Der gefangene Sommer
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Über dieses E-Book
Christoph Steckelbruck hat einen Entwicklungsroman geschrieben, so poetisch wie realistisch, eine lichtvolle Erinnerung an die Romantik – und an die Musik von Pink Floyd.
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Der gefangene Sommer - Christoph Steckelbruck
Impressum
When the fat old sun in the sky is falling
Summer evenin’ birds are calling
Summer’s thunder time of year
The sound of music in my ears
Distant bells, new mown grass
Smells so sweet
By the river holding hands
Roll me up and lay me down
Pink Floyd, Fat old sun
Tante Tutta
Tante Gertrud kam am Dreikönigstag des Jahres 1908 als erste von drei Töchtern auf die Welt. Ihre drei Jahre später geborene Schwester Anna konnte, als sie noch klein war, den Namen Gertrud nicht aussprechen und machte Tutta daraus. So kam Tante Tutta zu dem bis zu ihrem Tod und darüber hinaus gültigen Namen. Der Vater, ein stämmiger Bierfahrer mit Herz, doch ohne Verstand, machte sich im allgemeinen Hurra-Geschrei auf in den Ersten Weltkrieg und kam nicht wieder. Eine Wolke Chlorgas, die ein Trupp in einigen hundert Metern Entfernung auf die Reise geschickt hatte, kam postwendend mit drehendem Wind zurück und erwischte ihn und zwölf Mann gerade beim Frühstück. Tutta als Älteste musste die Erziehung der beiden jüngeren Geschwister übernehmen, während die Mutter in einer Fabrik für Soldatenbekleidung den Lebensunterhalt verdiente. Später, nach dem Krieg, als Soldatenkleidung nicht mehr gefragt war, nähten Töchter und Mutter in Heimarbeit Herrenwesten zum Stücklohn von zwanzig Pfennigen und kamen so gerade über die Runden.
Obwohl Tutta im Gegensatz zu ihren Schwestern keine Schönheit war, traten doch hin und wieder interessierte Burschen auf. Doch so oft geschniegelte Kerle mit Blumen und Pralinen vorstellig wurden, wimmelte die Mutter sie ab und erstickte ihre Hoffnungen im Keim. Da der Mann im Haus fehlte, sollte es das Schicksal der Ältesten sein, die Mutter bis zu ihrem Tod zu versorgen. Und da Tutta nie etwas von den interessierten Herren erfuhr und sich selbst für ein hässliches Trampeltier hielt, darin von Mutter und Schwestern bestärkt und schon mit einem passend albernen Namen versehen, sah sie in dieser vorbestimmten Zukunft auch für sich einen sicheren Hafen und verbuchte die List der Mutter als Gnade. So nahm sie den Posten des Aschenputtels dankbar hin. Bald heirateten die Schwestern und verließen das elterliche Haus. Und wenn sie dann einmal zu Besuch kamen, war das jedes Mal ein großes Hallo und wie lieb die Kinder doch waren. Nur Tutta, die den ganzen Laden schmiss, die kochte und putzte, wusch und bügelte und nebenher in jetzt echter Meisterschaft zuschnitt und nähte, die kranke Mutter aufopfernd pflegte, erntete keinen Dank, kein Lob und erst recht keinen Lohn, sah man einmal von dem in Aussicht gestellten himmlischen ab.
Einmal aber war auch Tutta verliebt. Um 1940 herum quartierten sich drei Soldaten aus dem fernen Bayern im Haus ein. Die warteten auf ihren Einsatz an der Westfront und zeigten sich recht lustig und fidel. Vor allem der Rudolf besaß bajuwarischen Charme und trug das Herz am rechten Fleck. Er machte Tutta echte Avancen. Die Mutter sah es nicht gern, hatte aber Respekt vor der Uniform der Landser und konnte sie auch schlecht fortschicken, da sie ja schon im Haus wohnten. So kam es, dass Tutta eines Morgens ein solch seliges Lächeln vor sich her trug, dass der Mutter Angst und Bange wurde. Der Rudolf aber zog in den Krieg und kam zu ihrer Erleichterung nicht wieder.
