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Die Tote im Turm: Freiburg Krimi
Die Tote im Turm: Freiburg Krimi
Die Tote im Turm: Freiburg Krimi
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Die Tote im Turm: Freiburg Krimi

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About this ebook

Eine Frau wird tot neben dem Turm der Zähringer Burg vor den Toren Freiburgs aufgefunden. Auf den ersten Blick spricht alles für Selbstmord. Doch warum ist die Tür zum Turm abgeschlossen und wie kommt der Turmschlüssel in die Manteltasche von Professor Alexander Kilian?
Hauptkommissar Geßler schaltet sich in die Ermittlungen ein und stößt hinter einer bürgerlichen Fassade auf einen Abgrund von Spielleidenschaft und kriminellen Machenschaften.

Ein schwarzer Schatten stürzte aus der Dunkelheit unter dem Vordach auf sie zu. Es war ein riesiger Schäferhund, der in langen Sätzen näherkam, ein struppiger Höllenhund ohne Leine, ein Ungeheuer mit Zähnen wie ein Raubtier. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Lieber Gott, dachte sie, worauf habe ich mich nur eingelassen?

LanguageDeutsch
Release dateSep 1, 2016
ISBN9783954286522
Die Tote im Turm: Freiburg Krimi

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    Die Tote im Turm - Renate Klöppel

    3

    Kapitel 1

    Alexander Kilian hatte seit Tagen gewusst, dass er Ingrid in dieser Woche wiedersehen würde. Nur nicht jetzt, nicht so. Seit dem Besuch der beiden Krimi­nalbeamten am frühen Morgen hatte er versucht sich innerlich auf diesen Moment vorzubereiten. Trotzdem erschütter­te ihn der Anblick mehr, als er erwartet hatte.

    Ihr Make-up war sorgfältig wie immer. Sie hatte die Augen geschlos­­­sen als schliefe sie und die Falten, die sich bei jedem Mienen­spiel verstärkt hatten, waren verstrichen. Am linken Unterschenkel, den das blaue Tuch nicht verdeckte, hatte der zer­splitterte Knochen die Haut durchbohrt und der Fuß mit den korallen­roten Fußnägeln war sonderbar verdreht.Ihr Körper war unter dem Tuch grotesk verbogen. Sie musste auf der Stelle tot gewesen sein.

    Er nickte. „Ja, es ist Ingrid."

    Kriminalhauptkommissar Geßler schlug das Tuch wieder über das Gesicht der Toten und nahm seinen Freund am Arm. „Lass uns gehen."

    Kilian entzog sich der Hand. Sein Wunsch zu fliehen, der ihn auf dem Weg hierher beherrscht hatte, war vergangen. Eine eigenartige Faszination zwang ihn das Tuch beiseite zu schieben und sich noch einmal über den Leichnam zu beugen. Es war nicht das Grässliche ihres zusammengestauchten Körpers, nicht ihr erstarrtes Gesicht, es war das Unabänderliche, das Unvorstellbare ihres Todes, des Todes überhaupt, was ihn länger bei der Leiche verweilen ließ, als es erfor­derlich war. Als er sich wieder aufrichtete, war er blass geworden. Trotz der Kälte stand Schweiß auf seiner Stirn und glitt in Perlen über seine Schläfen.

    Geßler stand neben ihm und zupfte nachdenklich an seinem Seehundsbart. „Du bist Arzt. Ich dachte, der Anblick einer Toten wäre dir vertraut."

    Alexander schüttelte den Kopf. „Ich bin Wissenschaftler. Als Molekular­genetiker sehe ich keine Leichen."

    „Komm", sagte Geßler noch einmal.

    Alexander schlug das Tuch wieder über das Gesicht der Toten und wandte sich dem Kommissar zu: „Und, er machte eine Pause, „trotz allem war Ingrid meine Frau. Dann ließ er sich von Geßler fortziehen.

    Wortlos verließen sie den weiß gekachelten Raum, stiegen die blauen Treppen­stufen wieder hinauf und traten aus dem nüchternen Klinkerbau des Instituts für Rechtsmedizin in den dünnen Regen, der seit den Morgenstunden unaufhörlich aus dem konturlosen Himmel rann. Nach ein paar Schritten blieb Alexander schwei­gend stehen. Als er endlich sprach, war seine Stimme rau und unsicher. „So hatte ich mir das Wiedersehen nicht vorgestellt", sagte er leise.

