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Killerdiplomat: Österreich Krimi
Killerdiplomat: Österreich Krimi
Killerdiplomat: Österreich Krimi
Ebook459 pages6 hours

Killerdiplomat: Österreich Krimi

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Damit hat niemand gerechnet: Keinerlei berufliche, wirtschaftliche, gesundheitliche oder private Probleme und dennoch erschießt sich der hochrangige Beamte des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Offiziell werden der Öffentlichkeit schwere psychische Probleme als Grund genannt. Doch der Wiener TV-Journalist Heinz Kokoschansky glaubt nicht daran, da er diesen Mann sehr gut gekannt hat, und beginnt zu recherchieren. Schnell merkt er, dass seine Ermittlungen unerwünscht sind. Österreich pflegt mit einem zentralasiatischen Staat beste Beziehungen. Ungeachtet der ständigen Menschenrechtsverletzungen der dort herrschenden Clique geht es doch um Erdgas- und Erdölgeschäfte mit dieser Diktatur, an denen Österreich kräftig mitnaschen will. Kokoschansky watet in einem Sumpf aus Korruption, Auftragsmorden, Entführungen und geheimdienstlichen Machenschaften mitten in Wien.

LanguageDeutsch
Release dateFeb 20, 2015
ISBN9783902784728
Killerdiplomat: Österreich Krimi

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    Killerdiplomat - Günther Zäuner

    2013

    Prolog

    Wien

    September 2013

    Kein Tag ist gut zum Sterben.

    Warum darüber groß philosophieren?

    Leben und Tod sind untrennbar miteinander verbunden.

    Auch an diesem traumhaft sonnigen Spätsommertag bringt der Sensenmann seine Ernte ein. Keine Wolke trübt den strahlend blauen Himmel. Es ändert nichts, das Plansoll muss erfüllt werden.

    Die letzten Körner der Lebenssanduhr rinnen durch.

    Viel zu schnell, viel zu früh.

    … Mitten aus dem Leben gerissen … in der Blüte der Jahre … am Zenit der Schaffenskraft … wird in wenigen Tagen als üblicher pathetischer Schmus auf seiner Trauerkarte stehen. Auf der letzten Seite seines imaginären Lebensbuches ist seit seiner Geburt vermerkt, dass er heute für immer selbst den Deckel schließen wird.

    Noch gestern hätte er jeden für verrückt erklärt, wäre ihm gesagt worden, vierundzwanzig Stunden später würde er sich umbringen. Auch am Morgen, auf dem Weg zu seiner Dienststelle, verschwendete er nicht einmal den Anflug eines Gedankens daran.

    Jetzt gibt es keinen Ausweg mehr.

    Durch das geöffnete Fenster dringen helles Lachen und Gekreische von spielenden Kindern aus dem Hof in das Wohnzimmer der Eigentumswohnung herauf. Er ist allein zu Hause. Seine Frau ist unterwegs, der Sohn in der Schule und die Tochter im Ballettunterricht.

    Schlag neun Uhr morgens brach alles in sich zusammen. Unbemerkt von der großen Welt, lag plötzlich seine kleine in Trümmern. Er wurde in das Büro seines Vorgesetzten zitiert, musste sich eine Reihe von massiven und schwerwiegenden Vorwürfen anhören, bekam eine saftige Standpauke verpasst, die mit seiner augenblicklichen Suspendierung endete, er nicht mehr sein Büro betreten darf und Hausverbot erteilt bekam. Die Einleitung des Disziplinarverfahrens, das sich letztendlich zu einem Strafprozess ausweiten wird, ist ihm längst egal. Das können sie sich sparen. Er wird beides nicht mehr erleben.

    Zum letzten Mal geht er langsam durch die Räume der geschmackvoll und mit Liebe zum Detail eingerichteten Wohnung, wofür größtenteils seine Frau verantwortlich zeichnet, verharrt im Zimmer seiner Tochter, betrachtet die Poster ihrer Ballettidole an den Wänden, hofft, dass ihr großer Traum in Erfüllung gehen möge und sie eines Tages als Primaballerina auf allen großen Bühnen dieser Welt tanzt.

    Sachte schließt er die Türe, geht hinüber in das Zimmer seines Sohnes, wo wie immer das totale Chaos herrscht. Doch was ist diese Unordnung gegen das irreparable Durcheinander im Leben seines Vaters, das nur mehr mit einem radikalen, endgültigen Schnitt bereinigt werden kann.

    Im Schlafzimmer setzt er sich er auf das Bett, betrachtet lange das Hochzeitsfoto. Es waren sehr gute zweiundzwanzig Jahre, die nur selten von Tiefs getrübt waren. Im Hinausgehen streichen seine Fingerkuppen zum letzten Mal über das Gesicht seiner geliebten Frau auf dem Bild.

    Selbst in den letzten Minuten seines Lebens bleibt er das, was er immer gewesen ist. Ein korrekter Mensch sowohl im Beruf wie im Privaten. In seinem kleinen Arbeitszimmer liegen auf dem Schreibtisch drei weiße Kuverts. Abschiedsbriefe für seine Frau und seine Kinder. Sehr persönlich, sehr bewegend, ohne dass die Worte und Sätze im Selbstmitleid ertrinken. Heute geschrieben, nachdem man ihm die Tür gewiesen hatte. In seiner wunderschönen Handschrift, wenn er will, und mit dem Füllfederhalter, den seine Frau ihm zu seinem fünfundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Neben den Umschlägen liegen sein Testament, das er schon aus beruflichen Gründen vor Jahren verfasst hatte, und ein Ordner mit seinen persönlichen Dokumenten.