Als die Mutter kurz vor dem Ende des Krieges starb, erbte die Anna das Haus. Die hatte bereits zwei Kinder und einen Mann. Was sollte Tutta, die ohnehin nie einen abbekommen würde, denn mit einem Haus anfangen? Die andere Schwester verschwand schon vor dem Krieg, brannte durch, ohne Scheidung von ihrem Willy, mit einem halbseidenen Menschen mit möglicherweise jüdischen Wurzeln und hielt sich angeblich in Amerika auf. Man wusste aber nichts Genaues. Tutta erhielt immerhin ein lebenslanges Wohnrecht hinten im Anbau, wo ihr Nähzimmer lag. Anna zog ein mit Mann und zwei Kindern und Tutta putzte, kochte und nähte weiter wie zuvor.
Als der Krieg zu Ende war, da nähte Tutta für das ganze Karree und darüber hinaus. Sie versorgte das halbe Viertel mit billigen, aber feingenähten Hemden, Hosen, Mänteln für die Damen und Jacken für die Herren. Man brachte ihr Fallschirmseide und alte Wehrmachtsmäntel und sie zauberte Besonderes daraus.
Die Gegenleistung bestand zumeist in Naturalien, Kohlen und Feuerholz, Mehl, Speck, Gemüse und Schnaps. Gerne teilte sie diese Schätze mit Schwester und Schwager, behielt eigentlich nichts davon für sich und war zufrieden, ihren Teil beizutragen. Das war ihre große Zeit. Da war sie jemand, von allen hofiert und geachtet. Als dann aber die Kaufhäuser wieder aufgebaut waren und voller Kleidung lagen, da ging Tuttas große Zeit zu Ende und sie versank hinten im Anbau, der ganz früher einmal ein Hühnerstall gewesen, zwischen all den Stoffresten, der großen Singer-Nähmaschine, dem Bügelbrett, dem Nordmende Röhrenradio Parsifal 59, dem ewig tickenden Regulator, dem unvermeidlichen Holz-Jesus an der Wand über der Tür, geschmückt mit staubig vertrockneten Palmwedeln, Hosianna, unglaubhaft dargestellt von Buchsbaumzweiglein.
So lernte Anton sie kennen. Sie lebte in seiner Erinnerung als Bohnen entfädelnde, Kartoffel schälende und Möhren reibende, kittelbeschürzte Person, mit Knoten im Haar und Brillengläsern, die ihre Augen um ein Vielfaches vergrößerten. In ihrem rechten Auge wohnte ein sporadisches Zucken und Zwinkern. Tante Tutta sah aus wie Leonid Breschnew und besaß auch sonst den russisch schweren, sehnsuchtsvollen Charakter einer alten Bärin von der Halbinsel Kamtschatka. Ihre Stimme brummte tief und ein nicht zu verleugnender Bartwuchs zierte Hängewangen und Oberlippe. Sie roch nach Kartoffelkeller und Erde. Eine dicke Warze neben dem rechten Nasenflügel verlieh dem Bild seine Vollständigkeit, die ihm nach all den Jahren zustand.
