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Die Warnung der Raben
Die Warnung der Raben
Die Warnung der Raben
Ebook420 pages5 hours

Die Warnung der Raben

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About this ebook

Brigit kehrt an ihren Geburtsort zurück, auf der Suche nach dem einzigen, was ihr an Familie geblieben ist: ihrer Großmutter. Nur wenige Erinnerungen hat sie noch an diese Zeit in der jetzt fast verlassenen Stadt Ballymote. Die Straßen, Häuser und Wälder verbergen Geheimnisse, die in Zeiten zurückreichen, als Legenden etwas sehr Reales und Monströses schufen. Konfrontationen mit den Ahnen, bittere Rivalitäten und eine ungewisse Zukunft, in der Brigit nach Antworten sucht, sich ihren Albträumen stellt und die Wahrheit in einer dunklen Welt entdeckt, die nicht mehr die ihre ist, und in der die Raben vor dem warnen, was in den Schatten lauert.

"Raquel Villaamil hat den irischen Mythen und Legenden in Die Warnung der Raben neues Leben eingehaucht. Die furchteinflößenden Wesen und Rassen aus den Manuskripten "Das Buch der Invasionen" aus dem XI. Jahrhundert finden ihre Parallelen in den Charakteren des XXI Jahrhunderts, von denen hier erzählt wird. Ein Roman der Geheimnisse und Fantasie, mit einer Handlung, die in Jahrtausende eintaucht und auf   einen Höhepunkt zustrebt, in dem die Liebe und das Streben danach auf die Probe gestellt werden um in einem unerwarteten Ende zu gipfeln."

"Ein Buch mit leichten Gothic-Zügen und einem Hauch von Romantik, das Sie von der ersten Seite an wegen seiner Originalität und Erzählweise fesseln wird. Brigit ist eine sehr eigenwillige Heldin und der Sprachrhythmus des Buches ist von Anfang an leidenschaftlich. Die Warnung der Raben ist einer der besten spanischen Romane, die ich aktuell gelesen haben. Wenn Sie diese Art von Genre mögen, sollten Sie es nicht verpassen!“

LanguageDeutsch
PublisherBadPress
Release dateDec 5, 2018
ISBN9781547558643
Die Warnung der Raben

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    Book preview

    Die Warnung der Raben - Raquel Villaamil

    "Ah, Du prophezeist ohn' Zweifel, Höllenbrut! Ob Tier, ob Teufel -

    ob Dich der Versucher sandte, ob ein Sturm Dich ließ hierher,

    trostlos, doch ganz ohne Bangen, in dies öde Land gelangen -

    in dies Haus, von Graun umfangen"

    Edgar Allan Poe, Der Rabe

    Meine ersten Erinnerungen an das Haus sind nicht unbedingt zuverlässig.

    In meinem Kopf schwirren absurde Gedankenfetzen herum von grünen Wiesen, vielleicht von einigen Einhörnern, winzigen Blumen und kristallklaren Bächen sowie einer Burg, Großmutter vor dem Kamin und der Geruch von frisch gebackenem Brot im Ofen.

    Licht und Schatten wechseln sich ab wie in einem Traum. Vor meinem inneren Auge sehe ich nicht nur farbige Szenen, sondern auch dunkle, verschwommene Bilder von schmalen Gängen, einer dünnen Lage Staub auf den Möbeln, Bäume mit bedrohlichen Ästen und Augen, die im Verborgenen funkeln.

    Ich kann mich an Gerüche, Aromen und Farben erinnern, aber nicht an ein einziges Geräusch.

    Es könnte sich um ein banales Detail einer Kindheitserinnerung handeln, aber auch sechzehn Jahre später habe das gleiche Gefühl, sobald ich das Haus betrete. Ich kann noch immer kein Geräusch hören.

    Es ist erstaunlich, wie verstörend das sein kann. Verstörend und schmerzhaft zugleich.

    Der Anfang

    ––––––––

    New York kann die einsamste Stadt der Welt sein, trotz aller Menschen, die ununterbrochen in diese riesige Stadt einfallen.

    Es war zu der Zeit des Tages, als die Sonne hinter dem Horizont zu verblassen begann und der Big Apple durch die Brücken und Tunnel entkam, die ihn mit dem Rest des Universums verbanden, als das Hupen der Autos mit der durchdringenden Sirene eines Krankenwagens verschmolz, der vorbei raste, als die Straßenlaternen anfingen, Schatten auf Fenster und Laternenmasten zu werfen und das Gefühl der Einsamkeit drängender wurde.

