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Digitale Transformationen: Gesellschaft, Bildung und Arbeit im Umbruch
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Digitale Transformationen: Gesellschaft, Bildung und Arbeit im Umbruch

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Die bereits angelaufene technologische Revolution wird unsere Art zu arbeiten und zu leben massiv beeinflussen. Rasanter als jede technologische Umwälzung zuvor greift sie in so gut wie alle Lebensbereiche ein. Erstmals in der Geschichte der menschlichen Zivilisation ersetzen Maschinen nicht bloß menschliche Muskelkraft, sondern auch das menschliche Denken und Analysieren. Damit steht die fundamentale Rolle des Menschen im Universum und sein bestimmender Einfluss auf den Gang der Zivilisation zur Disposition.

Während unser Leben von der Komplexität einer wachsenden Zahl immer unübersichtlicher werdender Faktoren bestimmt wird, versuchen Politik und Wirtschaft verzweifelt die lineare Gestaltungslogik des Industriezeitalters aufrechtzuerhalten. Doch die Veränderung von Arbeit, Bildung und Freizeit in einer von Artificial Intelligence, Digitalisierung und Robotik geprägten Welt wird neue soziale Herausforderungen im Zusammenleben der Menschen als Handlungsfelder eröffnen.
LanguageDeutsch
Release dateNov 1, 2018
ISBN9783710603570
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    Digitale Transformationen - Christian Brandstätter Verlag

    Eine der bedeutendsten Entwicklungen unserer modernen Welt ist die Dominanz von Unsicherheit und Ungewissheit.

    Von Heisenbergs Unschärferelation über Schrödingers Katze bis hin zu Anton Zeilingers Quanten-Teleportation; vom atemlosen Tempo, das die Menschen in der digitalen Informationsgesellschaft fordert, bis zu synthetischer Biologie; von der Verschmelzung von Mensch und Maschine durch Robotik und Nanotechnologie bis zur Herausforderung der Bedeutung des Menschen durch Künstliche Intelligenz. Von den immer deutlicher sichtbaren und spürbaren Auswirkungen des Klimawandels bis zur Veränderung gewohnter Gesellschaftsmuster als Folge von Migration und demografischem Wandel. Von der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Roboter bis zur drohenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Irrelevanz traditioneller Bildungsformen und Bildungsinhalte. Ungewissheit als systemimmanente Konsequenz wachsender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Komplexität und Interdependenz dominiert unser Leben in zunehmendem Ausmaß und in nie dagewesener Geschwindigkeit – während Politik und Bildung kontrafaktisch am Versprechen von Eindeutigkeit, Klarheit, Berechenbarkeit und linearen Kausalitäten festhalten. Ungewissheit und Ambiguität sind sowohl vom Bildungssystem als auch von der Politik mit Angst belegt. Je stärker die Ungewissheit, desto stärker die Angst. Wie destruktiv Angst sein kann, beschreibt Rainer Werner Fassbinder in seinem Film „Angst essen Seele auf. Anstatt eines Klimas der Kultur, im Sinne der Pflege des Geistes und der Seele – „cultura animi, wie der von Cicero geprägte Ursprung des Begriffs Kultur besagt – wird zunehmend das Gefühl der Angst gepflegt. Es ist keine Schande, Angst zu haben. Aber es ist schändlich, mit der Pflege von Angst Politik zu machen.

    Angesichts der Wirkungspotenziale einer bereits angelaufenen technologischen Revolution, die an Geschwindigkeit und disruptiver Kraft ohne Vorbild ist, stellen sich heute also ganz andere Herausforderungen an unser Denken und Handeln als im vor-digitalen Zeitalter.

    Während die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten gleichzeitig von der Komplexität einer wachsenden Zahl in ihren Wechselwirkungen immer unübersichtlicher werdender Faktoren bestimmt wird, versuchen Politik und Wirtschaft verzweifelt die lineare Gestaltungslogik des Industriezeitalters aufrechtzuerhalten.

    Wie einst im 19. Jahrhundert die schlesischen Weber trotz ihres gewaltsamen Widerstandes gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze durch die Erfindung mechanischer Webstühle die erste Industrielle Revolution nicht stoppen konnten, so können auch wir im 21. Jahrhundert die aktuellen Veränderungen in unserer Arbeitswelt durch Digitalisierung und Automatisierung nicht stoppen. Die steigenden Automatisierungsraten in China und Indien zeigen bereits die Dimensionen der kommenden Arbeitsplatzverluste auf globaler Ebene.