    Bevor er heute Vormittag zum letzten Mal nach Hause gegangen war, machte er noch einen Umweg zum Postamt. Dort steckte er den USB-Stick, den er seit Monaten selbst vor der eigenen Familie unbemerkt um den Hals trug und von dem er dachte, das kleine Ding wäre seine Lebensversicherung, in ein Kuvert, schrieb noch ein paar begleitende Zeilen auf einen Zettel und gab die Sendung eingeschrieben auf. Der Empfänger wird wissen, wie er diese Informationen verwerten kann und was sie wert sind.

    Wer ihn so sieht, wird niemals annehmen, dass er fest entschlossen ist, in wenigen Minuten seinem Leben ein Ende zu setzen. Bevor er die Wohnung betrat, wechselte er noch ein paar freundliche Worte mit der Nachbarin im Flur. Niemand merkt die tiefe Verzweiflung und hat die geringste Ahnung von dem Drama, das sich in seinem Inneren abspielt, und der Tragödie, die seinen Tod auslösen wird.

    Er geht hinaus in das Vorzimmer, versperrt die Eingangstüre, lässt den Schlüssel im Schloss stecken. Keinesfalls will er, dass die Familie seine Leiche vorfindet, will ihr den schrecklichen Anblick ersparen. Dann wechselt er hinüber in sein Arbeitszimmer, öffnet den kleinen Tresor, der hinter einer Kopie von Gustav Klimts Gemälde »Der Kuss« in der Wand eingebaut ist. Aus einer Metallkassette nimmt er seine private Pistole, für die er einen ordnungsgemäßen Waffenpass besitzt, steckt nur eine Patrone in das Magazin und entsichert sie. Er ist ein geübter Schütze und versteht es, mit Waffen umzugehen.

    Zuerst überlegte er, ob er sich nicht irgendwo an einsamer Stelle am Stadtrand aus dem Leben schießen soll, doch er verwarf wieder den Gedanken. Er will in gewohnter Umgebung sterben, zum allerletzten Mal ein vertrautes Bild vor Augen haben, bevor er abdrückt.

    Für seinen Abgang wählt er seinen Lieblingsplatz auf dem Balkon. Wenn sein Beruf und die Zeit es erlaubten, saß er gerne abends mit seiner Frau bei einem Glas Wein zusammen. Sie besprachen den vergangenen Tag, diskutierten oft über Gott und die Welt.

    Bei diesen Gedanken zeigt er erstmals Wirkung, kommt ins Wanken, ob er tatsächlich diesen finalen Schritt setzen soll. Doch die Angst vor den Konsequenzen, besonders für seine Familie, wenn alles auffliegt, überwiegt. Die Hintermänner sind zu mächtig, und sie scheuen vor nichts zurück. Dagegen ist er als kleiner Staatsdiener und Beamter chancenlos. Bedenkenlos würden sie ihn über die Klinge springen lassen, er wäre nur ein Bauernopfer, und die Drahtzieher kämen ungeschoren davon. Seine nachträgliche Rache ist in dem USB-Stick verborgen, und er weiß, die Daten darauf werden in die richtigen Hände kommen. Wenn er sich selbst aus dem Weg räumt, wird man seine Familie unbehelligt lassen. Ihm bleibt keine andere Wahl. Ein größeres Opfer zu bringen, ist nicht möglich, und er will nicht sinnlos sterben.

    So penibel wie im Beruf ist er ebenso pedantisch zu Hause. Sein plötzlicher Tod wird genug Scherereien und Probleme heraufbeschwören. Diese Wohnung ist immer sein Zufluchtsort gewesen, wenn im Beruf wieder einmal alles drunter und drüber gegangen ist. Sobald er die Türe hinter sich schloss, fühlte er sich von einer schweren Last, zumindest für ein paar Stunden, in seiner Schutz- und Trutzburg befreit.

    Er hat den Balkon mit Plastikfolie ausgelegt, die Gartenmöbel abgedeckt, da er genau weiß, was seine Pistole mit diesem Kaliber anrichten wird. Die letzten Züge der Zigarette sind verraucht. Er schaltet sein Handy ab, überprüft nochmals, ob seine Waffe scharf ist, bevor er einen kräftigen Schluck Wasser nimmt, die Flüssigkeit jedoch im Mund behält. Mit zitternden Händen hält er den Kolben der Pistole, die Mündung ist dicht vor seinen Lippen. Der rechte Daumen berührt den Abzugshahn. Einen Spaltbreit öffnet er seinen Mund, Wasser rinnt aus den Mundwinkeln, tropft auf sein Hemd. Sein Körper krampft sich zusammen, als er den eiskalten Lauf zwischen die Zähne steckt. Der Daumen presst sich gegen das Metall, verweigert den Befehl des Gehirns, sich zu krümmen und endlich abzudrücken. Erst der vierte Versuch löst das Inferno aus.

    Ungefähr in einer Stunde wird es in der beschaulichen Wohnhausanlage für längere Zeit mit der Ruhe vorbei sein.