    Meine Hände umklammerten fest den Zaun, der den See im Central Park umgibt, meine Augen waren auf die Oberfläche des Wassers fixiert, meine Ohren mit Lärm gesättigt und mein Herz vor Schmerzen gebrochen.

    Als es Nacht wurde und die Temperaturen endlich angenehmer, ließ meine Angst nach. Man konnte die Luft wieder atmen, obwohl die hohe Luftfeuchtigkeit dafür sorgte, dass mir immer noch alle Kleider am Körper klebten.

    Einige Enten unterbrachen die Stille auf dem Wasser, hinterließen eine Spur von kleinen Wellen und ich konnte endlich wieder blinzeln. Das Leben muss weitergehen. Ich konnte doch nicht die Einzige, sein, die damit nicht klarkam. Fast ein Jahr lang hatte ich mich von der Welt abgeschottet und mich um meine Mutter gekümmert. Jetzt, wo sie nicht mehr bei mir war, kam ich mir vor wie eine Fremde in einer feindseligen Welt.

    Ich ließ den Zaun los und nahm einen tiefen Atemzug, bis meine Lungen voll waren mit verschmutzter Stadtluft. Einen Monat lang planlos als Zombie umherzuirren war definitiv viel zu lange gewesen. Ich würde wieder von vorne anfangen, so wie immer, seit ich ein Kind war. Jede Reise war ein Neuanfang.

    Allerdings sah es so aus, als sei diese die schwerste und einsamste von allen.

    ––––––––

    Das kleine Apartment auf der Pleasant Avenue fühlte sich jetzt an wie eine leere Streichholzschachtel. Die Einrichtung erschien älter, die Fenster kleiner und die Luft abgestandener. Die Geräusche, die von der Straße kamen, konnte man kaum hören, da das Apartment auf einen Innenhof hinausging, von dem aus man nur Gesprächsfetzen auffangen konnte. In dem Moment, als meine Mutter aufhörte zu existieren, schien auch die Zeit stehen zu bleiben. In einer Minute lebte sie noch, in der nächsten schon nicht mehr. Aber irgendwie war es auch befreiend. Die arme Frau hatte so lange gegen diese seltsame Krankheit gekämpft, dass sie eine Pause brauchte, selbst wenn es für immer sein würde.

    Mein Handy vibrierte und unterbrach meine Erinnerungen. Verwirrt sah ich auf die Anzeige. Es war eine lange, mir unbekannte Nummer. Vermutlich hatte sich jemand verwählt.

    Ich meldete mich und wartete auf die Enttäuschung.

    „Brigit Dawn?", fragte jemand am anderen Ende der Leitung. Ich war vollkommen perplex.

    „Ja, erwiderte ich zögernd, „ja, das bin ich.

    „Ich rufe an wegen des Nachrufs, der vor einigen Wochen in der New York Times erschien. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid zum Verlust Ihrer Mutter aussprechen."

    Danke, sagte ich automatisch und war gespannt darauf zu erfahren, worum es bei dem Anruf ging.

    Ich bin Krankenschwester im Ballymote Hospital in Vermont. Wir haben eine Patientin, die behauptet, Ihre Großmutter zu sein.

    Was? Mein Herz setzte für einen Moment aus, um dann umso schneller zu schlagen.

    Sie las die Zeitung in einem klaren Moment und sah den Nachruf. Sie behauptet, dass sie die Schwiegermutter der Verstorbenen ist. Ihr Name ist Michelle Harris.

    Ich habe den Nachnamen meines Vaters nie gekannt. Ich kann das also nicht bestätigen.

    Sie sagt, dass Ihre Mutter aus Ballymote weglief, als Sie noch sehr jung waren. Seitdem hat sie weder Sie noch Ihre Mutter jemals wiedergesehen.

    Stimmt. Das stimmte wirklich.

    „Sie sollten herkommen und sie besuchen, fuhr die Schwester fort. „Michelle geht es nicht sehr gut.

    „Was ist los?", fragte ich besorgt.

    „Sie leidet unter Altersdemenz und einem generell schlechten Allgemeinzustand. Offen gestanden, sie stirbt und wir wissen nicht genau, warum."

    „Aber..., setzte ich an. Was hatte ich zu verlieren? Was hielt mich hier in diesem winzigen Apartment oder der bedrückenden Stadt? „Ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich komme, antwortete ich mit großer Entschlossenheit. Mehr, als ich in den letzten Jahren jemals hatte.

