Stör die feinen Leute nicht: Krimi
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Die norddeutsche Kleinstadt Bramme wird von einer Clique um den Unternehmer Günther Buth beherrscht. Als Katja Marciniak aus Berlin nach Bramme zurückkehrt, will sie nicht nur ihre Diplomarbeit abschließen: Sie möchte auch ihren Vater finden – den Mann, der einst ihre Mutter vergewaltigt hat und den sie bisher nicht finden konnte. Gehört ihr Vater zu den „feinen Leuten“ Brammes? Als Katja die ersten Fragen stellt, begibt sie sich in größte Gefahr – neugierige Außenseiter sind in Bramme nicht gern gesehen...
Der absolute Krimi-Klassiker von –KY: jetzt erstmals als eBook erhältlich!
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Stör die feinen Leute nicht - Horst (-ky) Bosetzky
Die Hauptpersonen
Die GROSSMUTTER hat gesagt: »Geh nicht nach Bramme!« und ist gestorben – eines natürlichen Todes übrigens, obgleich dies ein Kriminalroman ist.
KATJA MARCINIAK: geht trotzdem auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und merkt, dass dies in der Tat mit Risiken verbunden ist.
KARL-HEINZ MAGERKORT: wird aus undurchsichtigen Gründen gewaltsam an der Berufsausübung gehindert und treibt, wie sich dann herausstellt, selber Undurchsichtiges.
HELMUT LEMMERMANN: lebt vom Sex, kommt jedoch für die Vaterschaft nicht in Frage und fliegt in die Luft.
GÜNTHER BUTH: benimmt sich seit Jahrzehnten erfolgreich wie eine Kreuzung zwischen Ludwig XIV und einer Dampfwalze.
HANS-DIETER TREY: hat im rechten Moment eine Pistole in der Hand, jedoch im falschen Moment die Nase voll.
JENS-UWE WÄTJEN: bemüht sich, im gesunden Körper den gesunden Geist zu fördern und zugleich seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.
CARSTEN CORZELIUS: schreibt für die Zeitung, aber die druckt‘s dann nicht immer.
BERNHARDA BEHRENS: verfügt über den Charme eines schweren Granatwerfers und macht Gebrauch davon.
KOMMISSAR KÄMENA: ist restlos überfordert – als Mensch wie als Beamter. Aber dazu braucht's nicht viel.
1
Noch dreizehn Kilometer bis Bramme. Katja gähnte. Schnurgerade lief die asphaltierte Straße durch das Moor. Dünne Birken säumten sie. Dahinter Wiesen, Gräben, Morast. Überall schwarz-weiße Kühe, ab und an ein Pferd. Finnisch-blauer Himmel, weiße Zirruswölkchen. Wieder ein Weiler. Katja nahm den Fuß vom Gaspedal. Moorhausen. Ein halbes Dutzend Gehöfte, ein Gasthaus, verwitterter Backstein. Links ein grauer Wirtschaftsweg, ein Traktor; sie huschte vorüber.
Noch zehn Kilometer bis Bramme. Vorn im bläulichen Dunst ein Geestrücken mit einem rot-weißen Fernsehturm. Ob sie in der Pension fernsehen konnte? Wenigstens Dick und Doof und Buster Keaton. Ein gelb-roter Linienbus; sie zog ihren Karmann Ghia nach rechts auf den Seitenstreifen hinüber. BVB – Brammer Verkehrs-Betriebe. Ein paar großflächige Gesichter, Schulkinder. Ein Engpass, eine Brücke, unten ein jauchebrauner Fluss – die Bramme.
Bramme. Man musste die Lippen ein wenig nach vorne schieben, aufeinander pressen und im gleichen Augenblick, während die Zunge im Mundraum zuckte, mit einem gewissen Schmatzlaut wieder voneinander lösen, um im Bruchteil einer Sekunde ein winziges Quantum Luft auszustoßen und dann die letzte Silbe geradezu hinauszuschleudern. Bramme. Bramme. Es klang bäurisch und solide, schmeckte irgendwie nach Milch, Sahne und Quark. Und in diesem Drecknest war sie nun geboren worden.
Katja Marciniak, geboren am 15. April 1950 in Bramme.
