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Bangkok ist selten kühl. Kriminalroman
Bangkok ist selten kühl. Kriminalroman
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Bangkok ist selten kühl. Kriminalroman

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Privatermittler Fabian wird vom Hamburger Anwalt Dr. Becker beauftragt, den Schwiegersohn eines renommierten Tierarztes in Bangkok ausfindig zu machen. Tage zuvor war dieser aus einer deutschen Privatklinik entflohen und nach Thailand geflogen.
Als Fabian den Gesuchten in Bangkok tatsächlich findet, ist sein Auftrag eigentlich erledigt. Doch dann merkt er, dass ein Killer auf den Mann angesetzt ist, und er begreift, dass man ihm den wahren Zweck seiner Reise verschleiert hat... Fabian beschließt, die Hintergründe auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei gerät er in ein perfides Geflecht aus Korruption und üblen Machenschaften. Er stößt auf einen mörderischen Frischfleischskandal, aber als er begreift, wo die Verbindung zu dem geplanten Auftragsmord liegt, wartet noch eine andere, viel größere Herausforderung auf ihn...

Ernsts schnodderiger Stil erinnert an die Altmeister der „hard boiled detective novel“. Er verwebt Witz, schillernde Charaktere und grelles Lokalkolorit zu einer klugen, zunehmend rasanten und mitreißenden Story.

LanguageDeutsch
Release dateJul 31, 2014
ISBN9783957641205
Bangkok ist selten kühl. Kriminalroman

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    Book preview

    Bangkok ist selten kühl. Kriminalroman - Christoph Ernst

    Die Akteure

    Axel hockt gern vorm Computer

    Dr. Julius Becker hat einen ungesunden Hang zu Seilschaften

    Dietmar Berkenkopff wird sauer, als man ihn feuert

    Lisa Berkenkopff merkt zu spät, was gespielt wird

    Carlo besitzt Muskeln und Hirn

    Conny kann mehr als Labskaus kochen

    Fabian schläft schlecht

    Fräulein Jensen hat begnadete Waden

    Goldlocke trägt teure Sonnenbrillen

    Knut Görlich bleibt verschwunden

    Dr. Richard Hinrichs taucht nur am Telefon auf

    Jim mag keine Bigotterie

    Jules mag Jim

    Paul träumt von einer ›Harley‹

    Lothar Paulsen fällt mehrmals aus allen Wolken

    Dr. Britta Sommerfeld macht den Mund auf

    Dr. Friedhelm Stumpke hat außerordentlichen Appetit

    Gerda Stumpke erscheint nicht auf Familienfotos

    „Rich relations may give you a crust of bread and such,

    ›you can help yourself, but don't take too much‹,

    mama may have, and papa may have,

    God bless the child that's got his own."

    Billie Holiday

    1

    Dass ich in die Sache reingeriet, liegt an Max. Max lebt in Hamburg-Harvestehude und müsste inzwischen sieben sein. Vor etwas über einem Jahr habe ich ihn entführt, aus Sydney, über Bangkok. Der geschiedene Gatte hatte ihn sich beim Auszug aus der gemeinsamen Wohnung angeeignet. Da ihre Ehe kinderlos geblieben war, hing meine Auftraggeberin umso mehr an ihm. Ich fand für sie heraus, dass Max inzwischen in Australien wohnte, zusammen mit dem Ex und einer brasilianischen Tänzerin, die ungefähr dreimal so alt war wie der vermisste Rüde. Als er an einem sonnigen Morgen durch Wooloomooloo spazierte, lief Max mir zu beziehungsweise der läufigen Hündin hinterher, die ich von einem Züchter aus Rockdale geborgt hatte. Acht Tage später tollte er wieder an der Alster. Die einzige Hürde waren die Dokumente. Bis Max meinen Weg kreuzte, hatte ich keinen Schimmer, wie viele Impfzeugnisse ein Dobermann braucht, bevor er sich ins Flugzeug setzen darf.