    Es braucht nicht viel Fantasie, um das enorme sozial und politisch explosive Potential zu erkennen, wenn die Hälfte dessen, was wir als Arbeit verstehen, in weniger als einer Generation zusammenbrechen wird.

    Diese Entwicklungen sind unmöglich zu stoppen. Man kann sie dämonisieren, ignorieren, herunterspielen oder sich ihnen stellen. Gegenwärtig werden sie von der politischen Führung ignoriert oder heruntergespielt, da es keine einfachen Antworten auf diese Situation gibt.

    Ernsthafte Studien¹ schätzen, dass 40 bis 50 Prozent der derzeitigen Arbeitsplätze innerhalb der nächsten 20 Jahre verschwinden werden. 1,2 Milliarden Arbeitsplätze, gerechnet in Vollzeitäquivalenten, und 14,6 Mrd. US-Dollar an Löhnen sind mit Aktivitäten verbunden, die mit der aktuellen Technologie automatisierbar sind.² Dieses Automatisierungspotenzial variiert zwischen den Ländern und reicht von 40% bis 55%.³

    Überall dort, wo Arbeit oder Teile von Arbeitsprozessen durch Algorithmen standardisiert und gesteuert werden können, wird man die Arbeitskraft von Menschen durch Maschinen ersetzen. Das entspricht der ökonomischen Logik, nach der weltweit die Wirtschaft funktioniert. Computer und Roboter sind schneller, flexibler, präziser – und vor allem billiger als menschliche Arbeit.

    Die Implikationen dieser 4. Industriellen Revolution werden zum ersten Mal tief in die vermeintlich gut ausgebildete Mittelschicht hineinreichen. Betroffen sind medizinische Berufe, da Systeme der Künstlichen Intelligenz in Diagnose und Medikation schneller, besser und genauer sind, weil die Computer Millionen von Patientengeschichten und Röntgenbildern mit Hilfe von Bildlesung und Mustererkennung vergleichen. Rechtsberufe werden betroffen sein, da Algorithmen in wenigen Stunden hunderttausende von Dokumentseiten lesen und analysieren können, wofür Heerscharen von Anwälten Monate zum Lesen und Analysieren benötigten. Lehrberufe werden davon betroffen sein, weil Lehren und Lernen an Schulen und Universitäten in wenigen Jahren völlig anders ablaufen werden als an den Bildungseinrichtungen, die wir jetzt kennen.

    Eine häufig gebrauchte Argumentation ist, dass es schon viele industrielle Revolutionen gab, die von neuen Technologien vorangetrieben wurden, und jedes Mal habe es nach einer Phase der Anpassung mehr Jobs gegeben als vorher. Aber die aktuelle technologische Revolution, die bereits begonnen hat, ist in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbar mit früheren technologischen Revolutionen. Ihre Auswirkungen sind tiefgreifender als je zuvor; weite Teile der Wirtschaft, die Politik unserer gesamten Kultur werden sich massiv verändern. Die gegenwärtigen Technologien, von Künstlicher Intelligenz und Robotik bis hin zu Gentechnik und Nanotechnologie, werden in wenigen Jahren praktisch jeden Aspekt des Lebens betreffen und schwerwiegende Auswirkungen auf das menschliche Leben haben. Diese Auswirkungen werden in unterschiedlichen Sektoren parallel und weltweit stattfinden. Selbst wenn bestimmte Technologien nicht sofort und unmittelbar für alle Menschen auf globaler Ebene verfügbar sind, wird ihre Nutzung durch einen Teil der Menschheit Auswirkungen auf andere Teile der Menschheit haben.

