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Spätsommer: Roman
Spätsommer: Roman
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Spätsommer: Roman

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About this ebook

Corey ist ein Verlierertyp, ein verklemmter Pechvogel, dem nichts so richtig gelingt und der stets im Schatten steht. Er will nur irgendwie durchkommen, ohne anzuecken, arbeitet an seiner heterosexuellen Fassade, und wenn's brenzlig wird, schaltet er auf 'Autopilot'. So stolpert er von einer Katastrophe in die nächste, erklärt dem Leser dabei aber immer wieder, wie fantastisch er gerade noch einmal die Kurve gekriegt hat. An seine Grenze stößt Corey, als plötzlich seine heimliche Jugendliebe Scott vor ihm steht. Das große Glück ist mit Händen zu greifen, was soll er nur tun?

Mit viel Sympathie zeichnet Ebmeier seinen Helden und lässt den Leser auf anrührende Weise an dessen skurrilen Verrenkungen teil haben. Am Ende dieser aufregenden Achterbahnfahrt gönnt er ihm fast ein Happy End.
LanguageDeutsch
Release dateJun 1, 2011
ISBN9783863000493
Spätsommer: Roman

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    Spätsommer - Larry Ebmeier

    2011

    1

    Es gibt hier einen Geistlichen, der zufälligerweise auch Therapeut ist. Einmal erklärte er mir, Sex sei so etwas wie das Tüpfelchen auf dem i. Damit wollte er sagen, dass Sex für zwei Menschen die natürliche Steigerung ihrer geistigen Verbundenheit und somit den höchstmöglichen Ausdruck einer bereits bewährten Vertrautheit bedeuten sollte. Um das herauszufinden, musste ich dem Geistlichen, der zufälligerweise auch Therapeut ist, fünfzig Dollar bezahlen, doch ehrlich gesagt, diese Weisheit hätte ich bestimmt in jedem Groschenroman nachlesen können.

    Natürlich nennt man sie heutzutage nicht mehr Groschenromane, und ich bezweifle stark, ob man noch irgendwo einen Roman für so wenig Geld kaufen kann. Jedenfalls keinen neuen Roman. Höchstens einen gebrauchten, den man in einer Ramschkiste findet.

    Zunächst wusste ich überhaupt nicht, dass dieser Geistliche auch Therapeut war, und schon gar nicht, dass sein Beratungshonorar genauso hoch wie das eines Therapeuten war. Mir war lediglich ein Handzettel aufgefallen, durch den kurz auf seine Sexualberatungen hingewiesen wurde, und ich entschied mich, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich bin katholisch und hätte genauso gut einen unserer Priester aufsuchen können, doch da die katholische Kirche ziemlich finstere Ansichten über homosexuelle Männer hat, beschloss ich, einen Geistlichen aufzusuchen, der Methodist war. Und zweifelsohne war er ziemlich kompetent. Nachdem ich die ersten Sitzungen hinter mich gebracht hatte, dachte ich beim Nachhausefahren: Also, Corey, du musst zugeben, selbst für einen Geistlichen versteht er eine ganze Menge von psychologischer Beratung.

    Doch dann erhielt ich am Ende der dritten Sitzung eine Rechnung über hundertfünfzig Dollar. Können Sie sich das vorstellen? Drei Wochen und hundertfünfzig Dollar? Meiner Meinung nach ist das eine ziemliche Stange Geld. Hätte ich vorher gewusst, dass sein Honorar derart hoch war, hätte ich mich bloß einmal im Monat für eine Sitzung angemeldet oder vielleicht zweimonatlich, wie bei meinem Frisör, aber ganz bestimmt nicht einmal pro Woche. Niemals. Ich mag zu der Zeit wirklich Probleme gehabt haben, aber bestimmt nicht genug, um fünfzig Dollar in der Woche auszugeben. Eine derartige finanzielle Unregelmäßigkeit ist bei weitem zu extravagant für mich. Nicht einmal für mein Auto habe ich jemals so viel ausgegeben, und im Gegensatz zu Luxusgütern wie einer Sexualberatung oder einem Stereo-Videorekorder ist ein Auto heutzutage schließlich eine notwendige Anschaffung.