Ausgerechnet Bramme. Biebusch hätte seine Untersuchung weiß Gott auch woanders durchführen können. Die Auswahl war ja groß genug gewesen: Castrop-Rauxel, Erlangen, Gladbeck, Hamm, Pforzheim, Wolfsburg und Wattenscheid. Aber Biebusch hatte sich für Bramme entschieden. Aus gutem Grund, wie er meinte, denn ein guter Freund von ihm – neuerdings wieder ein guter Freund – war derzeit Bürgermeister von Bramme.
Katja kannte es schon auswendig: Bramme an der Bramme, Stadt in Niedersachsen, mit (1965) 81300 Einwohnern. Es hat ein Amtsgericht, höhere und Berufsfachschulen, Freilichttheater, Heimatmuseum, Industrie: Maschinen, Bekleidung, Nährmittel, Möbel, Fertighäuser.
Vor zwölf Stunden war sie noch den Kurfürstendamm, hinuntergeschlendert und hatte anschließend in der Vollen Pulle am Steinplatz Abschied gefeiert. Gefeiert? Der Beaujolais hatte sie eher melancholisch gemacht.
Mensch, nun jammere bloß nicht so viel!
Sei du mal zu sieben Monaten Bramme verurteilt!
Hat dich ja keiner gezwungen, deine Diplomarbeit bei Biebusch zu schreiben.
Ach, geh! Zweihundert Abende in Bramme - ich langweil mich jetzt schon. Da ist doch nichts los.
Habense da nich neulich einen ermordet – so von hinten im Park ... ?
Das war in Bremen.
Ach so ... Na, was nich is, kann noch werden. Vielleicht ermorden se dich – haste mal endlich 'n echtes Neuheitserlebnis.
Hör auf!
Weißte schon, wo de wohnst?
Irgendwo. Ich lass mal von mir hören.
Tu das.
Noch sieben Kilometer bis Bramme. Ein weinroter Volkswagen kam ihr entgegen. Endlich mal ein Mensch. Im Rasthaus vorhin hatten sie ihr diese sogenannte Ortsverbindungsstraße empfohlen.
Ein kleiner Umweg, Fräulein, aber landschaftlich sehr reizvoll.
Ein kleines Gehölz, wuchernde Büsche. Eigentlich hätte man schon was von Bramme sehen können müssen. Vielleicht gab's das Nest gar nicht. Schön wär's!
Sie fummelte sich einen Sahnebonbon aus dem Papier und steckte ihn in den Mund. Die armen Zähne. Sie hörte ihre Großmutter: Kind, lass diese verdammten Plombenzieher!
Nun war sie schon seit sechs Wochen tot. Verbrannt - nee, eingeäschert ... Sie sah den massigen Stein aus schwedischem Granit. Drei Namen nun schon:
OSKAR MARCINIAK
*3.5.1887 † 12.7.1944
HELENE MARCINIAK
*15.11.1895 † 10.5.1972
MARIANNE MARCINIAK
*3.2.1930 † 28.4.1957
War nur noch Platz für einen Namen. Für ihren.
Sie stieß die Luft aus der Lunge. Sechs Stunden Fahrt, über vierhundert Kilometer schon. Und nur zweimal angehalten. Ihr Rücken schmerzte. Na, bald war's ja geschafft. Nur mal zehn Minuten ausgestreckt auf einem Bett liegen. Zum Mittagessen war sie schon wieder mit Biebusch verabredet.
Was würden die braven Brammer Bürger sagen, wenn da plötzlich vier Soziologen auftauchten und ihre Stadt auseinandernahmen? Das roch ja nach Revolution. Einen Empfang wie für einen Olympiasieger gab's bestimmt nicht.
Katja bremste unwillkürlich. Sie hatte auf einmal Angst vor Bramme, Angst vor dem Ungewissen. Sie war allein, sie war jung, sie war hübsch. Und dann Bramme. Ungehobelte, gierige Bauern! Sie hätte absagen sollen. Es gab schließlich noch andere Themen für eine Diplomarbeit.
Sie sah ihre Großmutter. Hohlwangig, ausgemergelt im Sterbezimmer des Hospitals.
Was sagst du, Kind? Wo willst du hin?