    Robotik und Künstliche Intelligenz werden zunächst Arbeitsplätze, die mittleres Bildungs- und Qualifikationsniveau erfordern, zerstören. Jobs, für deren Ausübung nur geringe oder fast keine Qualifikationen notwendig sind, werden aus wirtschaftlichen Gründen länger überleben, und Jobs, die sehr hohe fachliche, disziplinübergreifende und soziale Kompetenzen erfordern, werden von der Automatisierung kaum betroffen sein. Der Übergang wird also für die Masse der mittleren Fachkräfte schmerzhaft sein, da sie ohne signifikante Aus- und Weiterbildung nicht in der Lage sein werden, in neue Jobs, die sehr viel höhere oder ganz andere Fähigkeiten erfordern, zu wechseln. Während der Übergang von einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft fast ein Jahrhundert dauerte und auf bestimmte regionale Teile der Welt beschränkt war, ist die Geschwindigkeit der Implementierung von Robotern und Künstlicher Intelligenz enorm hoch und verbreitet sich über den ganzen Globus. Der Übergangsprozess, der durch die jüngste technologische Revolution verursacht wurde, wird viel mehr Menschen in viel kürzerer Zeit betreffen als jede andere industrielle Revolution zuvor. Wenn durch die aktuelle technologische Revolution überhaupt zusätzliche neue Arbeitsplätze geschaffen werden, welche die Zahl der zerstörten Arbeitsplätze aufwiegen, dann wird dies jedenfalls ein äußerst schmerzhafter und gefährlicher Prozess sein. Es ist kein Geheimnis, dass die dramatisch und schnell steigende Arbeitslosigkeit erhebliche negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, die eindeutig mit Armut, Kriminalität, physischen und psychischen Krankheiten sowie politischer Radikalität korrelieren.

    Das sogenannte „Ende der Arbeit kann aber eine neue Art von Wirtschaft schaffen. Laut Harvard-Ökonom Lawrence Katz können Informationstechnologie und Roboter zwar traditionelle Arbeitsplätze eliminieren, aber es ist möglich, „dass eine neue handwerklich orientierte Wirtschaft entsteht (…) eine Wirtschaft, die auf Selbstentfaltung ausgerichtet ist, wo Menschen mit ihrer Zeit künstlerische Dinge tun. ⁴ Dieser Übergang würde die Welt vom Primat des Konsumierens zum Primat der Kreativität bewegen. Und in der Tat: In einer von Künstlicher Intelligenz, Digitalisierung und Robotik geprägten Welt wird der Mensch nur mehr durch kreative Denkprozesse relevante soziale und ökonomische Effektivität erreichen können. Das heißt, durch Prozesse, die Verbindungen schaffen, an die man bisher nicht gedacht hatte oder die als undenkbar galten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zivilisation ersetzen Maschinen nicht nur die Kraft menschlicher Muskeln, sondern auch komplexe menschliche Gedankensammlungen. Selbstlernende Maschinen treten als autonome Gestalter des Weltgeschehens in eine direkte Konkurrenzbeziehung zum Menschen.

    Die Fähigkeit der Menschen, etwas zu bewirken, wird sich nicht mehr dadurch ausdrücken, wie sie ihre Gedanken in materielle Form bringen, sondern wie sie sich stattdessen in der Verbindung von intellektuellen, intuitiven, sozialen und emotionalen Prozessen manifestieren. Maschinen können das nicht – oder zumindest noch nicht. Maschinen können Muster aus einer Vielzahl bereits durchgeführter Prozesse erkennen und für einen bestimmten Zweck systematisieren. Intuition und Emotion bleiben (vorerst) die Domäne des Menschen, auch wenn Maschinen Emotionen erkennen und sie sogar mit bereits gespeicherten emotionalen Mustern simulieren können. Den „Race against the Machine" ⁵ wird die Menschheit nur dann gewinnen, wenn sie sich auf jene Bereiche konzentriert (und diese durch Bildung fördert), in denen Menschen per definitionem besser sind als Maschinen. So paradox es klingt, es ist ausgerechnet die technologische Revolution, die zu einer Renaissance der menschlichen Evolution jenseits von Virtualität und Digitalität und quantifizierbarer Effizienz führen wird. Die von Aristoteles konstruierte Dichotomie zwischen Vita activa und Vita contemplativa, die zur Bedingung hatte, die Gesellschaft in Bürger und Sklaven zu spalten, könnte im Zeitalter der digitalen Maschinen auf völlig neue Weise interpretiert werden.

    In der antiken griechischen Gesellschaft – auf die viele westliche Politiker oft verweisen – verbrachten die freien (damals nur männlichen) Bürger ihre Zeit damit, zu denken, zu debattieren, zu schreiben, Entscheidungen über die politische, ökonomische und soziale Entwicklung der Gesellschaft zu treffen, an künstlerischen und sportlichen Aktivitäten teilzuhaben und sich um das körperliche und seelische Wohl von Mitmenschen zu sorgen, jenseits von sogenannten niederen Dienste, wofür die Sklaven zuständig waren.