    An dem Tag, als der Geistliche, der zufälligerweise auch Therapeut ist, darüber sprach, dass Sex nur das Tüpfelchen auf dem i sei, forderte er mich auf, eine meiner liebsten sexuellen Fantasien zu beschreiben. Der Grund dafür war, dass er mich kurz zuvor gebeten hatte, ein wirkliches sexuelles Erlebnis zu beschreiben, worauf ich entgegnet hatte: «Es tut mir wirklich leid, aber es gibt kein Erlebnis, über das ich sprechen könnte. Das ist der eigentliche Grund meines Kommens, Reverend.»

    Daraufhin sagte er: «Das macht nichts, Corey. Sie brauchen sich deswegen nicht zu schämen. In der Tat bedeutet eine geringe sexuelle Aktivität auch ein äußerst geringes Risiko, sich bestimmte Krankheiten einzufangen.»

    «Was denn für Krankheiten, Reverend?»

    «Krankheiten, die durch Sex übertragen werden, Corey, wie zum Beispiel Hepatitis, Geschlechtskrankheiten oder Infektionen der Harnwege. Ganz besonders Infektionen der Harnwege – der Fluch des befreiten Mannes; und der befreiten Frau, Corey. Also, schämen Sie sich nicht.»

    In Wahrheit schämte ich mich doch. Mir war zu Mute, als wäre ich endlich aus meinem Schattendasein hervorgekrochen, nur um gleich wieder in ewiger Finsternis versinken zu müssen. Doch er sagte: «Mr. Reese, Sie brauchen sich nicht wie ein Frosch vorzukommen, denn Sie werden herausfinden, dass Sex zu einem guten Teil aus Fantasien besteht.» Mir war unklar, ob er damit meinte, dass sexuelle Fantasien einen entscheidenden Anteil am Sex ausmachen, oder ob sie sogar der beste Teil davon sind. Ich befragte ihn jedoch nicht weiter zu diesem Thema, und als ich später herausgefunden hatte, wie hoch sein Beratungshonorar war, fühlte ich mich überglücklich, keine unnötige Zeit darauf verschwendet zu haben.

    Meine Fantasie begleitet mich schon seit den Tagen, als ich herausbekam, was Sex ist und was man dabei alles anstellen kann. Der Geistliche nannte das sexuelles Erwachen, ich dagegen nenne es eine verlassene Farm nördlich der Stadt. Es ist eine wunderschöne Farm, so wie verlassene Farmen nun mal sind. Die lange, gerade Auffahrt ist von hohen Kiefern gesäumt, und am Ende befindet sich eine von diesen großen Scheunen mit hohem sechseckigem Dach, deren einstmals rote Farbe ganz verblasst ist. Dann gibt es noch mehrere Außengebäude, die mit verwitterten grauen Holzschindeln verkleidet sind und leerstehen, seit vor Jahren die Farbe von ihnen abblätterte. Eines der Gebäude, ein kleines Hühnerhaus, dessen Schrägdach in abfallender Richtung nach Norden oder in aufsteigender Richtung nach Süden zeigt, je nachdem, wie Sie es betrachten, ist jedoch noch immer von der gleichen leuchtend roten Farbe wie an dem Tag, als es angestrichen wurde. Von dort aus hat man einen Blick über ein kleines Tal, dessen Hügel im Frühling und im Sommer ganz mit Mais bedeckt sind. Warum das Hühnerhaus noch immer so rot ist, werde ich wahrscheinlich nie erfahren.

    An der Stelle, wo früher das Wohnhaus stand, wuchert jetzt nur noch hohes Büffelgras. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment, ich komme gleich zum schlüpfrigen Teil. Sehen Sie, früher stieg ich oft auf mein Fahrrad und fuhr zu dieser verlassenen Farm hinaus, wo ich stundenlang durch das hohe Büffelgras watete und mich in das staubige alte Stroh auf der Tenne der alten Scheune legte, wo durch die Lücken zwischen den Holzplanken und durch zwei kleine quadratische Fenster, die vom Dreck vieler Jahre völlig verschmiert waren, die Nachmittagssonne hineinblinzelte. Gewöhnlich stellte ich mir dann vor, wie es wohl wäre, mit dem Objekt meiner Sehnsüchte in dem staubigen Stroh oder im Büffelgras oder sogar in dem Hühnerhaus Sex zu haben.