Nach Bramme.
Bramme?
Ja, ich muss. Sonst...
Geh nicht hin.
Wieso?
Die Stadt mag uns nicht. Sie hasst uns.
Ach, das gibt's doch nicht! Eine Stadt – das ist doch kein einzelnes Wesen, das ist doch ganz was anderes - Steine, Häuser, Straßen. Was soll uns da hassen?
Alles. Einfach alles. Das ist wie ein Körper – der stößt alles ab, was nicht zu ihm passt. Wir sind damals zum zweiten Mal geflüchtet. Bramme und Marciniak, das geht nicht.
Ich will ja nicht für immer hin.
Trotzdem. Bleib hier.
Ich muss endlich meine Diplomarbeit anfangen.
Ich bitte dich!
Keine Angst, ich besuch dich ja regelmäßig.
Bis dahin ... Ich hab solche Angst um dich! Fahr überall hin, aber nicht nach Bramme!
Warum denn nicht, in Gottes Namen?
Hol die Schwester, bitte – schnell!
Das war am Sonntag, am Mittwoch war sie gestorben. Sanft entschlafen, hatte die Stationsschwester gesagt... Katja hatte vorher noch einmal mit ihr gesprochen, am Dienstag zur üblichen Zeit, aber nicht gewagt, die Stadt zu erwähnen. Wirre Assoziationen einer Sterbenden. Alles Humbug.
Es ging ein wenig bergauf. Die Landschaft veränderte sich. Ein lichter Kiefernwald, ein Nichts gegen den Grunewald, einige mit Heidekraut überzogene Lichtungen, hin und wieder ein Wacholderbusch. Offensichtlich ein Flugsandgebiet; eine Düne, im Laufe der Jahrtausende aus der Niederung ausgeweht.
Nach einer scharfen Linkskurve konnte sie auf die Stadt hinuntersehen. Ein Meer aus ziegelroten Dächern und darin wie Klippen die Türme. Rathaus, Polizeihaus, Bahnhof, Postamt und Matthäikirche. Sie hatte zu Hause den Stadtplan studiert. Zwischen den Klippen die Hochhäuser, Quader, wie riesige Eisberge. Im Südwesten eine Trabantenstadt, alles rote Backsteinburgen. Das konnte Barkhausen sein. Links vom Bahnhof das Industriegelände. Am höchsten Schornstein stand vertikal ein Firmenname: BUTH KG. Zwei Hubschrauber zogen vorbei. Nicht die Spur einer Dunstglocke. Sie kam auf die Bundesstraße, passierte das Ortsschild, war nun wirklich in Bramme.
Sie registrierte wider Erwarten eine gewisse Fröhlichkeit, fast einen Rauschzustand. So erstaunlich es war, die Stadt gefiel ihr auf einmal. Endlich raus aus der Steinwüste, keine Mauer mehr, kein Todesstreifen, kein Stacheldraht. Eine Stadt wie aus dem Märchenbuch, sauber, übersichtlich, harmonisch, von einer herben Schönheit, besonders wenn die Sonne schien. Noch ein Hauch Mittelalter ... Katja fühlte sich beschwingt; übermütig variierte sie Mörike:
Und welch Gefühl entzückter Stärke,
Indem mein Sinn sich frisch nach Bramme lenkt.
Vom ersten Mark des heutgen Tags getränkt.
Fühl ich mir Mut zu meinem wissenschaftlich Werke.
Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht.
Der Genius jauchzt in mir ...
Über Mörike hatte sie ihren Abituraufsatz geschrieben. Eduard Mörike, 1804-1875, An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang. Nun, es war Sommer und fast schon Mittag, aber dennoch ... Mörike – das hörte sich nach Möhre an; doch Möhren hießen hier in Bramme Wurzeln. Das wusste sie von Biebusch, der aus dieser Gegend kam.
Sie merkte, dass sie ein bisschen überdreht war. Die Feier gestern, die Kontrollen, die Fahrt. Und man konnte ja nicht jeden Tag Valium oder Librium schlucken.
Sie näherte sich der Innenstadt. Der Verkehr wurde dichter. Die ersten Geschäftsstraßen; doch auch hier auffallend niedrige Häuser. Offensichtlich hatte man früher wegen des morastigen Untergrundes nicht höher bauen können.