    „Hervorragend. Wir werden Sie erwarten."

    Das Geräusch am anderen Ende der Leitung verwandelte sich in ein ununterbrochenes Pfeifen, das langsam immer leiser wurde und schließlich aufhörte. Ich stand noch eine ganze Weile mit dem Telefon an meinem Ohr da, bis mir auffiel, dass das Gespräch zu Ende war.

    Ich wollte ganz von vorne anfangen und jetzt hatte ich einen echten Grund. In meinen Koffer packte ich neben meiner Kleidung noch einige wenige Erinnerungsstücke, die ich behalten wollte. Ich hatte nicht mehr viel Geld auf meinem Bankkonto, seit ich vor einem Jahr aus meinem letzten Job gefeuert wurde, aber es würde reichen, um nach Ballymote zu kommen. Aber wo war Ballymote? Ich hatte noch nie auch nur das Geringste über diesen Ort gehört.

    Ich sprang mit ein paar großen Schritten durch das Apartment, aber meine Füße stoppten vor dem Zimmer meiner Mutter. Ich schloss die Tür und verabschiedete mich leise. All ihre Sachen waren dort, unverändert seit dem Moment, da ich sie für immer verloren hatte. Ich ging in die Knie, überwältigt von den vielen verschiedenen Gefühlen, die auf mich einströmten. Ein Durcheinander verschiedenster Stimmen brach sich in meinem Kopf Raum: das Schreien meine Mutter in ihren Albträumen über meinen Vater; mein Weinen über unsere dauernden Fluchten, und das verstörende Krächzen der Raben in der Nacht.

    ––––––––

    Mein Auto startete ohne Probleme, obwohl es seit fast fünf Monaten geparkt und ungenutzt dastand. Es war so alt und so schmutzig, dass niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, es zu stehlen oder Teile abzumontieren. So war es vollständig erhalten geblieben zwischen einem Bentley, dem etliche Teile fehlten und einem Ford mit vier Backsteinen anstelle von Reifen.

    An diesem Abend kehrte mein Auto wieder in den vertrauten Stadtverkehr zurück, bis wir zur Autobahn 95 gelangten. Es war sehr angenehm mit offenem Fenster zu fahren und den frischen Wind im Gesicht zu spüren.

    Das Auto war ein Geschenk meiner Mutter zu meinem sechzehnten Geburtstag gewesen. Meine Fahrstunden hatte ich auf den mit Palmen gesäumten Straßen in Los Angeles gemacht, unserem dritten Wohnort nach Alaska und Washington. Ich vermisste die ganzjährig milden Temperaturen Kaliforniens, wie auch meine letzten Jahre an der High School und meine Freunde aus jener Zeit. Freundschaften, so vergänglich wie unsere unerwarteten Umzüge. Nach so vielen Veränderungen hatte ich keine Bekannten mehr, nirgendwo. Ich hatte keine Familie und keinen Ort, an den ich hingehörte. Mit fast einundzwanzig Jahren war ich im wahrsten Sinne des Wortes verwaist.

    Der Verkehr auf der Autobahn ließ immer mehr nach. Ich entspannte mich hinter dem Lenkrad und das Fahren fing an mich zu langweilen. Ich schaltete das Radio ein und suchte in den verschiedenen Radiostationen, bis ich einen Sender mit Musik fand, die mich wachhielt, um nicht Morpheus‘ Verlockungen nachzugeben. Ich summte Lieder mit, die ich kannte und näherte mich der Staatsgrenze.

    Die dunkle Landschaft flog rechts und links an der Autobahn vorbei. Ich konnte die Bäume und den Wald spüren, und ich sah in der Ferne das schwache Licht der alten Stadt. Die Tankstellen mit ihren flackernden Lichtern blendeten mich für ein paar Sekunden, weil ich mich an das Halbdunkel der Autobahn gewöhnt hatte. An einer hielt ich an, um mir eine Coke zu kaufen und mir ein wenig die Beine zu vertreten. Es war fast zwei Uhr am frühen Morgen und die einzigen Fahrzeuge, die man sah, waren große Lastwagen, die für wenige Sekunden die Stille unterbrachen, um dann wieder in die Dunkelheit der Nacht zu entschwinden. Das summende Geräusch einer der Lampen über mir rief eine Erinnerung an einen Arztbesuch vor zwei Jahren wach, als es mit der Gesundheit meiner Mutter bergab ging.