    Das Objekt meiner Sehnsüchte ist groß und schlaksig, gut gebaut, mit einem jungenhaften Gesicht, und ist ein überaus maskuliner Mann mit derbem Benehmen, der innerlich aber immer noch wie ein Junge ist. Unter einer durchgeschwitzten Baseballkappe schauen seine stahlblauen Augen und sein dünnes strohblondes Haar hervor, und die Ärmel seines blauen Flanellhemds sind bis über den Bizeps aufgerollt und enthüllen goldbraune sehnige Arme, deren kräftige Muskeln mit dicken Adern überzogen sind. Seine staubigen Jeans sitzen so eng, dass sich sein knackiger, muskulöser Hintern in ihnen abzeichnet und man sehen kann, dass er ziemlich gut bestückt ist. Gut bestückt ist ein Ausdruck, der hauptsächlich von Homosexuellen verwendet wird und sich auf den Schritt bezieht. Der Mann ist voller Lebenslust und von überschäumender Vitalität und ist am treffendsten als unverzagter Geist zu beschreiben. Das ist für mich besonders erregend, denn ich selbst bin ein durch und durch verzagter Geist.

    Ja, und jetzt sind wir schon die allerbesten Freunde. Sein Name ist Scott Sommerfeld, aber ich habe nie ernsthaft daran geglaubt, bei ihm landen zu können.

    Außer dass er sich meine sexuellen Fantasien anhörte, brachte mir der Geistliche, der zufälligerweise auch Therapeut ist, noch eine wunderbare Entspannungstechnik bei, bevor ich in weiser Voraussicht meine Besuche zu fünfzig Dollar die Woche einstellte.

    Gummibälle.

    Sie müssen aus echtem Gummi sein, Plastik ist aus irgendeinem Grund nicht so gut geeignet. Man legt sich auf den Fußboden und versucht, eine bequeme Stellung zu finden, dann legt man sich den größten Gummiball – insgesamt sind es drei, ein großer und zwei kleine – unter den Kopf, genau am Nackenansatz. Man schließt die Augen und rollt mit dem Kopf langsam über den großen Gummiball. Die kleinen Bälle kann man je nach Belieben unter den Schultern, dem unteren Rückenbereich, in den Kniekehlen, unter den Hacken oder aber am untersten Ende der Wirbelsäule platzieren, also überall dort, wo die Muskeln verspannt sind. Ich habe diese Technik schon sehr häufig angewandt, seit ich bei dem Geistlichen gewesen bin, und das mit einigem Erfolg, sodass ich sie jedem ans Herz legen kann. Ich glaube, der Geistliche erwähnte sogar, dass diese Methode von einem berühmten New-Yorker Schauspiellehrer entwickelt wurde.

    Manchmal krame ich meine alte Scott-Sommerfeld-Phantasie wieder hervor, während ich mich auf den Gummibällen auf meinem Wohnzimmerteppich entspanne. Mein Gott, Sie hätten ihn sehen müssen in seinem offenen Flanellhemd.

    Scott und ich lernten uns 1960 kennen, gleich nachdem er neu in die zweite Klasse in Grinnell gekommen war. Die kleine Schule auf dem Land, die er bis dahin besucht hatte, war geschlossen und mit unserer zusammengelegt worden, und so befand er sich in Grinnell im Nachteil, da dort alles neu und ungewohnt für ihn war. Ich stürzte mich auf ihn wie ein Immobilienmakler, der gerade ein unter Preis angebotenes Grundstück mit erheblichem Wertsteigerungspotenzial entdeckt hat, das man später mit einer zweiten Hypothek belegen konnte. Freundschaften konnte ich damals nur schließen, wenn ich sicher war, dass der andere im Nachteil war.

    Scott war ein recht hübscher kleiner Junge mit ganz hellblondem, dünnem, glattem Haar, einem engelhaften Gesicht mit einer schmalen Adlernase, schmalen Handgelenken und zartgliedrigen Händen; Künstlerhände, wie Mutter sie nannte.

    Die Kunst war auch das erste, was uns miteinander verband, und da wir beide begabt für unser Alter waren, widmeten wir uns im Unterricht dem Zeichnen von Autos, Lastwagen, Zügen und Flugzeugen. Als wir in die Junior High School kamen, entwarfen wir gemeinsam Autos und schworen uns, Autodesigner zu werden, wenn wir groß waren.