    In unserer Zeit könnten wir tatsächlich darüber nachdenken, eine Gesellschaft von freien Männern und Frauen (!) zu haben, die ihr Leben der Gestaltung ihres privaten und gesellschaftspolitischen sowie des sozioökonomischen Bereichs widmen, sich aktiv an der gemeinsamen Entwicklung ihres kulturellen, politischen und wirtschaftliches Umfeldes beteiligen. Wenn die Rolle der Menschheit im Prozess der Zivilisation zur Disposition steht, wenn neue Technologien große Teile der bekannten menschlichen Arbeit übernehmen, wenn die Bedeutung der menschlichen Arbeit in ihrem philosophischen, politischen und wirtschaftlichen Kontext neu definiert werden muss – dann ist es an der Zeit, über die Veränderung der Struktur unserer Gesellschaft und über die Fundamente gesellschaftlichen Zusammenhalts nachzudenken. Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft von freien Männern und Frauen (!), die von Robotern und selbstlernenden Maschinen unterstützt werden? Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft, die ihre Identität von einer neuen Definition und sozialen Funktionalität menschlicher Arbeit erhält?

    Was ist die Alternative zu einer Gesellschaft, die auf einer Definition von gesellschaftlichem und sozialem Engagement basiert, die sich eher auf die antike griechische Gesellschaft bezieht als auf die Gesellschaft, die von den Bedürfnissen und Mechanismen der letzten drei Industriellen Revolutionen geprägt ist?

    Gibt es für die Bedingungen des digitalen Zeitalters eine sozial und wirtschaftlich sinnvolle Alternative zu einer Gesellschaft, in der sich die Menschen auf Bildung, Forschung, Kunst und Politik konzentrieren und die soziales Engagement als gesellschaftliche Aufgabe ansieht? Die ebenso realistische wie gefährliche Alternative ist die noch extremere Spaltung der Gesellschaft in eine kleine Minderheit, die gut entlohnte Arbeit, hohe Bildung und ein sinnerfülltes Leben hat und eine große Mehrheit, die weder Arbeit noch ausreichendes Einkommen hat, über geringe oder inadäquate, insbesondere enggeführte, mono-disziplinäre Bildung verfügt und die aus all diesen Gründen kein existenziell abgesichertes und schon gar nicht sinnerfülltes Leben führen kann.

    Eine Neudefinition des Konzepts der menschlichen Arbeit ist angesichts der technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unumgänglich. Das Ergebnis dieser Neudefinition wird näher bei dem von Ralf Dahrendorf geprägten Begriff „sinnvolle Tätigkeit" ⁶ liegen als bei den nach quantitativen Parametern wie Zeit, Stückzahlen oder Geschäftsfälle bemessenen Ausformungen von Lohnarbeit, die auf die Bedingungen des Industriezeitalters zurückgehen, welche dann systemkonform auf die Dienstleistungswirtschaft umgelegt wurden.

    „Die Gesellschaft der Zukunft ist eine Gesellschaft freier, selbstbestimmter Menschen. Eine Gesellschaft von Menschen, die sich an den vielen kleinen Dingen des Lebens erfreuen und ihnen Sinn abgewinnen; egal ob sie als Jäger nach neuen, ungekannten Erlebnissen suchen, sich als Hirten um ihre Angehörigen, Freunde und die Hilfsbedürftigen kümmern oder als Kritiker die Gesellschaft überdenken und weiterdenken."

    So beschreibt der Philosoph Richard David Precht seine positive, auf die Menschen und nicht auf die Technik zentrierte Utopie im digitalen Zeitalter.