    „Ich weiß wirklich nicht, was ihr fehlt", gestand mir der Arzt mit leiser Stimme, während meine Mutter sich hinter dem Vorhang wieder anzog.

    „Aber sie hat irgend etwas. Sie ist schwach, manchmal kann sie die Wirklichkeit nicht von den Träumen unterscheiden, sie vergisst Dinge...", erwiderte ich und versuchte die Symptome aufzuzählen, an die ich mich erinnerte.

    „Ich weiß. Die Analysen und Testergebnisse widersprechen sich. Ehrlich gesagt, der Organismus Ihrer Mutter erweckt den Anschein, als wäre sie älter als sie in Wahrheit ist."

    „Herr Doktor, sie ist gerade zweiundvierzig geworden."

    „Ja, aber sie hat den Körper einer über Neunzigjährigen."

    Ein weiterer Lastwagen riss mich aus meiner Erinnerung. Die Glühbirne über meinem Kopf summte noch immer. Die Uhr war eine halbe Stunde weitergegangen.

    Ich schüttelte meinen Kopf, um die Bilder loszuwerden und stieg wieder ins Auto. Nach einem Blick auf die Karte schätzte ich, dass ich die Hälfte der Fahrt hinter mir hatte. Das Koffein wirkte jetzt und für eine Weile ließ die Müdigkeit in meinen Augenlidern etwas nach.

    Die Autobahn 95 wurde zur 91, und von Connecticut ging es nach New Hampshire, Kilometer um Kilometer. Kurz vor Vermont hielt ich an einer weiteren Tankstelle an. Ich lehnte den Sitz zurück, um für ein paar Minuten meine Augen zu schließen. Aus den wenigen Minuten wurden dann allerdings mehrere Stunden.

    Ballymote

    ––––––––

    Ich erwachte von den ersten sanften Sonnenstrahlen, die durch mein Autofenster schienen. Eine große Uhr an der Tankstelle zeigte sieben Uhr morgens an und um mein Auto herum standen bereits mehrere Lastwagen sowie mindestens zehn andere Fahrzeuge. Es war mir ein wenig peinlich. Was mochten die anderen Fahrer wohl von mir denken, schlafend, allein auf einem Parkplatz?

    Ich stieg aus und streckte mich. Um diese Zeit am Morgen waren die Temperaturen sehr angenehm. Eine sanfte Brise trug den Geruch des nahen Waldes herüber und spielte mit einer losen Locke meiner roten Haare. Ich kämmte es mir mit den Fingern, strich meine Kleidung etwas glatt und ging in die Cafeteria, da mein Magen wie ein Löwe knurrte.

    Als ich die Glastür hinter mir zuzog, drehten sich alle Anwesenden um und sahen mich an. Schnell ging ich an ihnen vorbei und setzte mich mit dem Rücken zu allen anderen an einen der Tische.

    Eine Bedienung kam mit freundlichem Gesicht auf mich zu:  „Möchten Sie etwas Kaffee?"

    „Ja bitte. Und Toast."

    „Gerne."

    Sie ging davon, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Über meine Schulter hinweg konnte ich einige Männer an der Bar reden hören. Suchten sie mich? Könnte einer von ihnen jemand sein, vor dem meine Mutter weggelaufen war?

    Ich atmete tief durch. Diese Paranoia, mit der ich aufgewachsen war, musste ein Ende haben. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ich eingesehen, dass diese Bedrohungen nur im Kopf meiner Mutter existierten. Niemand war hinter uns her. Niemand wollte uns umbringen. Jetzt, hier in dieser Cafeteria, sah ich es glasklar, wie in einer Offenbarung. Meine Mutter war schon seit langer Zeit krank gewesen, vielleicht schon bevor ich zur Welt kam, und neben anderen Problemen litt sie an Verfolgungswahn. Ich gebe zu, der letzte Arzt hatte versucht mir das zu erklären, aber ich wollte es nicht hören.

    Ich wuchs auf mit der Überzeugung, dass wir wegen meines Vaters von zuhause fliehen mussten. In den Jahren danach sind wir so oft umgezogen, dass ich die Namen der meisten Orte vergessen habe. In Bethel, Alaska, blieben wir etwas länger und meine Mutter schien sich zu entspannen. Sie hatte sogar Freunde; sie sah großartig aus, schöner als je zuvor, glücklich. Aber dann, von einem Tag auf den anderen,  hatte ich wieder einen Koffer in der Hand und saß in einem Bus in Richtung Washington.