    17. September 2013

    »Das Los der Großväter«, meint lächelnd der ältere Herr, der mit anderen Erwachsenen vor der Volksschule in der Berzeliusgasse im 21. Wiener Gemeindebezirk auf das Unterrichtsende wartet, zu Kokoschansky, der nur beiläufig nickt.

    »In welche Klasse geht Ihr Enkel?«

    Statt einer Antwort reckt der Hüne nur den linken Daumen in die Höhe. Manche haben die Sensibilität eines Elefanten im Porzellanladen und wollen nicht akzeptieren, dass einem nicht nach belanglosem Quatschen zumute ist. Derzeit hat Kokoschansky keinerlei Lust auf Konversation.

    »Ah, meins auch«, lässt der Opa sich nicht beirren, »in diesem Alter macht Schule ja noch Spaß, obwohl unsere Kleinen ziemlichen Anforderungen ausgesetzt sind. Wenn ich mich so erinnere, wie es zu unserer Zeit war …«

    Kokoschansky atmet erleichtert auf, als die Schulglocke den sich anbahnenden Redefluss stoppt. Kaum eine Minute später stürmen die Kinder aus dem Gebäude. Günther ist wie immer unter den Ersten, und seinem Gesicht ist anzusehen, was er von Schule im Allgemeinen nach nicht einmal einem Monat hält. Allerdings behagt es ihm sehr, dass er von einigen Mädchen umringt ist, die für ihn schwärmen. Doch sein Sohn hat nur Augen für eine. Ein adrettes, bildhübsches Mädchen, das den Jungen auffallend anhimmelt, und Günther schreitet stolz wie ein Gockel neben ihr.

    Amüsiert beobachtet Kokoschansky die beiden. Anscheinend hat er einen Miniatur-Bel Ami in die Welt gesetzt. Früh übt sich …

    Bei Kokoschansky löst diese Volksschule immer ein Déjà-vu aus. Schließlich drückte er hier auch vier Jahre die Schulbank und hatte schon nach wenigen Schultagen seine erste Freundin. Alice hieß sie, und sie gingen stets Händchen haltend nach Hause, da sie nur ein paar Häuser voneinander entfernt wohnten, bis er von der Hausmeisterin verpfiffen wurde, die ihn bei seinem Vater anschwärzte. Doch der meinte nur, sie sollte sich besser um das dreckige Geländer im Treppenhaus als um das Liebesleben seines Buben kümmern.

    Günther verabschiedet sich mit einem zarten Küsschen auf die Wange seiner Angebeteten. So ändern sich die Zeiten, denkt Kokoschansky. Damals hätte er das niemals in der Öffentlichkeit gewagt.

    »Papa!«, ruft Günther freudestrahlend und läuft auf ihn zu, während das Mädchen ihren Opa begrüßt, dem nun sein vorhin unbewusster Fauxpas klar wird, was wiederum Kokoschansky ein hämisches Grinsen entlockt.

    »Na, mein Großer«, begrüßt er seinen Sohn und übertreibt nicht einmal. Für sein Alter ist der Bub bereits um einiges größer als Gleichaltrige. Kein Wunder bei einem Zwei-Meter-Vater. »Und wie war es?«

    »Geht so«, lautet die einsilbige Antwort. »Die Lehrerin ist urblöd.«

    »Hey, das sagt man nicht.«

    »Doch. Die Schule nervt.«

    »Und warum?«

    »Weil ich …«, druckst der Knirps herum, »… weil ich eine Strafe bekommen habe.«

    »Ah, sieh an. Weshalb?«

    »Na ja, ich hab der Annette auf einen Zettel ein Herz gemalt und ihr unter der Bank gegeben …«

    Aha, ein kleiner Romantiker! Ein M von einem N zu unterscheiden, fällt ihm noch schwer, aber dafür kann Sohnemann bereits Herzen zeichnen.

    »Und dabei bist du erwischt worden, weil du im Unterricht nicht aufgepasst hast. Ist dieses Mädchen, mit dem du herausgekommen bist, deine Freundin?«

    »Ja«, mault Günther, »die Lehrerin ist doch nur neidisch, weil sich kein Typ für die Alte interessiert.«

    »Was? Wie kommst du denn jetzt darauf?«

    Kokoschansky ist in höchstem Maße über seinen Nachwuchs erstaunt. Gibt es eine Art vorgezogene Pubertät? Keine Ahnung. Der Vater weiß nicht, ob er jetzt einen auf streng mimen oder lauthals lachen soll.

    »Das ist doch ungerecht, Papa«, raunzt Günther weiter. »Nur, weil die Lehrerin grottenhässlich ist, muss ich jetzt diese blöde Rechenaufgabe machen. Dabei wollte ich mit Annette in den Park.«

    In den Park, sieh mal einer an! Diese Gelüste kamen dem Vater erst mit dreizehn, vierzehn Jahren.

    »Das wird wohl heute nichts werden«, bestimmt Kokoschansky. »Wenn du etwas angestellt hast, musst du dafür einstehen. Daher wirst du das erledigen, und dann sehen wir weiter.«

    Immer wieder dreht sich der Junge um und winkt seiner Flamme, was Kokoschansky schmunzeln lässt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, heißt es doch.

    »Du, Papa, kannst du mir einen Account einrichten?«

    »Äh, was soll ich?«

    Kokoschansky fällt beinahe die Zigarette aus der Hand.