Inzwischen war Tante Tutta ganz dem katholischen Glauben zugetan. Er gab ihr Trost in einer für sie trostlosen Welt. Seine gewaltige Bildhaftigkeit war ihr Stecken und Stab. Ihr schmales Einkommen verdiente sie mit der Näherei, aber ihr Seelenheil erwarb sie mit dem Dienst an ihrem Herrgott. Daher wankte sie jeden ersten Donnerstag im Monat durch die Gemeinde und verteilte ein christliches Organ namens Werk Gottes. Sie schwankte wirklich wie ein großes Schiff langsam von einer Seite auf die andere. Dabei zog sie einen kleinen, aber schwer mit Zeitschriften beladenen, kunstlederroten Trolley hinter sich her, und immer auch Anton im Schlepptau. Es gab viel zu verteilen, denn der Vertreter dieses erbaulichen Blattes hatte es verstanden, der ganzen Gemeinde es als edel und gut zu verkaufen, diese Stimme des Christentums zu abonnieren. Die paar Mark konnte man ja wohl erübrigen und zwanzig Pfennige gingen ja auch ans Missionswerk zu den armen Negern. Tante Tutta hatte etwa sechzig Adressen abzulaufen. Auch musste sie einmal im Quartal das Geld kassieren, und zwar im Voraus. Oft wurde dann die Tür nicht gerne geöffnet, so dass mehrere Anläufe nötig waren, bis die Münzen im Beutel klingelten. Und das alles für Gottes Lohn und nicht mal für einen feuchten Händedruck.
Anton erzählte sie gerne von den Wunderdingen dieser Welt, ihrer Welt, die der Keimzelle des Nähzimmers entsprang. Am liebsten von der Hölle und dem Teufel, diesem unheimlichen Spaßmacher. Mit ihrer tiefen Stimme malte sie ihm viele seltsame Geschichten aus. So lebte in der alten Regulatoruhr angeblich ein kleiner Mann, der zu voller und halber Stunde die Glocke schlug. Und manchmal, wenn ein Mondenstrahl die alte Uhr traf, trat der kleine Mann hervor und flog auf dem Silberstrahl zum Fenster hinaus. Denn immer bei Vollmond genoss er seinen freien Abend und die Uhr schlug dann auch wahrhaftig nicht. Ihre riesigen gläsernen Augen duldeten keinen Zweifel und Anton glaubte alles offenen Mundes.
Da war der Mond, der ihnen immer hinterherlief. Der Mond sei ja in Wirklichkeit ein großes Guckloch aus dem Himmel. Da schaue dann der Herr auf das Menschengewimmel herab und beobachte die Sünder bei ihrem Tun. Und wenn der hinter einem herliefe, der Mond, dann könne man sicher sein, gerade in diesem Moment ganz genau unter die Lupe genommen zu werden. Sehr plausibel erschien es Anton auch, dass der Mond so hell scheine, weil das Himmelslicht daraus hervorleuchte.
Auch Kirchtürme und Industriekamine am Horizont begleiteten ihren Gang wie ferne Riesen und Antons bemächtigte sich ein mulmiges Gefühl. Denn kehrten sie einmal um, so änderten auch die dunklen Lulatsche ihre Richtung.
Wenn hinter dem Wald ein lautes Tuten erklang, so kam es von dem großen Himmelsdampfer, der die guten Seelen von den Friedhöfen aufsammelte, damit sie zur Rechten des Herrn sitzen konnten. Wer genau hinhörte, vernahm die Gesänge der Erlösten und das bittere Geheul jener, deren Seelen von den vielen Sünden zu schwer wogen für den Transport in den Himmel. Anton wusste zwar, dass hinter dem Friedhof der Güterbahnhof lag und das Tuten von den Lokomotiven kam, aber er hatte kein Problem damit, beide Versionen der Wirklichkeit unter einen Hut zu bringen.
Und da gab es die Geschichte vom gefangenen Sommer.