    Der Kommissar sah seinen Freund eine Weile aufmerksam von der Seite an. „Entschuldige die Bemer­kung, sagte er dann zögernd, „aber eigentlich kannst du doch froh sein, dass das Theater mit Ingrid vorbei ist. Sie erspart dir sogar die Scheidung und vor allem viel Geld.

    Der Professor blieb stehen. In der Tat war Ingrid nach der Trennung jedes Mittel recht gewesen, ihn zu belästigen. Die Schlösser seiner Wohnung und seines Wagens mit Klebstoff unbrauchbar zu machen, war ihr ein besonderes Vergnügen gewesen. Dann fiel ihm die Geschichte mit dem Leichenwagen ein. Sie hatte ein Beerdigungsunter­neh­men zu seiner Wohnung geschickt, um seine Leiche abholen zu lassen.

    Eine Zeit lang war nichts zu hören als das Brummen einer Kühlan­lage hinter den grünen Lüftungs­schlitzen des Untergeschosses, ein aufdringliches Ge­räusch, schau­­er­­lich in seiner Eintönig­keit. „In der Tat, sagte er endlich, „ich bin froh, dass sich dieses Drama erledigt hat.

    Die beiden Männer gingen zusammen zu Alexanders Wagen, den er in der Albert­straße vor dem Pathologischen Institut geparkt hatte. Der Kommissar verabschie­dete sich nicht gleich. In Gedanken versunken stand er neben der hohen Gestalt seines Freundes, ehe er noch eine Frage stellte. „Warum wurde Ingrid am Zähringer Turm gefunden? Warum war sie über­haupt in Freiburg? Gibt es in Karlsruhe keine Möglichkeit, sich umzubringen?"

    Der Professor blieb die Antwort schuldig. Was er zu hören glaubte in Geßlers Frage war nicht nur Verwunderung. Da war noch etwas anderes: Fassungslosigkeit und auch Zweifel klangen darin an. Ja mehr noch. In seiner Frage lag schon die Spur einer Anklage. Was Alexander vernahm, war der unausgesprochene Verdacht, er selbst könne schuld an Ingrids Tod sein und die Frage, die er hörte, hieß: Hast du sie vom Turm gestürzt? Er versuchte nichts zu erklären, versuchte auch nicht den Argwohn zu zerstreuen. Jede Rechtfertigung, so dachte er, musste das Misstrauen noch vergrößern. Er würde lernen müssen mit seiner Schuld zu leben, auch wenn er niemals darüber sprach.

    Er war erleichtert, dass der Kommissar der Frage nicht weiter nachging und nicht nach Gründen für Ingrids Todessturz fragte. Die Konflikte im Scheidungsverfahren hatten ein Ausmaß angenommen, das für beide Seiten kaum noch erträglich gewesen war. In diesem Stadium waren die Menschen zu vielem fähig, auch er selbst. Er war ein impulsiver Mensch und sein Freund wusste das. Vor ein paar Jahren hatte er ihm mit schlechtem Gewissen gestanden, dass er Ingrid in einem unbeherrschten Augenblick geohrfeigt hatte, weil sie sich über seine Unfähig­keit lustig gemacht hatte, die Waschmaschine richtig zu bedienen. Er hatte in ihrer Abwesenheit seine Strümpfe im Kochwaschgang auf Kinder­größe schrumpfen lassen.

    „Wirst du an den Ermittlungen wegen Ingrids Tod beteiligt sein?"

    Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Es ist besser, wenn meine Kollegin das übernimmt. So wenig wie ein Arzt seine Freunde behandeln sollte, sollte sich ein Kommissar beruflich in deren Privatangelegenheiten einmischen."

    Alexander war froh darüber. Er kannte den Kommissar, seit der ihm vor ein paar Jahren beim Abstieg vom Dom in den Walliser Alpen mit seinem längeren Seil einen stunden­langen Umweg erspart hatte. Die Freund­schaft, die ihn seither mit dem Schnauzbärtigen verband, sollte nicht unter den Umständen von Ingrids Tod leiden.

    „Was machen wir nun?", fragte der Kommissar.

    Alexander zuckte mit den Schultern: „Ich gehe an meine Arbeit und du an deine. Was sonst? Dann gab er Geßler die Hand. „Ich danke dir, dass du mitgekommen bist.