    »Na, einen Account einrichten auf deinem Laptop, für Facebook. Dann kann ich mit Annette chatten«, und äußerst vorwurfsvoll, »Handy bekomme ich ja keines.«

    Vielen Dank, Mister Zuckerberg, flucht Kokoschansky innerlich und fühlt sich momentan ziemlich überfordert. Wie soll man als Vater seinem Sprössling beibringen, warum das nicht möglich ist? Globalisierung, Digitalisierung, totale Vernetzung und Computerisierung, wohin wird das noch führen? »Annette ist auf Facebook?«

    »Noch nicht, aber wenn ich drin bin, wird sie sicherlich auch reindürfen.«

    Daher weht also der Wind! Anscheinend eine berechnende Göre, die seinen Buben vorschiebt, um selbst ihr Ziel zu erreichen, und natürlich tappt Sohnemann blindlings in die kindliche Venusfalle.

    »Aber ihr könnt doch noch gar nicht richtig schreiben.«

    »Das lernen wir schnell. Die paar Wörter, die man für Facebook braucht, kriegen wir locker hin«, gibt Günther sich zuversichtlich.

    Damit liegt der Kleine gar nicht so falsch. Sieht man sich den Großteil der Einträge in diesem Netzwerk an, kann einem um die menschliche Intelligenz bange werden. Fehlen die passenden Worte, »artikuliert« man mit Smileys oder bedient sich dieser SMS-Kürzelsprache wie lol, cu und so weiter.

    Kokoschansky denkt nicht im Traum daran, seinem Sohn diese Art der unpersönlichen Kommunikation zu ermöglichen, obwohl er es auf Dauer ohnehin nicht verhindern kann, aber zumindest so lange wie möglich hinauszögern. Jetzt hilft nur mehr das Allheilmittel, das in solchen Fällen Wunder wirkt.

    »Was hältst du davon, wenn wir, bevor es nach Hause geht, einen Abstecher zum Mäcki machen? Als kleines Trostpflaster wegen der Strafarbeit.«

    »Ja!«, strahlt Günther. »Das ist ursuper!«

    Und mir wird danach wieder urkotzübel sein, denkt Kokoschansky. McDonalds übt eine magische Anziehungskraft aus. Sofort sind sämtliche Annettes, hässlichen Lehrerinnen und Strafaufgaben vergessen, sobald ein leckerer Burger mit Pommes und Ketchup ins Spiel kommt.

    »Mama verraten wir aber nichts davon«, baut Kokoschansky auf die Verschwiegenheit seines Sohnes.

    »Nein, großes Indianerehrenwort.«

    Gott sei Dank! Noch haben Google, Twitter, Yahoo! und was es sonst noch gibt die kindliche Fantasie nicht gänzlich unterwandert.

    »Also dann, rein mit dir!« Kokoschansky sperrt das Auto auf.

    »Hallo, Berik!«, ruft Günther hinüber zur anderen Straßenseite und winkt, wo ein gleichaltriger Bub an der Hand seiner Mutter nach Hause geht und ebenfalls zurückgrüßt. »Wir fahren zum Mäcki!«

    »Geht der auch in deine Klasse?«

    »Ja. Ich mag ihn, obwohl er nicht so gut Deutsch spricht.«

    »Woher kommt er denn?«

    »Kakasach… weiß ich nicht. Irgendwas mit stan am Schluss.«

    »Kasachstan?«

    »Ja, ich glaub, so heißt das Land.«

    Natürlich ist wie in vielen Wiener Schulen auch in Günthers Klasse der Migrantenanteil sehr hoch. So sitzen in der 1B fünfzehn verschiedene Nationen und unterschiedliche Hautfarben, doch im Gegensatz zu den Erwachsenen kennen die Kinder noch keinen Rassismus und keine Ausgrenzung. Leider wird es nicht ausbleiben, und es bleibt nur die Hoffnung, dass diese Generation klüger und toleranter sein wird. Wahrscheinlich nur eine schöne Illusion.

    Kokoschansky startet sein Auto, während Günther, vorbildlich angeschnallt auf der Rückbank, es sich bequem gemacht hat und dennoch mault, weil er bei Mama immer vorne sitzen darf. Schließlich ist er doch schon groß genug. Sein Vater schweigt, konzentriert sich auf den Verkehr, nimmt sich vor, bei Gelegenheit ein ernstes Wörtchen mit Lena zu sprechen. Er setzt zurück, schlägt ein, um aus der Parklücke auszuscheren. Berik überquert an der Hand seiner Mutter auf dem Zebrastreifen die Straße, lacht zu Günther hinüber.

    Plötzlich prescht mit quietschenden Reifen ein silbergrauer Van mit abgedunkelten Scheiben aus der Berzeliusgasse hervor, biegt in die Siemensstraße ein. Die Seitentüren werden aufgeschoben. Zwei athletische, durchtrainierte Typen in schwarzen Overalls, mit Sturmhauben maskiert und mit großkalibrigen Pistolen bewaffnet, springen heraus. Instinktiv weiß die Mutter, dieser Anschlag gilt ihr und ihrem Sohn. Auch der erfahrene Journalist Heinz Kokoschansky erkennt sofort den Ernst der Lage.