Irgendwo links musste jetzt die Knochenhauergasse abgehen, das hatte sie sich vorhin im Rasthaus an Hand eines alten Stadtplans eingeprägt. Biebusch hatte ihn bei seinen ersten Kontaktgesprächen mitgehen lassen. Brammenmoorer Heerstraße bis über den Fluss, dann links, Pension Meyerdierks, Knochenhauergasse 11. Aber sie sah nicht viel, denn vor ihr bummelte ein blauer Lieferwagen vom Brammer Tageblatt die Straße entlang.
Da – der wilhelminische Backsteinkasten der Stadtbibliothek; ihr nächster Orientierungspunkt. Nicht zu glauben; es gab also tatsächlich schon Brammer, die richtig lesen konnten. Wie sie Biebusch kannte, hatte er schon in den Karteikästen nachgesehen, ob sie seine Werke angeschafft hatten. Das machte er in jeder Buchhandlung und jeder Bibliothek, die er entdeckte. Prof. Dr Bernhard Biebusch, Grundlegende Probleme der sozialwissenschaftlichen Methodologie, Berlin 1969, 335 Seiten, 35,80 DM.
Hinter der Bibliothek der Fluss. Nicht viel breiter als die Spree an der Kongresshalle. Zwei Jungen paddelten in einem gelben Schlauchboot zum Anleger hinüber. Eine schöne Brühe. Ob man noch darin baden konnte?
Gleich hinter der Brücke auf der linken Seite, in die Wallanlagen hineinragend, das Harm-Clüver-Theater, die bekannte Freilichtbühne. Das Repertoire? Sicherlich nur Niederdeutsches wie De hillige Grootmudder oder so. Höchstens noch Im Weißen Rössl. Auf Plattdeutsch vermutlich.
Und nun zweihundert Tage in Bramme. Besuchen Sie Bramme – wir garantieren Ihnen ungestörte Langeweile. Vergessen Sie Ihren Stress, werden Sie stumpfsinnig. Blieb nur die Arbeit. Biebusch würde sich freuen. Außer einer Eins-Minus für die Diplomarbeit war von Bramme nicht viel zu erwarten. Oder? Höchstens mal ein Ausflug nach Bremen oder Worpswede, vielleicht noch Hamburg. Den Mann fürs Leben ganz bestimmt nicht. Wenn sie die Brammer Burschen so sah, klobig, brav und bieder, war nicht mal an eine gelegentliche Befriedigung kreatürlicher Bedürfnisse zu denken ... Oder? Vielleicht war's mit denen gerade reizvoll?
Verdammt, nun hatte sie sich falsch eingeordnet! Da lag linkerhand die Knochenhauergasse in voller Schönheit, aber sie durfte nicht nach links abbiegen. Was blieb ihr weiter übrig, als geradeaus weiterzufahren. Bis zum Bahnhof ging es noch; dann hatte sie vollends die Orientierung verloren. Bramme als Labyrinth, es war nicht zu fassen. Sie rollte auf eine Tankstelle zu und hielt.
»Bitte voll tanken.« Nur so zu fragen, war ihr peinlich.
»Für Sie tu ich alles!«
Schon der erste Brammer flirtete mit ihr. Na bitte. Aber kein Wunder, wenn sie sich die Brammer Mädchen ansah. Im Normfall offenbar drall, rosig und provinziell, nach dem zu urteilen, was sie bisher gesehen hatte. Und die Kleidung erst, langweilig und trist. Da war sie als Einäugige ja Königin. Wie die Monteure drüben an der Hebebühne sie anstarrten ... Das konnte ja heiter werden.
Der Tankwart, blond und blauäugig, erklärte ihr den Weg zur Knochenhauergasse. Es ging so umständlich und schleppend, dass sie's gleich kapierte. Er hatte ihr Berliner Nummernschild gesehen und wollte ihr mal die Stadt zeigen. Am besten abends.