    Er stieg in seinen Wagen und sah seinem Freund nach, der, ohne sich noch einmal umzusehen bedächtig und tief in Gedanken versunken, in dem nun stärker strömenden Regen in die Richtung zurückging, aus der sie eben gekommen waren. Nach ein paar Schritten verschwand die kräftige Gestalt hinter geparkten Fahrzeugen, nur der Kragen der schwarzen Regenjacke überragte im stetigen Auf und Ab bei jedem Schritt die Autos. Über dem Kragen hob und senkte sich der Kopf mit den graublonden, ausgeblichenen Haaren, die in nassen Strähnen bis über die Ohren fielen. Der Professor wartete, bis er Geßler in der Seitenstraße hinter dem Anatomischen Institut endgültig aus den Augen verlor. Als er endlich in sein Auto stieg und davonfuhr, sah er vor sich noch immer das große hölzerne Kruzifix an der Wand und darunter Ingrids toten Körper auf der Bahre in dem gekachelten Kellerraum mit dem Geruch von Fäulnis und Verwesung vorausge­gan­gener Obduktionen. Er achtete kaum auf den Weg, fuhr zur Habsburger­straße, ohne daran zu denken, dass er sie hier nicht überqueren konnte, und erreichte das Institut für Moleku­lar­­ge­netik erst nach einem Umweg über mehrere Ampeln.

    Das Gebäude lag außerhalb des Institutsviertels der Univer­si­­tät in einem Wohngebiet zwischen großen Villen aus der Gründerzeit. Alexander stieg nicht aus, sondern blieb reglos sitzen und sah den Regentropfen auf der Frontscheibe zu, die immer dichter wurden, immer undurch­sichtiger, sich endlich sammelten und in dünnen Bächen zusammen­flossen. Hinter dem nassen Glas verschwamm das große Haus mit den beiden schiefergedeckten Seitenflügeln finster und abweisend im Regengrau und das Dach über dem dreigeschossigen Haupthaus schien ihm heute wie der Deckel eines Sarges. Er beugte sich vor und überblickte das Institut, soweit das vom Auto aus möglich war. Die filigrane Steinbrüstung des Balkons in der Mitte des Gebäudes war schwarz vor Nässe und von den geschwungenen und verzierten Konsolen rann das Wasser über die Stuckquader der Hauswand. Ein paar Räume waren durch weiße Neonröhren erleuchtet, kalte, hässliche Fremdkörper hinter einer Fassade aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. An einem der hellen Fenster, von den schwarzen Ästen einer alten Kastanie halb verdeckt, erahnte er zwei Gestalten in weißen Kitteln, die zu seiner Arbeitsgruppe gehören mussten.

    Die Erkenntnis, dass ihm jegliche Vorstellung davon fehlte, wie er mit dem Bild der zerschmetterten Leiche vor Augen seinen Mitar­bei­tern gegen­über­treten wollte, lähmte ihn. Keine Frage, sie würden ihn bemerken, wenn er an den Türen der Labors vorüberging, die wie immer offen stehen würden. Es gab keine Möglichkeit ungesehen in sein Arbeitszimmer zu entkommen. Er überlegte: Niemand im Institut kannte Ingrid. Er hatte sich von ihr getrennt, ehe er auf den Lehrstuhl für Molekulargenetik der Freiburger Univer­sität berufen wurde und die Leitung des Institutes übernommen hatte. Und eigentlich hatte seine Ehe sogar noch früher aufgehört zu existieren. Das war, als er ohne sie nach Cambridge gegangen war. Was lag folglich näher, als Ingrid und ihren Tod zu verschwei­gen und die Tote aus seinem Leben, aus dem sie als Lebende längst ausgeschieden war, zu entlassen, als habe es sie nie gegeben? Ja, das war der Weg, mit dem er sich am leichtesten arrangieren konnte. Niemand hier würde Ingrid vermissen, niemand nach ihr fragen.

    Alexander zog den Zündschlüssel ab und trat wieder in den Regen. Nach drei Schritten zum Institut blieb er unschlüssig stehen, wandte sich dann in die entgegengesetzte Richtung und tat zwei Schritte zum Auto zurück, ging gleich darauf noch einmal ein paar Meter auf das Institut zu, stand wieder, mal auf dem einen dann auf dem anderen Bein in einem merkwürdigen Hin und Her, ehe er endgültig kehrtmachte und sich wieder in seinen Wagen setzte. Nein. Ingrids Tod einfach zu vertuschen, war keine Lösung. Frau Brändle wusste Bescheid. Als gute Sekretärin hatte sie es nach etlichen Verwirrungen und Pannen übernommen seinen Terminkalender zu führen. Das Datum des Erörterungstermins im Scheidungsver­fahren hatte sie mit derselben Sorgfalt für den Freitag dieser Woche eingetragen wie jeden anderen Termin. Ingrids Tod ließ sich nicht einfach aussondern, so gern er es auch getan hätte. Er ließ den Motor an, wischte mit dem Ärmel seines Mantels ein kleines Sichtfenster in die beschlagene Scheibe und fuhr das kurze Stück bis zu seiner Wohnung.