    »Schnall dich los, und leg dich auf den Boden!«, herrscht er seinen Sohn an. »Rühr dich nicht, und sei ganz still!«

    Verzweifelt versucht die Mutter des kleinen Kasachen, diese offensichtliche Entführung zu verhindern, presst ihr Kind an den Körper, schreit um Hilfe. Ein Tumult entsteht in der Siemensstraße. Autos bremsen sich ein, die Lenker starren gebannt auf dieses surreale Geschehen. Passanten halten an, beobachten neugierig, was da vor ihren Augen abläuft. Nur einige wenige erkennen die tödliche Gefahr, gehen in Deckung. Niemand hat den Mut, angesichts der Waffen den Helden zu spielen.

    »Papa, was ist da los?«, piepst Günther aus dem Fond herauf.

    »Später, Günther, später. Hab keine Angst. Uns passiert nichts. Sei nur mucksmäuschenstill.«

    Günther hält sich die Hand vor die Augen, drückt sich fest auf den Wagenboden.

    Einer der Entführer brüllt auf die verschreckte Frau in einer Sprache ein, die keiner versteht, und greift nach Berik. Doch die Mutter kämpft wie eine Löwin um ihr Junges, schiebt den Buben, der starr vor Schreck ist, schützend hinter ihren Rücken, und er klammert sich an ihr fest. Sie schreit die Täter an, bespuckt sie, niemand getraut sich, ihr zu helfen. Die beiden Pistolen sprechen eine allzu deutliche Sprache. Auch Kokoschansky wagt es nicht, schon wegen Günther. Unbemerkt verständigt er lieber via Handy den Polizeinotruf, doch jemand war schneller. Die Leitstelle ist schon informiert, und der schrille Klang der Folgetonhörner nähert sich, was natürlich dem Rollkommando nicht verborgen bleibt. Der Fahrer, ebenfalls maskiert, drückt energisch auf die Hupe, schreit – anscheinend hat er die Befehlsgewalt bei dieser Aktion – einen scharfen Befehl aus dem Seitenfenster heraus.

    Der Maskierte, der am nächsten zur Mutter steht, hebt kaltblütig seine Waffe, drückt ihr den Lauf auf die Stirn. Die Polizeisirenen werden lauter, es bleibt keine Zeit mehr. Beriks Mutter weiß, sie hat keine Chance. Trotz Todesangst blickt sie dem Killer mutig und entschlossen in die hasserfüllten, stechenden Augen hinter den Sehschlitzen der Maskierung.

    »Verdammt, das ist eine Hinrichtung«, murmelt Kokoschansky und umklammert das Lenkrad. Nur Günther hindert ihn an einer unüberlegten, gefährlichen Handlung.

    Das Opfer kann nicht das verächtliche Grinsen hinter der Maske sehen, doch sie hört, wie er sie auf Kasachisch beschimpft.

    »Fahr zur Hölle, dreckige Hure«, flüstert er mit heiserer Stimme. »Herzliche Grüße vom Präsidenten …«

    Kokoschanskys linkisches Ablenkungsmanöver kommt zu spät, indem er auf die Hupe drischt, deren Ton mit dem Knall des Schusses verschmilzt. Wie eine Marionette, der die Fäden durchgeschnitten worden sind, stürzt die Frau mit verdrehten Augen und einem Einschussloch über der Nasenwurzel mit verrenkten Gliedern auf den Asphalt. Versteinert steht Berik daneben, kann nicht begreifen, was hier passiert, sieht nur seine Mutter auf dem Boden liegen, und eine langsam größer werdende Blutlache bildet sich um ihren Kopf.

    Während der Killer seelenruhig in das wartende Auto springt, scheint der Komplize weniger stählerne Nerven zu haben. Dass Kokoschansky ein Hupkonzert veranstaltete, konnten die Täter zwar hören, aber nicht das dazugehörige Fahrzeug orten. Daher fuchtelt der verhinderte Entführer mit der Pistole wild herum, schießt ein paar Mal zur Warnung in die Luft, bevor ihn ein gewaltiger Brüller in den Fluchtwagen zurückbeordert. Längst hat auch der neugierigste Schaulustige kapiert, hier wird kein Film gedreht. Das ist knallharte, tödliche Realität. Niemand ist mehr auf den Beinen. Jeder sucht Schutz und Deckung hinter geparkten Autos oder liegt flach auf dem Bauch auf den Gehsteigen. Die Schüler schreien und weinen. Kinder, die allein sind, werden von mutigen Erwachsenen beschützt. Das Chaos ist perfekt.

    Mit aufheulendem Motor rast der Mörderwagen los, kollidiert beinahe mit der ersten eintreffenden Funkstreife an der Kreuzung Brünnerstraße/Frauenstiftgasse, die sofort wendet und die Verfolgung aufnimmt. Der Anschlag dauerte nicht länger als ein paar Sekunden.

    »Papa«, wispert Günther voller Angst. »Waren das Schüsse?«

    »Ja.« Kokoschanky lässt das Lenkrad los, seine Hände sind schweißnass, leise murmelt er: »Das war eine Scheißhinrichtung.«

    »Ist Berik etwas passiert?«, fragt Günther. »Darf ich wieder hochkommen?«

    Mit seinem kindlichen Instinkt spürt der Junge, dass sein Schulkamerad in Schwierigkeiten steckt.

    »Nein, Berik geht es gut«, lügt der Vater. »Bleib, wo du bist.«

    »Und seine Mama?«

    »Alles in Ordnung.«

    Verdammt, wie soll man einem Sechsjährigen erklären, dass er gleichsam Augenzeuge eines Mordes geworden ist?