    Wie konnte ich diese Geschichte nur für wahr nehmen ohne sie jemals zu hinterfragen? Warum habe ich mich niemals gegen diese ständigen Wechsel gewehrt? Weil ich ihr glaubte. Ich kann mich an die Panik in ihren Augen erinnern, an ihren verstörten Gesichtsausdruck, wenn sie an meinen Vater dachte. Sie sah ihn nicht als Mann, für sie war er der Teufel in Person.

    ––––––––

    Ich setzte meine Reise fort, befreit von den Geistern, die der Vergangenheit angehörten. Die Straße änderte zweimal ihren Namen und nach einer Stunde Fahrt fand ich die Abzweigung nach Graniteville. Ich fuhr durch die Stadt, ließ die wunderschönen weißen Häuser mit den schrägen Schieferdächern und die einzelnen Bauernhöfe mit ihren großen Grundstücken hinter mir.

    Als ich zu einer Kreuzung kam, sah ich das erste Schild auf dem ‘Ballymote’ stand. Es war alt und seine Buchstaben von der Sonne verblichen, aber es zeigte deutlich, dass mein Ziel auf der linken Seite lag. Ich bog in diese Richtung ab. Die Straße, die bis jetzt gepflastert gewesen war, wurde sandig und war deshalb schwer zu befahren. Nach ein paar Kilometern wurde der Sand grobkörniger, bis er in Kies mit scharfen Steinen dazwischen überging.

    Ich brauchte zwei Stunden für eine Strecke, die mich auf einer Autobahn vielleicht dreißig Minuten gekostet hätte. Meiner Karte zufolge war ich am Ziel angelangt, fand aber nur ein weiteres heruntergekommenes Schild, das nach rechts zeigte, wo die Bäume so dicht standen, dass die Straße fast in ihren Schatten verschwand.

    „Fahr zurück."

    Ein leichtes Zischen in meinem Ohr, so leicht, dass ich es kaum hören konnte, und es kam tief aus meinem Kopf. Als ich dann jedoch das Lenkrad in die neue Richtung bewegte, schien es nicht länger nur ein Produkt meiner Fantasie zu sein:

    „Fahr zurück."

    Ich bremste so hart, dass die Räder über den Kies rutschten. Wer hat das gesagt? Ich drehte meinen Kopf und sah in alle Richtungen, sah unter die Autositze und suchte die Umgebung mit meinen Augen durch die Autofenster ab, aber ich war allein. Schrecklich allein.

    Während ich noch versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass mein Verstand mir einen Streich spielte, schlug mein Herz schneller und meine Atmung verlangsamte sich. Ich hatte in den vergangenen Monaten so viel mitgemacht, dass die Vorstellung, mein Verstand würde mir absurde Befehle geben, nicht das Schlimmste war, was mir passieren konnte. Es war das logische Ergebnis der Erfahrung von lang andauerndem Leid.

    Oder zumindest war es das, woran ich mich zwang zu glauben

    Ich gab Gas und raste unter den dicken Ästen her, die die Straße einrahmten und beim Durchfahren an meinem Auto entlang schrammten. Kleine Büsche wuchsen aus Rissen und Spalten in der Straße. Es schien, als sei mein Auto das erste, das hier seit langer Zeit entlangfuhr.

    Ballymote erschien am Ende des Waldes, als ich schon fast wieder umkehren wollte, weil ich davon überzeugt war, dass ich mich verfahren hatte. Auf den ersten Blick sah es wie eine Geisterstadt aus. Als ich näherkam, verstärkte sich der Eindruck noch.

    Die kleine Stadt war einst ein wunderschöner Ort gewesen. Die Fassaden der Gebäude waren ursprünglich in Pastelltönen gestrichen, aus dem Brunnen auf dem Marktplatz strömte einst Wasser. Früher zeigte die Rathausuhr die richtige Zeit an und die Säulengänge schützten die Bewohner vor Regen, während sie die Auslagen in den Schaufenstern bewunderten. Aber jetzt sah alles aus wie auf einem vergilbten Foto, weit entfernt von seiner früheren Pracht.

    Eine frische Brise wirbelte das trockene Laub auf und hob es über die Windschutzscheibe, hoch in die Luft und auf die andere Seite des Marktplatzes hinüber, wo eine eindrucksvolle graue Statue auf einem großen Sockel aus Marmor stand.