    Das hagere Gesicht, das ihm aus dem neuen Garderoben­spiegel entgegensah, war ihm fremd. In der indirekten Beleuchtung war es ein Gesicht wie aus Wachs, wie künstlich, fand er, dabei fahl wie das Antlitz der Toten, aber mit einem blauen Schimmer auf der grauen Haut und eigentümlich violetten Lippen. Abgestoßen drehte Alexander dem Leichengesicht im Spiegel­ den Rücken zu.

    Bislang war das Ende eines jeden Lebens für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, die er nur ein einziges Mal persönlich genommen hatte. Das war, als im vorletzten Jahr sein eigenes Leben am seidenen Faden hing. Jetzt war das Bewusstsein, eines Tages selbst tot dazuliegen, in ihm lebhafter als je zuvor. Er rechnete: Die Lebens­erwartung für Männer seines Jahrgangs beträgt in Deutschland rund sechsundsechzig Jahre, also blieben ihm, statistisch gesehen, nur noch zwölf Jahre. Andererseits hatten die Männer seines Jahrgangs, die heute noch lebten, statistisch gesehen noch mehr als zwanzig Jahre vor sich. Auch das beruhigte ihn nicht. Was waren zwanzig oder vielleicht auch fünfundzwanzig Jahre, dachte er, wenn man schon vierundfünfzig hinter sich hat? Selbst, wenn ihm noch einige Jahre länger blieben – schließlich war er gesund und in besserer körperlicher und geistiger Verfassung als die meisten Männer seines Alters – änderte es nichts daran, dass seine Zeit unwiderruflich ablief. Mit einem Mal sah er die Spanne seines Lebens aus der Vogelperspektive: Den weitaus größten Teil hatte er laut Statistik schon zurückgelegt, und, erschreckender noch, mit jeder Stunde, die verstrich, wurde die vor ihm liegende Zeit eine Stunde kürzer.

    Alexander stand noch immer im Flur, ratlos und verwirrt, und wusste nicht, was er jetzt zu tun hatte. Es war nicht nur ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn bedrückte, sondern, von Minute zu Minute deutlicher, die Gewissheit kommender Verwicklungen. Die Polizei würde nicht einfach über einen solchen Todesfall hinweggehen. Er schob die Gedanken beiseite. Andere Dinge waren wichtiger, als sich dunklen Befürchtungen hinzugeben. Erst jetzt kam ihm zum Bewusstsein, dass er Ingrids einziger Angehöriger war. Statt der Formalitäten für die Scheidung jetzt also die für ihren Tod, aber er wusste nicht im Geringsten, was in dieser Angelegenheit zu unterneh­men war.

    Er warf noch einen flüchtigen Blick in den Garderobenspiegel und beschloss, bei nächster Gelegenheit die alte Lampe wieder anzu­bringen. Wenigstens sein Bild in diesem Spiegel sollte weniger deprimierend sein. Aber was Ingrids Tod betraf, brauchte er Hilfe. Also Ina anrufen? Keine Frage, dass er so bald wie möglich mit ihr über Ingrids Tod sprechen würde. Immerhin wartete sie seit Jahren auf die Schei­dung. Nicht, weil sie unbedingt heiraten wollte. Sie hatte akzeptiert, dass ihm die eine Ehe reichte. Selbst als vor drei Jahren ihre gemein­same Tochter geboren wurde, hatte sie ihn nicht zur Heirat gedrängt, doch sie sah keinen Sinn darin, die längst nicht mehr existierende Verbindung Jahr für Jahr auf dem Papier aufrechtzuer­halten. Ihm hatte gegraut vor den Scheidungs­for­malitäten und nur seine tiefe Abnei­gung gegen alle Ausein­an­der­setzungen, die nichts mit wissen­schaft­lichen Dispu­ten zu tun hatten, war der Grund für den unguten Schwebezustand, in dem er seine Ehe über Jahre verharren ließ. Jetzt endlich hatte er die Initiative ergriffen, aber das Schei­dungs­verfahren war schrecklicher, als er befürchtet hatte. Ingrid hatte es geschätzt, noch immer die Frau des bekannten Professor Kilian zu sein, und sie hatte sich mit allen Mitteln und mit restlos überzogenen Forderungen ge­gen eine Veränderung gewehrt.