    »Pass auf, du versprichst mir jetzt, unten liegen zu bleiben. Papa steigt jetzt aus und sieht nach. Ich möchte nicht, dass du siehst, was da los ist. Kann ich mich auf dich verlassen?« Günther nickt nur. »Gut, dann bin ich kurz weg. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin immer in deiner Nähe und gleich wieder bei dir.«

    Eine ältere Frau hat sich Berik angenommen, ihn von der Leiche weggezogen, ist mit ihm auf die andere Straßenseite gewechselt, redet beruhigend auf ihn ein, verstellt ihm so weit wie möglich das Blickfeld. Der kleine Kasache ist völlig apathisch, realisiert noch nicht, dass seine Mutter tot ist, fragt nur ununterbrochen, was denn mit seiner Mama los ist und warum sie am Boden liegt.

    Mehrere Polizeistreifenwagen und Rettungsfahrzeuge sind eingetroffen, auch ein K-Zuga der Wiener Berufsrettung. Die Polizisten versuchen, das Chaos zu schlichten, sperren den Tatort ab. Sanitäter bemühen sich um einige besonders geschockte Passanten, manchen werden Beruhigungsspritzen verpasst. Ein Notärzteteam, das neben der Ermordeten kniete, steht auf, schüttelt nur die Köpfe als Zeichen, es gibt nichts mehr zu retten, ziehen ihre Einweghandschuhe aus und lassen sie achtlos fallen. Sie haben noch genug mit den anderen Leuten zu tun.

    Zwei Polizisten bedecken die Leiche mit einer Plane. Die Ärztin eines Rettungsteams ist vor Berik in die Hocke gegangen, spricht behutsam mit ihm, wischt ihm immer wieder die Tränen aus den Augen. Der Bub ist seltsam gefasst und ruhig, scheint langsam zu begreifen, trägt seine Trauer über diese unfassbare Tragödie nicht nach außen. An der Hand der Polizistin lässt er sich widerspruchslos zu einem Rettungsauto führen, abgeschirmt von ihren Kollegen. Er soll nicht seine tote zugedeckte Mutter auf der Straße liegen sehen.

    Polizisten führen erste Befragungen mit den Augenzeugen durch, doch viel Verwertbares kommt dabei nicht heraus. Die beiden Täter waren einheitlich in Schwarz gekleidet und maskiert. Mehr nicht. Selbst die Größenangaben divergieren. Vom Lenker des Fluchtautos gibt es überhaupt keine Beschreibung, das Auto wird nur als groß und dunkel, mit Dreck verschmiertem Kennzeichen beschrieben. Später wird sich herausstellen, der Wagen war in der vergangenen Nacht im 20. Wiener Gemeindebezirk gestohlen worden.

    Auch die Sprache, in der sie herumgebrüllt hatten, lässt sich nicht zuordnen. Einige meinen, dem Klang nach zu schließen, könnte es sich um ein Land in Osteuropa handeln.

    Kaum hat sich die allgemeine Lage halbwegs beruhigt, vergessen viele auf Pietät und Anstand. Plötzlich breitet sich lüsterne Sensationsgier wie Metastasen aus. Kokoschansky ist von Berufs wegen einiges gewohnt. Der Journalist hat oft genug selbst Grenzen überschritten, doch das hier widerspricht jeglicher Ethik. Diese verdammte Handymania ist wie eine Seuche. Jeder Trottel muss unbedingt Fotos knipsen oder einen verwackelten Clip drehen, um sich auf Facebook, YouTube oder Twitter in Szene setzen zu können.

    Ein halbwüchsiger Rotzlöffel ist besonders dreist, zoomt die zugedeckte Leiche heran. In seinen Augen leuchten bereits die zahlreichen Likes, die er wohl für sein Scheißfilmchen auf Facebook bekommen wird.

    »Da drunter liegt die erschossene Mutter eines kleinen Jungen«, sagt Kokoschansky zu dem Pickelgesicht.

    »Ja, und? Mein Problem? Verzieh dich, Alter. Oder bist du ein Bulle?«

    »Nein, bin ich nicht. Drum darf ich das auch.«

    Blitzschnell landet ein sündteures Smartphone der neuesten Generation auf der Straße und löst sich unter Kokoschanskys Schuhabsatz in seine Bestandteile auf.

    »Dich stech ich ab«, kreischt der Bursche und will in die Tasche seiner Jacke greifen, doch eine schallende Ohrfeige stoppt augenblicklich sein Vorhaben.

    »Was ist da los?«, schreit ein Polizist und kommt herangelaufen.

    »Das Bubi droht mit einem Messer«, bleibt Kokoschansky völlig ruhig und zieht den Beamten auf die Seite, sagt ihm leise, was Sache ist, was dem wiederum ein befriedigendes Grinsen entlockt. Dann winkt er eine Kollegin herbei.

    »Er soll seine Taschen ausleeren und dann ab mit ihm auf die PIb. Ich habe jetzt keine Zeit dafür.«

    »Und was ist mit meinem Handy?«, fragt der ursprüngliche Großkotz jetzt sehr kleinlaut.

    »Tja, wenn du zu blöd bist, dein Telefon zu halten?«, lächelt der Polizist ihn an und wendet sich wieder seiner eigentlichen Arbeit zu.

    Tatsächlich kommt aus einer Jackentasche ein Butterflymesser zum Vorschein.

    Inzwischen sind auch LKA, BKA, der Erkennungsdienst und Beamte des LVTc eingetroffen.