Sie entstand an einem klaren Tag Ende Oktober. Etwa um halb sechs schob sich die Tag-Nacht-Grenze wie eine mit dem Lineal gezogene graublaue Wolkenfront von Osten kommend über den Horizont, während die Sonne dem westlichen Rand der Welt entgegensinkend nicht einmal rot wurde. So klar war die Luft. Tante Tutta wankte voraus, Anton zog mit gleicher Krängung hinterher. Wie jedes Mal näherten sie sich einem kleinen Waldstück und dem Ende ihrer Tour. Hier stand, umgeben von einer übermannshohen Hecke, einsam das ehemalige Försterhaus, das nun, unsichtbar in dunkelgrüner Tiefe hinter einem schmiedeeisernen Tor verborgen, von einem Zauberer bewohnt wurde. So jedenfalls behauptete Tutta. Dieser gehöre aber ganz sicher zu den guten Zauberern, wie sie jedes Mal bekräftigte. Sie gingen ein Stück morastigen Weges in den Wald hinein, steckten ihre Ware in einen dafür vorgesehenen Metallzylinder, auf dem Zeitschriften stand, und machten sich wieder auf den Rückweg. Die Sonne versteckte sich bereits hinter einer Häuserreihe und schickte ihre letzten Strahlen gegen die graue, jetzt fast schwarze Front des Abends und entzündete gelbrotes Feuer an ihrem Rand. Die noch voll belaubten Baumkronen erstrahlten in warmem Orange. Zwischen den Baumstämmen aber sammelte sich schon die Schwärze wie eine Flüssigkeit und sog sich so schnell an den Stämmen hinauf wie schwarze Tinte auf Löschpapier. Plötzlich sah Anton ein Licht tief im Wald, ein rötliches Schimmern, das, je finsterer es wurde, immer stärker aufflackerte. Die unteren Blätter der Bäume flimmerten in seltsamer Beleuchtung, in Rot und Gelb. Die Stämme schienen zu glühen, als hätte jemand dort ein kleines Feuer entzündet. Tante Tutta sah es auch und hatte natürlich auch dafür eine wundersame Geschichte parat: Wenn der Herbst kommt und der Winter nah ist, dann zieht sich der Sommer in den Wald zurück, um dort zu schlafen. Der Sommer ist nämlich sehr müde und erschöpft. So viel Leben und Frucht hat er hervorgebracht, dass er sich nun erholen muss. Der Sommer ist dann alt und sieht aus wie ein Großmütterchen. Es legt sich in ein Bett aus trockenem Laub und schläft ein. Und bald erscheinen die Wintergeister, um den Schlaf des Sommers zu bewachen. Sie bringen auch die Kälte und den Schnee mit und lieben es, die Welt im Frost erstarren zu lassen. Und sie treiben es oft zu toll, während der Sommer sich wieder in eine wunderschöne Jungfrau mit grasgrünen Augen und goldenem Weizenhaar verwandelt. Die Wintergeister sind nicht böse, aber sie sind wie Kinder, die ein begonnenes Spiel nicht aufgeben wollen. Darum lassen sie den Sommer nicht frei und halten ihn gefangen. Erst im Frühling ist der Sommer stark genug, die Wintergeister zu vertreiben. Außerdem kommt zu Ostern der Jesus auf die Welt zurück, und vor dem haben die Wintergeister Angst.
Wer reinen Herzens ist, kann manchmal zur Dämmerzeit ein Leuchten im Wald sehen. Das ist die Stelle, wo der Sommer gefangen liegt.