    Nach dem Studium bin ich jahrelang Taxe gefahren. Nachts, dann sind die Straßen leer. Ich hasse es, im Stau zu stehen, während hektisch hechelnde Fahrgäste über alternative Routen spekulieren, weil sie sich für besonders gewieft halten und unterstellen, man verplempere gezielt ihre Zeit. Doch auf die Dauer ödete mich auch das nächtliche Kutschen an. Vor einigen Jahren, als die Sache mit der Made passiert war, brachte mein Freund Axel mich auf die Idee. Ich inserierte. Bei den ersten Jobs hatte ich mehr Glück als Verstand, aber mit der Zeit lernte ich dazu. Nach einer Weile sprach sich herum, dass es mich gab und ich so diskret wie zuverlässig lieferte.

    Ich bin eine Art Wiederbeschaffer. Geht einem etwas flöten, das ihm teuer ist, hole ich es zurück, seien es Papiere, Perserkatzen oder Porsches. Ich springe ein, wo Behörden schlafen oder schlampen, liefere unbürokratisch, zügig und einigermaßen legal. Ich koste nie mehr, als meine Klienten zahlen können. Der Bedarf ist überraschend groß. Dinge haben einen immer größeren Hang zur Mobilität. Ich kann davon leben, auch wenn sich zwei Drittel der Anfragen von vornherein erübrigen. Ich bin weder Leihmuskel noch treibe ich Schulden ein, zumindest nur selten. Es gibt Grenzen - der Moral, des Geschmacks und meiner Geldgier.

    Das wusste Becker nicht. Er wusste nur von Max. Und dass ich mindestens schon einmal in Bangkok gewesen war.

    Er rief an einem verregneten Mittwochvormittag an.

    Ich lag gerade in der Badewanne, sinnierte über norddeutsches Wetter und protestantischen Charakter, als der schwarze Selbstanschließer von 1929 schrillte und mich so nackt wie nass ins schlecht geheizte Dasein riss. Ein soignierter Bariton mit dezentem Hamburger Akzent wollte wissen, ob ich für einige Tage abkömmlich sei und einen Pass besäße. Beides traf zu. Er bat mich, ihn umgehend in seiner Kanzlei aufzusuchen. Dreißig Minuten später stand ich vor einer opulenten Jugendstilfassade in den Colonnaden, wenige Schritte von der Binnenalster, in Rufnähe von Rathaus und Börse.

    Dr. Julius Becker arbeitete ohne Sozius. Wenigstens nannte das Messingschild an der Straßenfront keinen Partner. Sein Büro lag im zweiten Stock und duftete nach Geld. Eine blonde Endzwanzigerin, die mit gelungenen Schenkeln ein ›Laura-Ashley‹-Modell wölbte, führte mich durch eine Flucht heller, modern eingerichteter Räume ins Zimmer ihres Chefs. An Deck des niedlichen Schlachtschiffs, das ihm als Schreibtisch diente, saß ein schlanker, silbern ergrauter Mittfünfziger und teilte Geheimnisse mit einem Diktiergerät.

    Als ich eintrat, orderte er schwungvoll Kaffee und kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen. Er besaß auffallend helle Augen, wie ein Husky, und trug genau den Hauch Sonnenbräune im Gesicht, den man sich bei gelegentlichen Wochenenden in Nordfriesland holt. Jackett und Binder verrieten gediegenes Understatement. Konservativ und britisch. Oder zumindest das, was Hanseaten dafür halten.

    Um ihn herum wütete Tradition. Hinter dem hochseetauglichen Schreibmöbel beeindruckten tonnenschwere Bücherschränke aus gebeizter Eiche. Ein Janssen hing an der Wand, als gezähmte Konzession an etwaige Nostalgien seiner Klienten, abgemildert von drei Stichen mit Jagdszenen, Englisch, spätes achtzehntes Jahrhundert. Das Fischgrätenparkett ertrank unter einem üppigen Buchara. Vier Meter darüber schwebte eine dunkle Kassettendecke. Wen dieser Raum nicht erschlug, der erlag seinem Charme.