    Aber das Konzept der menschlichen Arbeit war und ist mit dem Konzept von Bildung verbunden. Veränderungen in den Mechanismen der menschlichen Arbeit führten zu jeder Zeit zur Änderung der Prinzipien und des Inhalts von Bildung. Umgekehrt war eine Veränderung im Bildungssystem oft Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Umwälzungen. Die Industrialisierung Europas ist untrennbar verbunden mit der gesetzlichen Einführung und praktischen Umsetzung der Allgemeinen Schulpflicht. Preußen hat die Allgemeine Schulpflicht von sechs Jahren bereits 1717 eingeführt und diese im Jahr 1763 auf acht Jahre erhöht. Die Analphabetenrate in Preußen sank rasch auf ein Minimum, was der Entwicklung einer stabilen Staatsverwaltung und eines starken Heeres förderlich war. In Österreich wurde die gesetzliche sechsjährige Allgemeine Schulpflicht im Jahr 1774 eingeführt, aus unterschiedlichen Gründen aber sehr lückenhaft umgesetzt. Die konsequente Umsetzung der Allgemeinen Schulpflicht samt Erhöhung auf acht Jahre erfolgte in Österreich erst ab dem Jahr 1869 – kurz nach der katastrophalen Niederlage Österreichs gegen Preußen in der Schlacht von Königgrätz. Thomas Nipperday hat daher den Preußischen Schulmeister als den Gewinner der Schlacht von Königgrätz 1866 bezeichnet.⁸ Die Einführung der Allgemeinen Schulpflicht war ein systemischer Paradigmenbruch. Im Gegensatz dazu wurden die europäischen Bildungssysteme mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft und von dieser zur sogenannten Wissensgesellschaft lediglich inhaltlich erweitert – insbesondere durch Fragmentierung – und an neue Erkenntnisse angepasst. Das grundsätzliche System, dem Lehre und Lernen folgt, blieb aber auf allen Bildungsebenen weitestgehend erhalten.

    Angesichts der dramatischen Wirkungspotenziale der aktuellen technologischen Revolution, die an Geschwindigkeit und disruptiver Kraft ohne Vorbild ist, stellen sich heute ganz andere Herausforderungen an unser Denken und Handeln als im vor-digitalen Zeitalter.

    Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde der klassische Kanon der Kulturtechniken – Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen – um die Fähigkeit erweitert, sich digital zu verständigen und zu artikulieren. Menschen, die diese Fähigkeit nicht beherrschten, wurden als digitale Analphabeten mit sozialer Marginalisierung bestraft und erlitten erhebliche Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.

    Im 21. Jahrhundert muss dieser Kanon der Kulturtechniken erneut erweitert werden. In Anbetracht der Herausforderungen durch die rasche Abfolge tiefgreifender Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind Fähigkeiten gefragt, die man als „creative and transferable skills" bezeichnen kann. In deren Mittelpunkt stehen Kreativität und die Fähigkeit sich nicht nur auf neue Bedingungen rasch einzustellen, sondern grundlegende Veränderungen selbst anzustoßen und willkommen zu heißen:

    •   Umgang mit Ambiguität und Ungewissheit;

    •   Imagination und Assoziation;

    •   Intuition;

    •   Denken in Form von Alternativen;

    •   unkonventionelle Kontexte herstellen;

    •   den Status quo hinterfragen;

    •   Perspektiven wechseln und

    •   erkennen, dass es andere Kommunikationsformen als verbale gibt.

    Der Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderung ist ein Bildungssystem, welches die Vermittlung und den projektbezogenen Einsatz dieser Fähigkeiten als zentrale Bildungsziele sieht. Nicht isoliertes Fachwissen allein ist die Basis für Innovationskraft, sondern die Fähigkeit, in interdisziplinären und interkulturellen Kontexten zu denken und zu handeln, bestehende intellektuelle wie gewohnheitsmäßige Gewohnheiten zu hinterfragen, mit neuen Szenarien zu kommen und mit der eigenen Arbeit Staunen zu erzeugen. Die Forderung nach einer Stärkung der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zur Bewältigung der Herausforderungen des Digitalen Zeitalters ist ein gutes Beispiel dafür, dass man mit dem Wissen und den linearen Denkmustern der Vergangenheit die Probleme der Zukunft nicht lösen kann. Natürlich kann man auf Spezialwissen und Fachexpertise nicht verzichten, das allein reicht aber bei Weitem nicht aus. Im Gegenteil: Wenn man alle Energien und Ressourcen in diese eindimensionale Handlungsstrategie steckt, dann wird diese Strategie selbst zum Teil des bestehenden und sich verstärkenden Problems, weil es vorhandene problematische Strukturen einzementiert.

    In unserer fragmentierten, vernetzten und uneindeutigen Welt ist es an der Zeit, interdisziplinäre Innovationsexperten auszubilden: Spezialisten für De-Spezialisierung!