    In der Tiefe ihres Herzens mochte seine Lebensgefährtin über Ingrids Tod erleichtert sein; trotzdem konnte er ihr nicht die Forma­litäten übertragen, die ihm selbst zutiefst lästig waren. Ina war keine der Frauen, die sich berufen fühlen, ihrem Partner alles abzunehmen und ihn in den Belangen des täglichen Lebens zum hilflosen Anhängsel zu machen. Diese für die meisten erfolgreichen Männer wichtige Rolle hatte in Alexanders Leben seine Sekretärin übernommen, auch wenn er es nicht gerne wahrhaben wollte. Also war das Naheliegende, Frau Brändle anzurufen und ihr zu sagen, dass Ingrid vom Turm der Zähringer Burg in den Tod gesprungen war. Dann sollte sie regeln, was zu regeln war. Wozu sonst hatte er eine so tüchtige Sekretärin! Am besten sollte sie gleich noch die Beerdigung am Tag des Erörterungstermins arrangieren, dann brauch­ten keine Termine verlegt zu werden.

    Die Entscheidung, Frau Brändle anzurufen beruhigte ihn etwas und ließ in ihm die Hoffnung keimen, dass die Unannehmlichkeiten durch Ingrids Tod inner­­halb von ein paar Tagen an ihm vorübergehen würden. Mit einer entschlossenen Bewegung griff er zum Telefon und wählte die Nummer.

    „Institut für Molekulargenetik der Universität Freiburg. Sie sprechen mit Frau Brändle, guten Tag."

    Glücklicherweise sparte sie sich das „Was kann ich für Sie tun?"

    Der Professor hasste diese endlosen Floskeln, die vor allem dazu dienten, anderen Menschen die Zeit zu stehlen. Er hatte seiner Sekre­­tärin längst untersagt, die Begrüßungs­­ze­re­­mo­nie derartig aufzu­blähen. Förm­lich­­keiten waren seine Sache nicht und er hielt sie lediglich für ein Manöver, das den Gesprächspartner über die wahre Einstellung hinwegtäuschen sollte. Mittlerweile hat­te Frau Brändle ihm das vehemente Eingreifen in ihre Domäne verziehen – wie sie ihm nahezu alles nachsah – jedoch nicht ohne die geliebten Floskeln ausgiebig zu benutzen, wenn sie ihren Chef außer Hörweite wähnte.

    Der Professor hielt sich nicht mit Vorreden auf: „Meine Frau ist tot."

    Nun war es an Frau Brändle, Stück für Stück aus ihm heraus­zufragen, was geschehen war. Sie tat es mit dem ihr selbst­verständlichen Taktgefühl und die Beklemmung, die sie aus seinen Worten hörte, verbot es ihr, sich zu sehr in Details zu verlieren. Auch die von ihm befürchtete Bemerkung zum ungewöhn­lichen Ort von Ingrids Todes­sturz blieb aus. Zweifel an seinen Worten, Zweifel vielleicht sogar am Selbstmord, würde sie ohnehin ihm gegenüber niemals aussprechen. Sie verstand sofort, dass er heute nicht mehr ins Institut kommen würde und sie versprach zu regeln, was es diesbezüglich zu regeln gab. Auch nachden notwendigen Formalitä­ten wegen des tragischen Todes seiner Frau würde sie sich selbstverständlich erkundigen.

    Aufatmend legte Alexander den Hörer auf den Apparat zurück. Morgen würde er in Heidelberg sein, also anderthalb Tage Zeit für seine Mitarbeiter, die Geschichte breitzutreten. Wenn er übermor­gen ins Institut kam, waren sie wieder zur Tages­ordnung übergegan­gen. So hoffte er jedenfalls.

    Nach dem Gespräch mit seiner Sekretärin fühlte er sich gestärkt – die Offenbarung von Ingrids Tod war einfacher gewesen, als er befürchtet hatte – und wählte gleich noch Inas Nummer. Er hörte es fünfmal tuten, dann den verhassten Klick, mit dem sich der Anruf­beantworter einschaltete. Unentschlossen lauschte er ihrer munteren Stimme bis zum Schluss. Als sie geendet hatte, legte er den Hörer wieder auf, halb ärgerlich, halb erleichtert und ohne etwas auf das Band zu sprechen. Er versuchte es noch mit der Nummer von ihrem Handy, aber hier meldete sich nur die Mailbox.