    Becker strahlte mit jeder Pore Tatkraft, Kompetenz und Solidität aus. Selbst das Lächeln wirkte echt. So, wie die Brücke in der rechten Seite des Oberkiefers. Nahezu perfekt. Sein Rasierwasser war unaufdringlich, der Händedruck fest. Eine Art stählerner Abiturient. Oder ewiger Oberstleutnant. Viele Hamburger stehen auf diesen Typ. Auch in Zivil.

    „Wollen wir uns nicht setzen?"

    Der Vorschlag kam, während er meine Hand drückte. Dabei legte er mir die Linke auf den Oberarm und schob mich in Richtung eines der drei Clubsessel, die als Inselgruppe um einen Rauchertisch auf dem Buchara dümpelten. Rindsleder knirschte. Sekunden später erschien die Sekretärin, in den Händen ein Tablett. Das parkte sie auf dem Tischchen und machte Anstalten, zwei Tassen zu füllen.

    „Danke, Frau Jensen, wir schenken uns selbst ein."

    Als sie im Abgehen schwingende Kurven bot, wandte er sich mit einladender Geste wieder an mich: „Bitte."

    Damit meinte er leider bloß den Kaffee. Ich zückte ein Pack ›Prince‹.

    „Okay?"

    „Sicher."

    Er lehnte sich zurück, griff zum Telefon. Frau Jensen apportierte einen kristallenen Totschläger für die Asche und entschwebte. Er musterte mich lächelnd. Ich ließ mein Wegwerffeuerzeug aufflackern, sog am Filter, wartete.

    „Ich habe es mir vor einigen Jahren abgewöhnt, bemerkte er. „Aber es stört mich nicht...

    Für einen, dessen Zeit so teuer war, wie das Ambiente suggerierte, ging er großzügig damit um. Dass er dafür bezahlt wurde zuzusehen, wie ich meine Bronchien belastete, konnte ich mir nicht vorstellen.

    „Worum geht's?"

    Er räusperte sich bedeutsam.

    „Eine Familienangelegenheit. Ich vertrete Frau Christine Paulsen. Ihr Mann ist vor vier Tagen aus dem ›Eichengrund‹ verschwunden, einer Privatklinik bei Glinde, die er wegen eines Alkoholproblems aufgesucht hatte. Vermutlich hält er sich jetzt in Thailand auf. Montagabend jedenfalls bestieg er die Maschine nach Bangkok."

    „Wissen Sie, was er dort will?"

    Seine Hände wogen bedauernd Büroluft.

    „Offen gestanden, nein. Nur, dass Herr Paulsen noch nie in Asien war und sich wahrscheinlich in Bangkok aufhält..."

    Einen Säufer sucht man am besten an der Tränke. Dummerweise brachte diese Erkenntnis wenig. In Bars der ›Engelsstadt‹ können ganze Armeen versacken. Dauerhaft.

    Er schürzte die Lippen und schenkte mir wieder eines von den perfekten Lächeln. Die musste er im Dutzend eingekauft haben.

    „Man sagte mir, dass Sie sich dort auskennen."

    Vielleicht war sein Zahnersatz auch nur brandneu, und er probierte noch den Effekt aus.

    „Wer sagt das?"

    „Zum Beispiel die glückliche Besitzerin von Max."

    Ich dachte an die sympathisch adipöse, nicht vorschriftsmäßig mager gehungerte Mittvierzigerin aus der Magdalenenstraße, die trotz ihres Geldes keine der prätentiösen Neigungen pflegte, mit denen Reiche oft weniger Betuchte quälen, und hätte gern gewusst, welcher meiner anderen Kunden mich ihm noch empfohlen hatte.

    „Bei Max war's eine reine Kostenfrage. Hier läuft es auf einen Ausflug ins Blaue hinaus. Außerdem hat die Dame maßlos übertrieben."

    „Sie genießen den Ruf, sehr effizient zu sein."