    An diesem 17. September 2013 muss sich die Polizei über mangelnde Arbeit nicht beklagen. Zumindest nicht in diesem Bezirk.

    Kaum ist eine Tragödie, deren Tragweite noch gar nicht einzuschätzen ist, vorläufig beendet, geht das Drama bereits in den zweiten Akt über. Der Fluchtwagen kommt nicht weit. Verfolgt von mehreren Funkstreifen, braust der silbergraue Van in halsbrecherischer Höllenfahrt rücksichtslos über die stark befahrene Brünner Straße stadteinwärts. Unbeteiligte Lenker werden zu selbstmörderischen Bremsmanövern gezwungen, Autos schlittern und schleudern, stellen sich quer. Einige Auffahrunfälle sind unvermeidbar. Das mörderische Trio missachtet sämtliche Verkehrsampeln, rast über die Straßenbahngleise. Die Täter haben den Auftrag gründlich vermasselt, und sie wissen, was ihnen von den Hintermännern blüht. Im Wageninnern herrschen totale Panik und Hektik. Sie brüllen sich an, weisen sich gegenseitig die Schuld an der vereitelten Entführung zu.

    An der Kreuzung Brünner Straße/Katsushikastraße in Richtung B3 zur Auffahrt auf die Nordbrücke ist Endstation. Von drei Seiten kommend, kreisen weitere Polizeiautos den Van ein. Der Fahrer versucht noch einen verzweifelten Ausbruch und knallt seitlich in einen Straßenbahnzug der Linie 31. Doch sie denken nicht daran aufzugeben, bleiben bei dem Aufprall unverletzt. Einer springt aus dem Van. Pistolen reichen jetzt nicht mehr. Wahllos feuert er mit einer Maschinenpistole um sich, sein Komplize schießt aus dem Wagen heraus durch die zersplitterte Seitenscheibe, während der Fahrer vergeblich versucht, den abgestorbenen Motor wieder in Gang zu setzen.

    Querschläger surren durch die Gegend, durchschlagen Autoblech, zertrümmern Scheiben. Einige Passanten werden durch Streifschüsse angeschossen. Den Straßenbahnfahrer trifft eine verirrte Kugel in die Brust und verletzt ihn lebensgefährlich.

    Die Funkstreifenbesatzungen sind hinter ihren Einsatzwägen in Stellung gegangen, feuern zurück, doch mit ihren Glock-Dienstpistolen richten sie eher wenig gegen die MPs aus. Es ist offensichtlich, die Täter denken nicht ans Aufgeben. Wiederholt werden sie in deutscher und englischer Sprache aufgefordert, das Feuer einzustellen und sich zu ergeben. Ihre Antworten sind nur weitere Salven. Sie nehmen alles und jeden unter Beschuss, der ihnen vor den Lauf kommt.

    Einer aufmerksamen Polizistin, hinter der geöffneten Beifahrertüre einer Funkstreife hockend, entgeht nicht, wie einer versucht, eine Handgranate zu zünden. Ihr Schuss trifft ihn in den Oberschenkel und verhindert somit ein noch größeres Blutbad, da er nicht mehr in der Lage ist, den Sicherungssplint der Granate zu ziehen.

    Szenen, die in dem an sich ruhigen Floridsdorf völlig ungewohnt sind, man nur aus dem Fernsehen und amerikanischen Actionfilmen kennt.

    Unbemerkt ist eine Einheit der WEGAd eingetroffen. In neutralen PKWs fahren die Spezialisten der Wiener Polizei vor, beziehen hinter einem nahe liegenden Möbelhaus Stellung. Routiniert und eingespielt, für besonders gefährliche wie heikle Einsätze trainiert, nehmen die schwarz gekleideten, maskierten Männer mit den kugelsicheren Westen ihre Positionen ein. Auf dem Flachdach des Einrichtungshauses liegen zwei Scharfschützen auf dem Bauch.

    Der offensichtliche Anführer des Killerkommandos hat eingesehen, dass sämtliche Versuche, das Fluchtfahrzeug wieder flottzubekommen, zwecklos sind. Während sein unverletzter Kumpan ihm Feuerschutz gibt, verlässt er das ramponierte Auto. Er schreit ein paar Befehle. Anscheinend haben sie die Absicht, einen der stehenden Wagen zu kapern, um ihre Flucht fortsetzen zu können. Ein kurzer Blick auf den angeschossenen Kumpel, der sich zwischen ihrem Auto und der Straßenbahn in die Deckung zurückgezogen hat, genügt dem Rädelsführer für seine tödliche Entscheidung. Skrupellos tötet er ihn mit einem Kopfschuss. Somit ist ein Sicherheitsrisiko, eine zusätzliche Belastung und Ballast, aus der Welt geschafft. Und er kann vor allem nicht mehr reden. Dieses Selbstmordkommando geht aufs Ganze.

    Auf dem Dach des Einrichtungshauses geben die beiden WEGA-Beamten ihre Lageeinschätzung über Funk an den Einsatzleiter weiter. Es bleibt keine Zeit mehr zum Überlegen, die beiden verbliebenen Killer werden versuchen, in den nächsten Sekunden Geiseln zu nehmen, daher fällt die einzig richtige Entscheidung durch die Einsatzleitung: kampfunfähig schießen oder als letzte Konsequenz finaler Todesschuss.