    Ich konnte sehen, dass mehrere parallele Straßen wiederum von anderen Straßen im rechten Winkel gekreuzt wurden und so ein perfektes Straßenraster bildeten. Ich schlenderte ziellos umher, steckte meine Nase in Eingangshallen und suchte nach irgendeiner Lebensform oder Überresten der Zivilisation hinter einem der Fenster.

    Einige Vorhänge wurden zugezogen, als ich vorbei ging und ich meinte die Bewegung einer Hand oder eines Kopfes erhascht zu haben. Ich war nicht allein.

    Ich fuhr bis zur nächsten Kreuzung, an der eine schiefe Ampel mit bernsteinfarbenem Licht flackerte. Einige Meter nach rechts sah ich eine Tankstelle und direkt vor mir ein großes hölzernes Schild, das mit einem schwarzen Pfeil nach links – und mit einem Anflug von Humor - die Richtung anzeigte: zum BallyMote-L.

    Ich fand, dass es eine gute Idee wäre, sich auf einem richtigen Bett auszuruhen. Was, wenn ich hier für mehrere Tage bleiben müsste? Was, wenn ich meine Familie fände? Ich folgte dem Pfeil, bis auch das letzte Haus verschwunden war. Das Motel lag noch weiter entfernt, versteckt unter Jahrhunderte alten Bäumen. Ich war überrascht, wie klein es war. Nur ein Stockwerk und einige wenige Türen zu den Zimmern, die man an einer Hand abzählen konnte.

    Ich ließ das Auto auf dem verlassenen Parkplatz und nahm meinen Koffer. Ein tiefer Atemzug in dieser Waldluft vertrieb den letzten Rest der verschmutzen Stadtluft aus meinen Lungen. Dann öffnete ich die Tür zur Rezeption.

    Ich war wohl mehr überrascht davon, den Mann hinter dem Tresen zu sehen, als wenn niemand dort gewesen wäre. Er war die erste Person, die ich seit Stunden gesehen hatte.

    „Einhundert Dollar pro Nacht, junge Frau", sagte er und kaute dabei auf etwas herum, das wie Tabak aussah.

    „Einhundert? Wie viele Sterne hat das Hotel? Fünf?"

    „Es ist das einzige Hotel im Umkreis von 300 Kilometern. Sie können auch Ihr Glück woanders versuchen." Sein Kiefer bewegte sich wie bei einem Wiederkäuer. Seine Haare waren hell und fettig und auf seiner Haut konnte man Aknenarben erkennen.

    „Ich bleibe vermutlich für ein paar Tage. Gibt es da spezielle Angebote?"

    Seine Augen leuchteten auf.

    „Wenn Sie länger als eine Woche bleiben, kann ich mit dem Preis auf siebzig runtergehen. Mehr als ein Monat, fünfzig."

    „Es ist immer noch teuer."

    „Es ist immer noch das einzige Hotel", merkte er an.

    „Motel."

    Er lachte laut.

    „Na und?"

    „Ok, ich gab auf. „Wo ist mein Zimmer?

    „Suchen Sie sich eins aus, und er gab mir einen Schlüssel, der größer war als meine Hand. „Die Türen haben alle den gleichen Schlüssel.

    Ich wollte mich über den Mangel an Privatsphäre beschweren, aber das wäre Zeitverschwendung gewesen. Ich schleppte meinen Koffer aus der Empfangshalle und ging durch jede Tür, auf der Suche nach der, die am weitesten von diesem Mann entfernt war. Alle hatten seltsame Nummern. Vermutlich mochte er auch keine Nummern. Ich kam an Tür Nummer 7 vorbei und war fast bei Nummer 9, die ich mir ausgesucht hatte, als diese Stimme wieder erklang.

    „Hier."

    Dieses Mal klang es eher wie eine Bitte. Ich sah nach beiden Seiten, für den Fall, dass jemand da war, der mit mir sprach, aber da war niemand. Wieder einmal erklangen die Worte in meinem müden Kopf.

    Allein die Tatsache, dass ich das Wort „hier" vor einer Tür gehört habe, sollte Grund genug sein, diese nicht zu öffnen, aber ich steckte den Schlüssel dennoch ins Schlüsselloch. Die Scharniere klangen rostig. Vor mir lag ein geräumiges Zimmer mit abgenutzten Möbeln. Durch den Staub in der Luft musste ich niesen, daher öffnete ich das Fenster weit.