    Da Anwälte es oft mit eitlen Menschen zu tun haben, beschloss ich, es nicht persönlich zu nehmen.

    „Sie wären besser beraten, eine Weile abzuwarten. Bis er mit Plastik zahlt oder ihm das Geld ausgeht. Wenn er durstig ist, wird er sich schon melden."

    Es sei denn, er faulte längst irgendwo in der Gosse.

    „Vielleicht trinkt er auch gar nicht mehr so viel, sagte Becker. „Er ist immerhin vier Wochen lang therapiert worden. Augenscheinlich hatte der Anwalt extrem sonnige Vorstellungen von Alkoholismus.

    „Wie darf ich das verstehen?"

    „Ziehen Sie einfach die Möglichkeit in Betracht, dass er nichts mehr trinkt. Sein Arzt sagte mir, das sei letztlich nicht das zentrale Problem gewesen."

    „Was ist es dann?"

    Er lächelte verbindlich.

    „Dass der Mann ohne jede Nachricht fort ist und meine Mandantin sich große Sorgen um ihn macht. Über alles andere brauchen Sie sich wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen."

    „Wieso sagt sie mir das übrigens nicht selbst?"

    „Sie ist leider verhindert."

    „Warum gerade heute?"

    „Ich verfüge über alle nötigen Informationen und habe Vollmacht, mit Ihnen die Details zu klären."

    „Dann tun Sie das bitte auch."

    Damit drückte ich meine Zigarette aus und steckte die Prinzen ein.

    „Entweder Sie reden Klartext. Oder wir lassen es."

    „Also gut. Ich will ganz offen mit Ihnen sein."

    Die Ansage, sich beim Lügen mehr Mühe zu geben, kam kombiniert mit einem Hüsteln.

    „Es ist alles ein wenig komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Frau Paulsen hat in den letzten Monaten viel durchgemacht."

    Seine Stimmbänder raschelten. Er wechselte das übergeschlagene Bein.

    „Lothar Paulsen leidet unter Katathymie. Das zumindest hat Professor Rombach, der Chef des Sanatoriums, in dem er therapiert wurde, bei ihm diagnostiziert. Katathymie ist eine Spielform von Paranoia. Ausgelöst durch bestimmte Reizmuster, kann der Erkrankte nicht mehr zwischen der Realität und seinen Wahnvorstellungen unterscheiden."

    Den Namen der Krankheit hatte ich zwar noch nie gehört, aber die Symptomatik klang vertraut. Obwohl sie anscheinend meist unbehandelt bleibt. Etwa bei Politikern und Sportfunktionären.

    „Wie äußerte sich das?"

    „Herr Paulsen verdächtigte seine Frau, ihn zu betrügen. Seit November letzten Jahres muss es zwischen beiden zu dramatischen Eifersuchtsszenen gekommen sein. Mitte Januar schließlich packte sie die Koffer und zog mit den vier Kindern zu ihren Eltern. Doch er fuhr fort, sie zu belagern, fing die Kinder nach Schule ab, drohte ihr mit Gewalt."

    Becker atmete durch.

    „Warum hat sie ihn nicht eher verlassen?"

    „Elf Jahre Ehe wirft niemand leichtfertig fort. Auch gab es zwischendurch wohl immer wieder lichtere Momente, in denen er ihr vorschlug, gemeinsam einen Therapeuten aufzusuchen."

    Ein paar Sekunden lang beschäftigte er sich gedankenverloren mit seiner Tasse, bevor er wieder aufsah und mich fixierte.

    „Sehen Sie, die Frau liebt ihren Mann wirklich hingebungsvoll. Trotz allem, was er beziehungsweise seine Krankheit ihr angetan hat. Überdies vermute ich, dass sie sich heute, wo sie weiß, was die Schrecken der letzten Monate verursacht hat, mehr an ihn gebunden fühlt als je zuvor.