    Während das Bildungsbürgertum immer noch über den Niedergang eines längst verlorenen Ideals der enzyklopädischen Bildung klagt, und die Hauptakteure in der Bildungspolitik – von der Regierung bis zu den Universitäten – eine Politik der kosmetischen Reparatur der Symptome verfolgen, rast unser Bildungssystem in die bildungspolitische Sackgasse. Bildung und Forschung formen sich um ein Paradigma des Wissensfortschritts, das vor allem in Disziplinen oder subdisziplinären Nischen definiert und durch quantitative, bibliometrische Indikatoren gemessen wird. Dass komplexe Wirkungsmechanismen zunehmend die Grenzen akademischer Disziplinen überschreiten, wird in unserem Bildungs- und Forschungssystem weitgehend ignoriert.

    John Dewey, der sich nicht zuletzt mit der Beziehung von Kunst und Gesellschaft beschäftigte, hatte ein anderes, damals wie heute nicht im akademischen Mainstream liegendes Bild von Wissenschaft, das er am Beispiel der Philosophie so beschrieb: „Philosophie gewinnt sich selbst wieder zurück, wenn sie nicht länger ein Hilfsmittel ist, um die Probleme der Philosophen zu lösen, sondern zu einer von Philosophen kultivierten Methode wird, um die Probleme der Menschen zu bewältigen."

    Friedrich Kiesler, der 1926 aus Österreich in die USA ausgewanderte visionäre Denker, Architekt und Designer, entwickelte in den 1930er Jahren eine Theorie, die unter Aufhebung aller Kunstgattungen und unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kenntnisse Mensch und Umwelt als ganzheitliches System komplexer Wechselbeziehungen versteht. Correalismus ¹⁰ nannte er diese Theorie, die heute von ungeahnter Aktualität ist. Kieslers Überzeugung, dass visionäres Denken zugleich realistisches Denken ist, macht Mut in Zeiten zunehmender Mutlosigkeit. Mehr noch: Kieslers Denkansatz wird immer wichtiger, je mehr unsere Welt von Unsicherheit und Ambiguität gekennzeichnet ist, weil diesen Herausforderungen nicht allein mit der Anwendung von Algorithmen und Robotern begegnet werden kann, sondern primär mit visionärem, korrelativem Denken, das der herrschenden Dominanz von Standardisierung und Fragmentierung kühn entgegengesetzt wird.

    Bereits 2009 hatte das European Research Area Board einen Paradigmenwechsel im Denken und in der Rolle der Wissenschaft gefordert. Ein neues „holistisches Denken" wäre notwendig; Wissenschaft und Forschung sollten systemischen Wirkungen mehr Aufmerksamkeit schenken als engen Zielen. Der bemerkenswerte Titel des Berichts war „Preparing Europe for a New Renaissance".¹¹

    Nie zuvor in der Geschichte haben die Menschen so viel Wissen hervorgebracht. Gegenwärtig gibt es 34.550 peer reviewed wissenschaftliche Zeitschriften auf der Welt. Jedes Jahr werden 2,5 Millionen wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht; alle 12 Sekunden erscheint ein wissenschaftlicher Artikel in einer Zeitschrift.¹² Angesichts dieser Explosion des Wissens scheint eine enzyklopädische Erziehung eine absurde Behauptung zu sein. Da wir Zugriff auf eine Technologie haben, mit der wir unbegrenzt viel Wissen speichern und in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit in jedem gewünschten Detaillierungsgrad abrufen können, sollte die Aufbereitung und Verknüpfung von Wissen in das Zentrum des Bildungsbegriffes gestellt werden. Das ist umso wichtiger, als mono-disziplinäres Wissen ohne die Sicht auf den interdisziplinären Zusammenhang nicht mehr das erfüllen kann, was sowohl die nationale Parlamente ¹³ als auch die Europäische Union ¹⁴ für die Universitäten zur obersten Priorität erklärt haben: „verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen und an der Bewältigung der „Grand Challenges mitzuwirken.

    Der Erwerb von Wissen über das Potenzial von Verbindungen zwischen den Disziplinen und vernetztem Fachwissen ist eine Expertise, die als Ergänzung zur Expertise in hochspezialisierten Wissensbereichen unverzichtbar ist. Die Geschwindigkeit des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts sowie

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