    Ich ließ meinen Koffer auf dem Fußboden stehen und inspizierte das Badezimmer. Auf den ersten Blick wirkte es sauber. Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Mir fehlte ein Fernseher, ein Telefon oder irgendetwas, das Geräusche macht. So hörte ich nur den Wind, der durch das Fenster pfiff. Ich konnte noch nicht einmal ein Motorengeräusch eines Autos auf der nahegelegenen Straße hören. Aber ich würde mich schon an die Ruhe gewöhnen.

    Ich legte mich auf das Bett, das furchtbar quietschte. Obwohl mir die Sprungfedern der Matratze in die Nieren stachen, hatte ich das Gefühl, dass ich mich langsam entspannen konnte. Der Gedanke daran, dass ich meine Großmutter treffen würde, verursachte ein mulmiges Gefühl. Immerhin, sie war die Mutter meines Vaters. Auch der Rezeptionist und das Zimmer mitten im Nirgendwo machten mir Angst. Ich fragte mich ernsthaft, was mich geritten hatte, mein Streichholzschachtel-Apartment in New York gegen diese Geisterstadt einzutauschen. Interessant war allerdings, dass es sich anfühlte, als sei Ballymote ein exaktes Spiegelbild meiner Seele: einsam, grau und sehr traurig.

    ––––––––

    Ich fiel in einen leichten Schlaf. Es war dunkel.

    Ich öffnete meine Augen, weil ich ein sehr seltsames Geräusch um diese Uhrzeit hörte: den lauten Motor eines Lieferwagens. Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und sah gerade noch, wie der kleine Lieferwagen davonfuhr. Ok, also gibt es doch so eine Art von Leben in Ballymote.

    Ich sah auf den abgenutzten, hölzernen Fensterrahmen. Dabei stach mir ein Detail ins Auge: zwei Anfangsbuchstaben waren hinein geschnitzt worden. Der Buchstabe B und der Buchstabe E, beide in einem Herz.

    Es könnte natürlich purer Zufall sein, aber ich begann zu zittern, als mein Fingernagel über die Buchstaben strich. B für Brigit und E für Emma. Meine Mutter.

    Warum waren wir zu diesem Motel gekommen? Es erschien mir absurd, denn wir wohnten ganz in der Nähe. Waren wir da schon auf der Flucht?

    Ich verzog das Gesicht. Wahrscheinlich war es eher ein verliebtes Pärchen, vielleicht mit den Namen Bruce und Elisabeth, das die Nacht in einem Hotelzimmer verbrachte. Sonst nichts.

    Unter dem Herz stand ein Datum. Es war so abgenutzt, dass man es kaum lesen konnte. Das Datum stammte von vor sechzehn Jahren, als wir Ballymote verlassen hatten.

    Ich ging weg vom Fenster und setzte mich auf die Bettkante. Langsam streckte ich meinen Arm zum Nachttisch aus und öffnete die einzige Schublade. Darin lag eine Bibel mit vergilbten Seiten. Ich hob sie auf und sah auf den Boden der Schublade. Wie erwartet fand ich die gleichen Buchstaben, nur diesmal auch die ausgeschriebenen Namen „Brigit und Emma".

    Ich atmete tief durch. Im Laufe der Jahre hatten meine Mutter und ich eine Art Tradition entwickelt, in dem wir etwas auf die Böden der Schubladen aller Nachttische in allen Häusern schrieben, in denen wir übernachteten. Wir schrieben normalerweise unsere Namen auf die Rückseite, aber wenn der Vermieter nicht nett zu uns war, auch in die Schublade selbst.

    Und da waren sie. Dies war unser erster Aufenthalt. Unser erstes Zuhause als Flüchtlinge.

    Ich legte die Bibel wieder an ihren Platz, aber eine der Seiten fiel auf den Teppich. Ich las den Text, der von der Flucht nach Ägypten handelte. Darunter stand, mit schwarzer Tinte geschrieben, „Egal was passiert, vergiss niemals, dass ich dich aus tiefstem Herzen liebe. Emma."

    Diese Worte hallten in meinem Kopf wie die Stimme, die zu mir gesprochen hatte Ich faltete die Seite und legte sie in meine Tasche. Ich fing an zu weinen. Ich konnte es nicht aufhalten und ich wollte es auch nicht aufhalten.

    Das Krankenhaus

    ––––––––

    Das Krankenhaus war in einem alten Ziegelgebäude untergebracht und im Laufe der Zeit ziemlich heruntergekommen. Die Schlagläden hatten wohl einen schweren Sturm erlebt und viele davon hingen lose und verbogen in den Scharnieren. Mir fielen die Stangen an den Fenstern auf. Wer würde aus einem Krankenhaus fliehen wollen? Oder waren das die Überreste eines Gefängnisses oder einer psychiatrischen Klinik?