    Jetzt besteht vielleicht noch eine Chance, ihn zu finden. Sobald er Bangkok verlässt, ist es dafür wahrscheinlich zu spät." Er ließ seine Worte sacken, deutete ein Räuspern an und legte nach:

    „Mein Vorschlag: Sie fahren nach Thailand, tun sich dort acht bis zehn Tage um. Haben Sie ihn gefunden, brauchen Sie mir nur seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Um alles Weitere kümmere ich mich dann persönlich. Pro Tag, von heute an bis zu Ihrer Rückkehr, bieten wir Ihnen tausend Mark plus Spesen. Machen Sie ihn ausfindig, erwarten Sie zehntausend zusätzlich. Als Erfolgsprämie. Dafür müssen Sie bloß ein wenig die Augen aufsperren. Nun? Was sagen Sie?"

    Sein Blick war offen, seine Stimme überraschend warm. Ein Profi, der bei Plädoyers die Herzen der Beisitzer zu rühren verstand, gewohnt, keine lästigen Widerworte zu ernten. Also sagte ich fünfzehnhundert, obwohl ich den Riesen schon ziemlich freigiebig fand. In Anbetracht der Erfolgsaussichten. Wir einigten uns auf dreizehn.

    „Schön, dass Sie es versuchen wollen."

    Er rührte weiter um. Ohne zu trinken. Ich steckte mir noch eine Zigarette ins Gesicht.

    „Was macht Paulsen übrigens beruflich?"

    „Er ist Kraftfahrzeugmechaniker. Beim Hamburger Verkehrsverbund."

    Seine Stimme blieb ganz beiläufig.

    Mein Unterkiefer drohte auf Wanderschaft zu gehen. Kein Automechaniker verdient so viel, dass seine Gattin sich einen Anwalt wie Becker leisten kann. Ohne regelmäßige Lottogewinne oder Nebenerwerb durch Heroinhandel.

    Der Anwalt verzog die Lippen, amüsiert über den Effekt seiner Enthüllung.

    „Ihr Herr Vater unterstützt sie hier und da."

    „Ach so. Der hat?"

    „Ja. Durchaus."

    „Darf ich fragen, wie er heißt?"

    „Friedhelm Stumpke. Herr Dr. Stumpke ist Tierarzt. Unter Züchtern im norddeutschen Raum genießt er einen ausgezeichneten Ruf."

    Ein kleines, dazwischengeschobenes Räuspern. Becker zählte zu den Leuten, die dauernd ihre Zäpfchen reinigen müssen. „Wir sind seit über zwanzig Jahren befreundet. Hier und da fungiere ich als sein Rechtsberater."

    „Daher das Mandat seiner Tochter?"

    Ein knappes Nicken.

    „Sie kam im Januar zu mir. Es ging ihr um die Kinder. Ihr Mann behauptete, sie hätten den Wunsch, bei ihm zu bleiben. Weil er bereits einmal in die Psychiatrie hatte eingeliefert werden müssen, sah ich mich gezwungen, das Familiengericht zu bemühen. Nach einem Gespräch mit ihr und ihrem Gatten Ende Januar habe ich dann noch einmal geschrieben."

    „Wie hat das Gericht entschieden?"

    „Gar nicht."

    Becker gönnte sich ein schmallippiges Lächeln.

    „Ein paar Wochen später zog sie wieder zu ihm."

    Er hatte mir nicht zu viel versprochen. Es klang in der Tat ein wenig komplizierter, als es auf den ersten Blick schien.

    „Wie landete er schließlich in der Klinik?"

    „Indem es so kam, wie es kommen musste. Nach einer Phase vorübergehender Besserung verschlechterte sich sein Zustand wieder. Er war nach wie vor ein sehr kranker Mann."

    Sein Ausatmen kam hörbar. Auf einmal wirkte er ratlos und müde. Gar nicht mehr wie der muntere Macher aus Stahl.

