurde. Eine Ballerina! Die jungen Männer waren verzaubert von ihr und forderten sie zum Tanz auf, immer wieder zum Tanz … immer wieder. Sie gab keinem einen Korb, sie zierte sich nicht, oh ja, sie brannte darauf, sich immer wieder in den Wirbel der rhythmischen Klänge zu stürzen. Für sie war bedeutungslos, wer ihr Tanzpartner war, sie tanzte mit dem Rhythmus, mit der Melodie, sie tanzte mit sich selbst. Allein. Und das war so deutlich spürbar, dass sich ihre Partner sogleich als überflüssige Zutat zu dem Feuerwerk der Tanzrhythmen begriffen.

    Eins war sicher. Bozhana hatte keinen festen Freund. Und noch etwas war sicher. Sie suchte. Unbewusst, das versteht sich von selbst, aber mit der Beständigkeit der gerade erwachten Frau. Ihre Blicke verharrten, betrachteten, taxierten. Ihre Ohren, ihr Geruchsinn waren ebenfalls unbewusst damit beschäftigt. Gott, wo ist der Prinz? Wo ist sein weißes Pferd mit der wilden Mähne? Wo ist er bloß?

    Der Prinz aber stand an der Wand, zusammen mit den anderen gelangweilten, mürrischen Burschen, und wagte nicht, sie anzusprechen. Doch sie erkannte ihn.

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