Jedes Mal, wenn sie ihre Runde im Dienst an der Mutter Kirche beendeten, machten sie Halt vor Frau Kowaleks Büdchen. Das war für Anton der Höhepunkt ihrer donnerstäglichen Wanderung, die, weil sie im Kreis ging, jeglichen Sinnes entbehren würde, stünde am Ende des Weges nicht dieser winzige Kiosk als Zielpunkt, der nichts anderes war als eine hohle Litfaßsäule, die vorne ein Fensterchen und hinten ein Türchen besaß, obenauf gedeckelt von einem flachen, runden Kuppelchen, das, weil es ein wenig überstand, die ganze Konstruktion wie einen hohen Pilz aussehen ließ. In dem kleinen Fensterrahmen pflegte Frau Kowalek zu sitzen, den gewaltigen Busen vor sich auf dem schmalen Tresen liegend. Hinter diesem Gebirge stand wie der Mond ein winziges, apfelbäckiges Rundköpfchen, das immer ein freundliches Lächeln zur Schau trug unter dem spitzigen Näschen und den überaus großen, braunen Augen. Frau Kowalek, die für Anton nur aus Busen und Kopf zu bestehen und mit ihrem Kiosk ganz verwachsen schien, wie eine Schnecke mit ihrem Gehäuse, stellte in seiner Vorstellung eine Gestaltwerdung all der Dinge dar, die sein kindliches Herz damals mit dem verband, was es für das Gute in der Welt hielt. Sie war für ihn eine dieser Personen, von denen es im Märchen hieß, dass ihnen ein gutes und reines Herz in der Brust schlüge. Auch Tante Tutta bekräftigte immer wieder, dass Frau Kowalek, die eigentlich einmal Kowalecki geheißen hatte und aus dem allertiefsten Osten stammte, wenn vielleicht nicht gerade ein Engel, so doch sicher eine Art guter Fee oder freundlicher Hexe sei. Außerdem beinhaltete ihr röhrenförmiges Pilzhaus viele Dinge, die Anton liebte und begehrte. Sie saß da, neben den Sachen für die Erwachsenen wie Zigaretten, Schnaps oder Zeitungen, in einer von bunten Regalen gesäumten Welt, die alle Arten von Süßigkeiten, Spielkram und Comicheften lagerten. Und jedes Mal überreichte sie Anton mit ihren winzigen, roten Händen einen dieser Schätze.
Frau Kowalek, das wusste Tante Tutta zu erzählen, kam nach dem Krieg ohne Mann, den nämlich der Russ erschossen habe, aber mit einem dicken Bauch in die Stadt. Anton verstand, was das bedeutete: Frau Kowalek hatte ein Kind im Bauch getragen, das kurz darauf in Gestalt eines kleinen Jungen das Licht der Welt erblicken sollte. Frau Kowalek sah inmitten der Trümmer den verlassenen Kiosk und erkannte ihre künftige Aufgabe in dieser Gemeinde. Bald schon bot sie die üblichen Waren wie Tabak und Zeitschriften feil, aber auch Dinge des täglichen Gebrauchs und Nahrungsmittel, die ansonsten schwer zu bekommen waren. Wie es schien, besaß die junge Mutter Beziehungen. Mit der Zeit schossen aus den anliegenden Trümmergrundstücken zuerst das Fernmeldeamt, dann eine Realschule und schließlich die Höhere Handelsschule. Das brachte neue Kundschaft und langsam, aber sicher raunten die Leute, dass sich Frau Kowalek bald ihren großen, dem Busen in nichts nachstehenden Hintern vergolden lassen könne. Mit Respekt und auch Neid sprach man ihr Geschäftstüchtigkeit zu. Und, wie es so Sitte ist, wenn es bei einem gut läuft, dichtet das neidische Volk gerne etwas Ungutes hinzu. Es ging mit der Zeit das Gerücht, dass Frau Kowaleks Söhnchen nicht ganz gesund sei, auf jeden Fall etwas seltsam geraten, vielleicht sogar geistig behindert. Dieses fand Stützung in der Tatsache, dass man Frau Kowalek niemals von ihrem Nachwuchs reden hörte, geschweige denn ihn einmal zu Gesicht bekam. Eine für dieses Kaff typische Häme klang bei dieser Geschichte durch die mitleidlich vorgetragenen Vermutungen, und die Gerechtigkeit der Welt erhielt ihre Bestätigung durch den Umstand, dass die vom Erfolg verwöhnte Frau Kowalek auch etwas abzudienen habe.
An diesem späten, früh erdunkelten Nachmittag drängte es Anton, ganz erfüllt von der seltsam wunderbaren Erscheinung, der Frau Kowalek von dem Leuchten im Wald zu erzählen. Tutta bedachte ihn mit einem stolzen Seitenblick, wie er die Geschichte vom gefangenen Sommer in allen Details und bunter Sprache darbot, als hätte er sie selbst erfunden. Und Frau Kowalek zeigte sich so beeindruckt, dass sie ganz entgegen einer sonst festen Regel einmal ihren Sohn ins Gespräch brachte. Das sei ja eine ganz tolle Geschichte, die werde auch ihrem Söhnchen Ralf gefallen, wo der doch Märchen so liebe. Im gleichen Augenblick verstummte sie fast erschrocken. Schnell griff sie hinter sich und zückte eine weiß-rote Zuckerstange, reichte sie Anton als Lohn für seine dolle Jeschichte.