    2

    Kurz vor elf stand ich wieder auf der Straße. In der Brusttasche meines Hemds steckte ein Scheck, in meiner Rechten ein Kurzdossier über Paulsen, das Beckers Bürodame für mich zusammengestellt hatte. Fotos, Passkopien, Biodaten, Vorlieben, soweit bekannt, ein paar Adressen. Es nieselte noch immer. Hamburg zählt zu den optisch gelungensten Städten der Republik. Selbst Tucholsky, der zu lästern verstand, lobte sie mal als die schönste. Aber zu Tuchos Zeiten hatten Bomben und Abrissbirnen noch nicht zugeschlagen. Auch war das Wetter im Zweifelsfall besser. Von Oktober bis April ist Hamburg nass, kalt und grau. Den Rest des Jahres regnet es oft und hartnäckig.

    An der Ecke zur Esplanade stellte ich mich unter, zückte mein Mobiltelefon und versuchte, Christine Paulsen zu erreichen.

    Das Gespräch hatte Fragen aufgeworfen, die nur sie beantworten konnte. Darüber hinaus interessierte mich brennend, warum ihr Herr Vater meinen Ausflug nach Asien sponserte. Es fiepte und summte. Beim dritten Anlauf drang ich durch.

    Da die Telekom nahezu alle öffentlichen Fernsprecher auf Karten umgestellt hat, ohne dass man wie in zivilisierten Ländern parallel mit Münzen telefonieren kann, habe ich kleinbeigegeben und mir zwei tragbare Plastikteile angeschafft. Das wasserscheue ›W 28‹ mit vernickelter Wählscheibe sorgt dafür, dass mein kommunikationsästhetisches Yin und Yang nicht zu allzu sehr aus den Fugen gerät.

    Ich bekam Christine im Haus ihrer Eltern zu fassen. Sie druckste verschreckt, dass es ihr gerade nicht so gut passe.

    Also nagelte ich sie auf ein kurzes Treffen fest und killte die Verbindung, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

    Stumpkes wohnten in einem Dorf bei Bad Bramstedt. Fünfzig Minuten später knirschten die Pneus meines zwanzig Jahre alten, speigelben ›Lada‹ über die Kieseleinfahrt einer zweistöckigen, reetgedeckten Villa, die zwischen sauber geschorenem Rasen und respektheischenden Buchen kauerte. Großzügige Fenster lockerten die Fronten auf. Vor dem Eingang trat man auf handgefertigte Terrakotta. Ein winterkahler Rosenstock umrankte die halbrunde, in Enzianblau und Ultramarin abgesetzte Flügeltür. Als ich den löwenköpfigen Klopfer lüftete, unter dem sich die Klingel verbarg, öffnete eine appetitliche Rothaarige von etwa achtzehn. Ihr neckischer Dirndldress hätte gut in den ›Musikantenstadl‹ gepasst. Ich sagte mein Sprüchlein auf.

    „Bitte treten Sie näher, sagte sie, einen Knicks andeutend. „Frau Stumpke erwartet Sie bereits.

    Vielleicht hieß Christine Paulsen in diesem Haus noch immer Stumpke. Oder schon wieder. Ich folgte dem Dirndl durch die Diele ins Wohnzimmer.

    „Die Damen werden gleich hier sein."

    An den Wänden unter der altersgeschwärzten Balkendecke prangten Ölschinken und Jagdtrophäen. Perserteppiche luden zum Barfußlaufen und Bodenturnen ein. Trotzdem wirkte der Raum weder überladen noch düster. Die meisten Backsteine an den Querseiten waren durch Klarglas ersetzt, so dass der Blick ins Freie fliehen konnte. Man übersah die Terrasse, den Pool und zwei kleinere Gebäude.