    Das Schussfeld für die Schützen auf dem Dach ist frei, keine anderen Personen sind unmittelbar gefährdet. Durch die Fernrohre ihrer Präzisionsgewehre verfolgen die Beamten jede Bewegung der immer hektischer agierenden Täter. Sekunden werden nun zu Stunden. Jetzt gilt es, genau im richtigen Moment abzudrücken. Der Befehl für die Scharfschützen lautet, Handeln nach eigenem Ermessen, also in Eigenverantwortung. Unterstützt durch ihre Zielfernrohre, entgeht ihnen nicht die kleinste Bewegung.

    Plötzlich ändern die Täter ihre Taktik. Sie wollen die Straßenbahn kapern, da derzeit die Wege viel zu lang zu den Autos sind und sie sich der Gefahr aussetzen, von den Polizisten abgeknallt zu werden. Natürlich ahnen die Profikiller, längst im Visier von Spezialkommandos zu stehen.

    Die Fahrgäste schreien vor Schreck auf, werden panisch, als einer der beiden versucht, eine der Türen aufzutreten. Der andere will abwarten, bis sein Komplize in die Straßenbahn eingestiegen ist und die Leute ihre Geiseln sind, sodass er unbehelligt ebenfalls in die Garnitur zusteigen kann. Von diesem relativ sicheren Ort werden sie ein vollgetanktes Fluchtauto fordern und im Drei-Minuten-Takt nach dem Ablauf eines Ultimatums Geiseln in der Straßenbahn töten, sollten ihre Forderungen abgelehnt oder sollte versucht werden, sie hinzuhalten. Sie wissen, sie haben nichts mehr zu verlieren.

    In dem Moment, als die Vorhut ihr linkes Bein abermals anhebt, um gegen die Straßenbahntüre zu treten, trifft der WEGA-Schütze den Mann punktgenau ins Knie. Mit einem fürchterlichen Schmerzensschrei bricht er zusammen, die MP fällt ihm aus der Hand. Beinahe zeitgleich fällt der zweite Schuss. Der andere Scharfschütze nutzte diesen Bruchteil eines Moments, als der mutmaßliche Rädelsführer seinen Kopf hervorbewegte, als er den Aufschrei seines Kumpanen hörte. Diese winzige Zeitspanne reichte für den Profi. Über dem linken Ohr drang die Kugel in den Kopf, und bereits im Wegkippen ist er verstorben.

    Von überallher tauchen nun WEGA-Beamte in ihren Schutzausrüstungen auf und sichern den Tatort. Der niedergeschossene Killer wird, ungeachtet seiner Schmerzensschreie, kurzerhand auf den Bauch gedreht, damit ihm Handschellen angelegt werden können, bevor er ärztliche Erstversorgung erhält.

    Der Straßenbahnfahrer wird aus seinem Führerstand geborgen und abtransportiert. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus erliegt er seiner schweren Verletzung. Zahlreiche Passanten, quer durch alle Altersgruppen, wurden vor allem durch Querschläger leicht bis schwer verletzt und landen in verschiedenen Spitälern.

    Ein fürchterliches Verkehrschaos mit Auswirkungen auf ganz Wien ist eine weitere Folge.

    Davon bekommt Kokoschansky in der Berzeliusgasse nichts mit. Noch immer sind die Zeugenbefragungen nicht abgeschlossen. Selbstverständlich steht er zur Verfügung, obwohl er im Grunde genauso wenig aussagen kann wie alle anderen, die das Geschehen hautnah miterlebten. Günther sitzt verstört im Auto und will nur mehr nach Hause.

    Aus Sicherheitsgründen wurde die Schule evakuiert, obwohl keine Bombendrohung eingegangen war. Doch nach Bekanntwerden der Identität der erschossenen Frau entschloss man sich für diese Maßnahme. Schüler und Lehrer, die noch im Unterricht waren, werden mit Bussen der Wiener Linien an einen sicheren Ort gebracht, während der Entminungsdienst jeden Winkel des Schulgebäudes untersucht und zusätzlich Sprengstoffhunde eingesetzt werden. Zum Glück bewahrheiten sich die Befürchtungen nicht.

    Erste TV-Teams, Journalisten und Fotografen sind eingetroffen. Es ist ekelhaft mitanzusehen, wie einige Schaulustige versuchen, ihre Handyvideos zu verhökern, und dabei wie in einem Bazar um den Preis feilschen.

    »War‘s das?«, fragt Kokoschansky den Polizisten, der seine Personalien aufnahm und über den Tathergang Auskünfte einholte. »Ich möchte mit meinem Jungen nach Hause. Das hat ihn ziemlich mitgenommen.«

    »Ja klar, danke. Von meiner Seite gibt es nichts mehr.«

    Günther kauert noch immer zwischen den Vordersitzen und der Rückbank, als Kokoschansky zum Auto zurückkehrt, und wirkt sehr verstört.

    »Also in Ordnung, mein Großer?«, fragt sein Vater.

    »Darf ich hochkommen?«

    »Klar doch.«

    Der Junge sieht aus dem Fenster, bemerkt die Plane, unter der Beriks erschossene Mutter liegt.

    »Ist Beriks Mama tot?«

    »Wie kommst du darauf?«

    »Da liegt doch ein Mensch darunter, und es wurde geschossen.«

    Kokoschansky schafft es nicht, seinen Sohn anzulügen. Der Junge ist viel zu

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