Frau Kowalek verschwand mit ihrem Kiosk von einem Tag auf den anderen. Die prallgefüllte Litfaßsäule fiel der Planierraupe ebenso zum Opfer wie die drei alten Kastanien auf dem kleinen Plätzchen. Es entstand im Zeichen moderner Zeiten eine Tankstelle der Firma Fina an dieser Stelle, dem Durst der nun an Zahl zunehmenden Personenkraftwagen Genüge zu tun. Es hieß, sie sei zurück in ihre alte Heimat Polen gezogen, um dort mit dem vielen Geld, dass ihr die Goldgrube eingebracht hatte, wie eine Königin, Königin von Saba, wie Antons Mutter sagte, zu leben.
Kurz darauf, im Winter 66, holte der Himmelsdampfer Tante Tutta ab. Ihr gar nicht so altes Herz blieb einfach stehen, als sie im Nähzimmer saß und im Radio Franz Schuberts Lindenbaum durch Rudolf Schock zu Gehör gebracht wurde. Damit endete die Ära der donnerstäglichen Runden und Anton ging nie mehr zu dem Waldstück, bis zu dem Tag, von dem noch die Rede sein soll.
Anton
Seine Mutter pflegte eine Vorliebe für Erich Kästner. Weniger für die Bücher, denn sie las kaum etwas anderes als Illustrierte, sondern für deren Verfilmungen. 1953 verfilmt, machte Pünktchen und Anton einen so großen Eindruck auf sie, dass seitdem feststand, dass ihr mehr als acht Jahre später geborene Sohn wie der Junge aus dem Film heißen sollte. Er musste deshalb als Anton durch die Welt gehen, auch weil der Erstgeborene schon den wesentlich nobleren Namen Fabian für sich zu reklamieren wusste. Einen Anton wollte der Vater nicht als Erstgeborenen, als seinen Stammhalter. Beim Zweiten interessierte es ihn nicht sehr. Anton war ja auch ein blöder Name, schlug in dieser Gegend oft nach Tünn oder Tünnes um, aber immerhin besser als Emil. Wer findet seinen eigenen Namen als Kind nicht blöd? Immerhin konnte er sich in dem Zusammenhang beglückwünschen, nicht als Mädchen in diese Welt getreten zu sein, das sein Dasein als Lottchen vielleicht, oder gar als Pünktchen fristen müsste.