    Das Interieur hielt dem zweiten Blick stand. Nicht immer schön, aber echt. En face des Entrees hockte eine Aussteuertruhe mit schmiedeeisernen Beschlägen, rechts daneben, als Pendant, ein Bauernschrank. Den gekachelten Kamin belauerte eine lederne Sitzgruppe. Zwischen Waffenschrank und Büchergalerie an der Stirnseite des Zimmers stand ein Spieltisch aus Mahagoni, darüber glotzte ein geköpfter Eber ins Leere. Auf dem Biedermeier-Sekretär standen Fotografien, die einen dunkellockigen Schnauzbart in Waidmannskluft hinter Rebhühnern und Fasanen zeigten. Offenbar Stumpke. Er besaß die Sorte Männergesicht, das kaum altert. Einer der Abzüge hielt ihn neben vier toten Damhirschen und einem breit lächelnden Uwe Barschel fest. Das Bild stammte aus Tagen, als Uwe noch den Kieler Ministerpräsidenten gab, Oppositionspolitiker abhörte und Blaupausen für U-Boote nach Südafrika verschob. Lange bevor ihm die famosen Ehrenworte ausgingen und er in der Wanne des ›Beau Rivage‹ sein letztes Bad nahm. Obwohl Barschels feuchter Abgang nun schon fast neun Jahre zurück lag, schien Stumpke auf späteren Ablichtungen keine Spur grauer geworden zu sein. Ein Familienportrait inszenierte den Nimrod als Patriarchen, umringt von festlich gewandeten Kindern und Enkeln. Alle außer ihm standen, obgleich er ohnehin das Zentrum beherrschte. Er saß in einem Korbsessel, die Beine übergeschlagen, und spielte mit einem Whiskyglas. Die übrigen schwenkten Sektkelche und guckten angestrengt fröhlich. Ich vermisste eine Frau seines Alters, doch in der letzten Reihe entdeckte ich Paulsen, unsicher grinsend, halb verdeckt von einer blonden Mittzwanzigerin, die ein Kleinkind in die Kamera reckte. Da klappte die Tür. Ich setzte das Bild ab, drehte mich um.

    Und schluckte.

    Ein wallender Fesselballon aus altrosa Rüschen wogte auf mich zu. Über dem wuchtigen Rumpf wirkte der halslose Kopf wie aufgepfropft. Mund und Nase ertranken zwischen Fleischwülsten, blassblaue Augen trieften hinter Tränensäcken, grotesk getönte Löckchen waren an die grobporige Stirn geklatscht. Es roch, als habe sie in Lavendelessenz gebadet. „Ich bin Gerda Stumpke. Meine Tochter wird in ein paar Minuten unten sein..."

    Obwohl sie sich um ein Lächeln bemühte, strahlte sie etwa so viel Liebreiz ab wie ein Pitbull.

    „Ich dachte, Becker habe Sie über alles informiert?"

    Ich zerrte meine widerspenstigen Mundwinkel nach oben.

    „Erfahrungsgemäß sind die Erfolgsaussichten besser, wenn man die Details mit den Angehörigen klärt."

    „Schon gut. Wir zahlen ja schließlich dafür."

    Damit wandte sie sich ab und rollte auf einen der Sessel vor dem Kamin zu. Ich nahm ihr gegenüber Platz.

    „Hübsch haben Sie's hier", versuchte ich.

    „Wir brauchen ein großes Haus. Wegen der Kinder."

    „War die junge Dame vorhin an der Tür..."

    „Corinna macht bei uns bloß ihr praktisches Jahr."

    „Ach ja? Sie bilden aus?"

    Ihr Vorbau schwoll an.

    „Zur Hauswirtschafterin. Dies Jahr haben wir zwei Mädels. Letztes hatten wir drei. Normalerweise bekommt man nur eine, aber ich sage immer, in Zeiten, wo den jungen Menschen die Orientierung fehlt, müssen wir alle unser Bestes tun. Deshalb gebe ich mehreren eine Chance. Platz ist genug."

    Das Doppelkinn bebte.

    „Sparsamkeit, Fleiß und Disziplin, das sind die Tugenden einer erfolgreichen Hausfrau. Nicht zu vergessen Pünktlichkeit. Solche Begriffe kennen die jungen Dinger heute ja gar nicht mehr. Wir haben hier schon welche gehabt, die waren noch

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