»Ich komme öfter hier vorbei ...«
Sie fuhr weiter, landete, von den vielen Einbahnstraßen verwirrt, am Wallgraben und fand dann schließlich doch irgendwie zur Brammermoorer Heerstraße zurück. Endlich entdeckte sie den burgähnlichen Koloss des Albert-Schweitzer-Gymnasiums, wie ihn der freundliche Tankwart beschrieben hatte, und dahinter tatsächlich die Knochenhauergasse. Knochenhauer ... Man hörte es direkt krachen. Da war auch die Kirchgasse und gegenüber das Hotel Stadtwaage mit dem großen Parkplatz.
Als sie anhielt, erklang gegenüber das helle Glockenspiel der Matthäikirche. Wenn das keine Begrüßung war!
Katja stieg aus und betrachtete über ihren Wagen hinweg die Pension Meyerdierks. Ein Brammer Bürgerhaus, schmal und zweistöckig, zwischen anderen Brammer Bürgerhäusern. Eine ockerfarbene Backsteinfassade, alle Begrenzungen und Öffnungen eingefasst von grau getünchten Quadern, über jedem Fenster ein Parthenonfries im Kleinen, unter der Dachrinne eine Zierleiste mit Blätterornamentik, griechisch Kymation, über dem Eingang ein Architrav, getragen von korinthischen Säulen mit einem Kapitell aus verschmutztem Stuck. Katja freute sich, dass sie im Kunstunterricht zufällig mal was fürs Leben gelernt hatte.
So ein Haus müsste man haben, dachte sie, und dann vermieten. Zwei Familien, 700 Mark Miete im Monat... Sie lächelte. Rudimente kleinbürgerlichen Bewusstseins bei einer progressiven Soziologin.
Wenn man genauer hinsah, machte die Knochenhauergasse schon einen etwas schäbigen Eindruck. Schäbige Eleganz. Wie ein Geigenvirtuose, der früher mal in den Konzertsälen die feinen Leute unterhalten hat und nun im abgewetzten Frack in Altersheimen spielt ... Zwei, drei Häuser waren schon abgerissen worden. Da parkten jetzt Autos. Nächste Assoziation: Wie das Gebiss einer alternden Dame – gelbliche Zähne und etliche Lücken. Katja fuhr mit der Zunge den Oberkiefer entlang. Zwei Kronen, einige Plomben. Hoffentlich blieb es ihr erspart, hier in Bramme zum Zahnarzt zu müssen. Die hatten vielleicht noch Bohrgeräte mit Fußantrieb.
Zwei alte Damen kamen vorüber, schlurften, tasteten mit den Schuhspitzen erst die Steine ab, ehe sie den nächsten Schritt wagten. Wie mochten sie vor 22 Jahren ausgesehen haben? Katja mühte sich um ein passendes Bild. Die eine sah nach Hebamme aus. Dick, mütterlich, resolut. Vielleicht war sie bei Katjas Geburt dabei gewesen? Oder hatte ihr, als Nachbarin vielleicht, eine Puppe geschenkt? Wieder in der Heimat ... Katja genoss ihre sentimentalen Gefühle. Wie viele Soziologen, die Tag für Tag die Welt sezieren müssen, liebte sie insgeheim die heile Welt mit ihren Schnulzen.
Sie nahm ihren Koffer hoch, war irgendwie erstaunt, dass noch immer kein Pferdefuhrwerk vorüberrasselte, und ging auf die Pension zu. Die Fenster alle geschlossen, ein bisschen ergraute Gardinen dahinter. Keine Blumen. Kein Mensch zu sehen. Verdammtes Kopfsteinpflaster! Sie knickte dauernd um, mal war's der linke Fuß, mal der rechte. Brammer Montmartre. Es roch nach Urin. Sie schwitzte ein wenig.
Eine Treppe mit fünf ausgetretenen Stufen. Auf einer kleinen Milchglasscheibe stand das Wort Nachtglocke. Dahinter brannte noch immer die schwache Glühbirne. Man sah's deutlich, denn Sonnenschein gab's hier nicht. Katja drückte auf den Klingelknopf. Sekunden später stand Frau Meyerdierks in der Tür.
Eine waschechte Rubens-Figur. Katja hatte im vorigen Jahr im Prado den Bauerntanz von Rubens gesehen, da war ihr Frau Meyerdierks zum ersten Mal begegnet. Sie kam ihr jedenfalls außerordentlich