    Die Eingangstür schien das einzig Neue an diesem Ort zu sein, eine Drehtür aus Glas, die allerdings nicht funktionierte. Ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen und sie drehte sich mühsam. Ich stand in einer geräumigen Empfangshalle mit schäbigen Bodenfliesen, von denen die Farbe schon vor Jahren verschwunden war. Ein einfacher Empfangstresen aus dunklem, schlichten Holz, hinter dem eine Frau in einem weißen Kittel stand, war das einzige Möbelstück in der Halle.

    Als ich auf sie zu ging, machten meine Schuhe ziemlich laute Geräusche auf dem Boden. Die Frau war in einen Stapel Papiere vertieft und sah noch nicht einmal auf.

    „Ich bin gekommen, um eine bestimmte Person zu besuchen", sagte ich und fand, dass meine Stimme viel zu laut durch die Stille des Gebäudes schallte.

    Sie bewegte sich kein bisschen. Als ich wiederholen wollte, was ich gerade gesagt hatte, sprach sie, schon fast im Flüsterton: Wir haben nur Personen hier. Es wäre problematisch, wenn Sie einen Hund besuchen wollten.

    „Michelle Harris", fuhr ich fort und ignorierte ihren Sarkasmus.

    „Zweite Etage, Zimmer 37, antwortete sie und sah mich immer noch nicht an. „Der Gang auf der rechten Seite.

    Ich suchte gar nicht erst nach dem vermutlich nichtexistierenden Fahrstuhl. Ich fand eine Treppe mit einem Geländer aus Stein. Sie war so breit wie in einem Herrenhaus, aber einige der Treppenstufen wiesen Risse auf und waren an manchen Stellen auch gebrochen. Es fühlte sich an, als stiege ich die dreifache Menge an Stufen empor. Die Treppe führte zu einem Korridor, der um einen Innenhof herumführte. Ich lehnte mich über das Geländer, um einen besseren Blick zu bekommen. Früher war dort unten ein Garten gewesen. Die vertrockneten Sträucher und die mit Unkraut überwachsenen Wege waren der Beweis seiner Existenz. Das war definitiv ein Kreuzgang und daher war das Gebäude wohl einmal ein Kloster gewesen.

    Ich suchte Zimmer 37. Meine einzige Gesellschaft war mein eigener Schatten, den die Sonnenstrahlen durch den Innenhof auf die Wand warfen Ich war froh, dass es noch mitten am Tag war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es wäre, im Dunkeln der Nacht durch diese Gänge zu gehen.

    Ein Schild mit der Nummer 37 hing schief über einer verschlossenen Tür. Bis ich meine Hand auf den Türknauf legte, hörte ich nicht auf, mir Gedanken darüber zu machen, was ich auf der anderen Seite vorfinden würde. Wie würde eine alte Frau reagieren, wenn sie ihre lange verlorengeglaubte Enkeltochter sähe, die mit ihrer Schwiegertochter verschwunden war? Sechzehn lange Jahre waren vergangen, vielleicht würde sie sie noch nicht einmal wiedererkennen. Würde sie mich hassen?

    Nur zu."

    Die imaginäre Stimme war so klar, dass sie mich in der Stille des Korridors erschreckte. Mit einem Ruck ließ ich den Türknauf los.

    „Vielleicht will sie mich gar nicht sehen, dachte ich, als Antwort auf die Stimme. „Vielleicht war die ganze Reise umsonst.

    Verzerrte Bilder jagten durch meinen Kopf, schneller als ein Tornado und auch genauso zerstörerisch. Meine Mutter, wie sie in ihrem Bett lag, mit ihren dünnen Armen, ihrem bleichen Gesicht, bewegungslos und noch immer panisch nach dem Albtraum von diesem Menschen, der einmal ihr Ehemann war. Die Angst, die sie im Laufe der Jahre in den Griff bekommen hatte, war doppelt so schlimm in den letzten Momenten ihres Lebens. Es war einfach unmöglich für sie, auch nur ansatzweise Ruhe und Frieden zu finden. Wie konnte ich mir nur anmaßen, in der Vergangenheit meiner Mutter herumzuschnüffeln, nachdem sie so verängstigt davor weggelaufen war? War nicht die Frau, die in dem Zimmer wartete, die Mutter dieses Mannes?

    Geh schon."

    Mit einer absurden und sinnlosen Bewegung hielt ich

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