Wer ihn sieht, schaut auf einen etwas dicklichen, etwas zu kleinen, etwas zu rothaarigen Jungen mit etwas zu fleischigen Lippen. Sein Bruder sagt immer Schlauchboot zu ihm. Der Betrachter bemerkt ein Übermaß an Sommersprossen und eine dicke Brille mit Kassengestell, braun gefasste Vierecke, Aquarien für die Augen. Umrahmt wird das breite Gesicht durch etwa schulterlanges, rotes Haar, seitlich gescheitelt und leicht fettig gewellt. Oft kneift er die Augen fest zu und legt die großen Schneidezähne des Oberkiefers frei, indem er die Nase kraus und die Oberlippe hochzieht. Daran erkennt der Beobachter entweder, dass Anton in die Sonne schaut oder angestrengt nachdenkt, oder, was am häufigsten vorkommt, lautstark Rotz hochzieht, der eigentlich gar nicht vorhanden ist. Diese Unsitte, wie seine Mutter es nennt (»Du bist ein ganz gewöhnlicher Europäer«, sagt sie dann), hat er sich von einem Klassenkameraden abgeschaut, den er insgeheim bewundert, obwohl er ein Arschloch ist, oder gerade deshalb. Das Bild wird vervollständigt, denkt man sich einen gelb-blau-grün geringelten, zu engen Pullunder und darunter ein giftgrünes Hemd mit gewaltigem Kragen, dazu die dunkelblaue Jeans mit weitem Schlag und braune Hush Puppies oder Sioux-Schuhe mit Fransen und nicht zuletzt die Jeansjacke, die auf dem linken Arm einen kreisrunden Aufnäher mit der Aufschrift The Monster und einem Frankensteinkopf, auf dem rechten Ärmel den poppigen Schriftzug Deep Purple in Gold auf purpurnem Grund trägt. Auf der linken Wange, fast unter dem Ohr, sitzt ein bräunliches Muttermal wie Mutter Spinne, das er hegt und pflegt, weil es die Heimat seiner bisher einzigen Barthaare ist. Anton bemüht sich um eine tiefere Stimmlage, kann aber nur schwer verbergen, dass der Stimmbruch kaum eingesetzt hat. Sein Vater sagt, das komme alles noch, er sei ja erst dreizehn, und er solle sich mal die Hexenwarze rasieren.
Anton weiß: Er wird es schwer haben mit diesen Voraussetzungen. Deshalb verachtet er seinen Vater, der ganz genau die gleichen Merkmale besitzt und sehr dominant nur auf ihn, nicht aber auf seinen gutaussehenden Bruder Fabian übertragen hat.
Die wohlgeratenen Vorfahren mütterlicherseits lebten ursprünglich in Frankreich, gehörten sogar zum minderen Adel und sahen sich daher genötigt, zur Zeit der Französischen Revolution der Fürsorglichkeit des Wohlfahrtsausschusses zu entgehen, fanden schließlich über die Niederlande ins preußische Rheinland und ließen sich in dieser kleinen Stadt nieder. Die anderen, die väterlichen, denen Anton sein breites Gesicht schuldete, kamen aus dem tiefen slawischen Osten über Thüringen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Pferd und Leiterwagen als Flüchtlinge ebenfalls in dieses platte Land.
Nebenan wurden sie einquartiert im Kartoffelkeller, bezeichnet als Souterrain, übernahmen aber bald das Haus von der alten Witwe, die zuvor da gehaust hatte mit ihren sieben Katzen und einem zwar freundlichen, aber aus dem Maul stinkenden alten Dackel. Sie starb, als sie über eines der Katzenviecher stolperte und den folgenden Treppensturz mit einem Genickbruch bezahlte. Dieser Umstand führte dazu, dass die Familie, die Antons Vater hervorgebracht hatte, Einzug in die oberen Geschosse hielt und sich sesshaft machte.
Und so konnte sich Antons Mutter Brigitte, der man große Schönheit nicht nur nachsagte, Jahre später in diesen unansehnlichen Mann verlieben, weil sie genug Zeit hatte, sich an ihn zu gewöhnen. Es gab ja auch kaum noch Männer, entschuldigte sie sich später einmal unabsichtlich, aber zu Recht. Man heiratete also, wie es Brauch war, und pflanzte sich fort, wie es sich gehörte.
Diese Kette unvermeidlicher Zufälle stieß Anton ins Licht der Welt. Nicht nur, dass ihm eine Fehlgeburt vorausging und ihm freiwillig ihren Platz räumte. Auch einen Fieberanfall mit heftigen Krämpfen überlebte er nur knapp. Ein fernes Traumbild Antons nährte sich von daher: So sah er sich selbst, aus schwebender Position, als Baby mit der winzigen Faust rhythmisch gegen sein Bettchen trommeln, schnell und immer schneller. Die alte Tutta, seine treue Wache am Bettchen tagein, tagaus, konnte sich an das rasende Klopfen erinnern. Sie brachte Weihwasser, besprenkelte den ganzen Raum