    Wieder führte sein Weg am Spiegel vorbei. Diesmal vermied er es, sein Gesicht anzusehen, wodurch ihm auffiel, dass er immer noch im Mantel war. Aus diesem Grund begann er, die Knöpfe zu öffnen, schloss sie jedoch sogleich wieder in einer plötzlichen Unruhe, nahm dann seinen Schlüssel und verließ die Wohnung.

    Kapitel 2

    Draußen hatte sich der Tag wieder verfinstert, ehe es richtig hell geworden war, und in den Regen mischten sich die ersten Schnee­flocken. Als Alexander in seinen Wagen stieg und den Zünd­schlüssel drehte, hatte er kaum mehr als eine dunkle Ahnung von dem, was er jetzt tun würde. Erst fuhr er ziellos, kam wieder zu seinem Institut, hielt aber nicht an, sondern fuhr weiter, sinnlos kreuz und quer unter dem schwarzen Geäst tropfender Bäume durch die Straßen von Herdern. Am Alten Friedhof blieb er minutenlang unschlüssig stehen, bis er schließlich zur Habsburgerstraße fuhr. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte, nun begriff er, wohin ihn seine Unruhe zog. Nein, nicht wieder zum Institut für Rechts­medizin, wo Ingrid aufgebahrt lag, sondern stadtauswärts. Er unterquerte die Eisenbahnbrücke, fuhr dann immer weiter geradeaus nach Zähringen, bis er plötzlich stark bremste.Er bog in eine kleine Straße, die auf die Hügel zuführte, in denen der Schwarzwald zur Rheinebene ausläuft. Es war eine Sackgasse. Er musste vor einem Friedhofumkehren, folgte noch ein Stück der Durchgangsstraße, bis er das Schild fand, auf das er zugehalten hatte: der Wegweiser zur Zähringer Burg. Die Straße erreichte bald den Wald, schlängelte sich dann in endlosen Kurven den Berg hinauf. Unter den Bäumen war es finster wie am Abend und von den hohen Buchen klatschte der nasse Schnee gegen die Scheibe. Neben dem schmalen Sträßchen fiel der Hang steil ab. Der Turm, der oben auf einem der Hügel liegen musste, war noch immer nicht zu sehen. Alexander spürte seine Erregung wachsen mit jedem Meter, den er seinem Ziel näher kam.

    Auf dem Wanderparkplatz am Ende der Straße stellte er den Wagen ab und folgte zu Fuß der roten Markierung. Hier oben schneite es in großen sanften Flocken und eine weiße Decke hatte sich über das braune Laub gelegt. Noch immer konnte er den Turm nicht sehen. Er war nicht zum ersten Mal hier, doch in dem verlöschenden Tageslicht des Wintertages schien ihm alles fremd und gespenstisch.

    Alexanderfolgte langsam dem ansteigenden Weg, der unter dem Schnee aufgeweicht und glitschig war. Ein paar Mal blieb er lauschend stehen. Obwohl seine eigene Fußspur die einzige hier war, hatte er das Gefühl, in diesem düsteren Wald nicht allein zu sein. Mal war es das Knacken eines Astes zwischen den Bäumen hinter ihm, mal das Rascheln von Laub, das ihn innehalten ließ. Zu sehen war nichts. Dann aber war es ganz deutlich zu hören, ein seltsames Zischeln und Wispern wie von einer flüsternden Stimme, das aus einer finsteren Nische abseits vom Weg zu ihm herüberdrang. Er verließ den Weg und ging auf den runden Felsen zu, der wie ein übermannshoher Grabhügel die Nische am Ende begrenzte. Vor dem Stein lag über dem Weiß ein gespenstischer blauer Schimmer, der den Schnee leuchten ließ. Als Alexander zögernd nähertrat, verstummte das Wispern und nur das Geräusch des von den Zweigen fallenden nassen Schnees unterbrach die Stille. Er bückte sich nieder zu dem blauen Schimmer, griff danach, fand aber nichts als eine blaue, vom dünnen Schnee bedeckte Schleife an einem halb verfaulten Kranz, den jemand vor langer Zeit hier niedergelegt hatte. Die im Stein eingelassene Gedenktafel

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