    Scott sah nicht nur besser aus als ich, sondern er war auch sehr sportlich, extrovertiert und hatte einen seltenen Sinn für Humor. Soweit ich mich erinnern kann, machte er sich niemals Sorgen und nahm nichts so richtig ernst. Das kam daher, beschloss ich für mich, dass er dünn war und ich fett. Dünn zu sein hieß, anerkannt zu werden, und besser noch, es bedeutete, dass er Mannschaftssport betreiben und an Leichtathletikwettkämpfen teilnehmen konnte. Auf diese Weise konnte er Kontakte mit anderen schließen, was ich nicht konnte. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist das Gefühl völliger Entfremdung, das mich überkam, wenn ich ihn mit seinen Mannschaftskameraden und Kumpanen in den Umkleideräumen scherzen und herumalbern sah, während ich abseits stand und mich fragte, was es wohl mit dieser lächerlichen Art, sich Handtücher um die Ohren zu schlagen, dem Gekreische, wenn sie sich gegenseitig durch den Duschraum jagten, und dem endlosen Gejohle auf sich habe.

    Wie Sie sicherlich bereits vermutet haben, hielt man mich für einen vertrottelten Langweiler. Ich wurde «Fettsack», «Fettfleck», «fettes Monster» und, allzeit beliebt, «Fetter Irving» genannt.

    Jedes Mal, wenn Mutter mit mir in die Stadt fuhr, um mir neue Kleidung zu kaufen, hieß es: «Oh, Mrs. Reese, ihr Corey wird ganz bestimmt einmal ein richtiger Brocken! Nein so was, Corey, schau dich bloß mal an. Aus dir wird eines Tages garantiert ein klasse Footballspieler!»

    Wenn ich heute zurückdenke, finde ich, dass Corey damals nicht der richtige Name für mich gewesen ist. Corey klingt einfach nicht «fett». Vater heißt Ralph. Ralph wäre ein ausgezeichneter «fetter» Name gewesen, und da ich der Erstgeborene war, erscheint es mir wie ein Wunder, dass ich nicht Ralph genannt und dann «Junior» gerufen wurde. Oder Fred. Fred ist ein guter, kugelrunder Name. Denken Sie nur an Fred Mertz in I love Lucy. Und dann ist da natürlich noch Irving. Irving Reese. Das hätte gepasst, außer dass «Reese» irgendwie auch nicht «fett» genug klingt. Anderson wäre besser gewesen. Irving Anderson. Das wäre perfekt gewesen.

    Kürzlich las ich, dass das frühzeitige Entfernen der Mandeln bei Kindern zu Fettleibigkeit führen kann. Meine Mandeln wurden mir mit vier herausgenommen, das muss es also gewesen sein.

    Der einzige Vorteil, den ich als Kind gegenüber Scott hatte, war, dass ich mehr Spielzeug besaß. Scotts Vater hatte ungefähr siebzig Hektar Trockenfarmland gepachtet, das, wie alles Land in der Umgebung von Grinnell, mit Mais bepflanzt war. Selbst in den Sechzigerjahren reichten siebzig Hektar Ackerland kaum zum Überleben.

    Im Sommer fuhr Scott nachmittags für gewöhnlich mit dem Fahrrad die paar Meilen auf dem Higway 146 südlich nach Grinnell bis zu unserem riesigen weißen Haus, das aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts stammte und in seiner Bauweise eine Mischung aus romanischen und Queen-Anne-Elementen aufwies. Er liebte es, das große alte Haus zu erkunden. Dessen hervorstechendste Merkmale waren zum einen ein großer runder Turm, der sich am Südwestwinkel des Hauses befand, und zum anderen die auf der Vorderseite liegende halbrunde Veranda mit ihren Säulen und Sockeln aus Kalkstein. Menschen, die in großen Ballungszentren wie Chicago leben, wären sicher bereit, alles für ein solches Haus zu tun, aber Grinnell war damals wie heute voll davon. Unser Haus befand sich an der Ecke Park Street, gegenüber vom Campus des Grinnell College.

    Scott und ich verbrachten viel Zeit damit, mit meiner elektrischen Eisenbahn von American Flyer aufregende Abenteuer nachzuspielen, egal ob Kriegsgeschichten, Fernsehquizshows oder Kriminalgeschichten. In den Sechzigerjahren war die Idee, in einem Zug ermordet zu werden, für ein Kind noch eine ziemlich aufregende Sache. Ohne jegliche Vorwarnung setzte Scott sein verruchtes Grinsen auf und sagte: «Corey Reese ist soeben im Speisewagen erschossen worden. Äh, welches ist überhaupt der Speisewagen?» Ich zeigte auf einen der Waggons, und er witzelte: «Dort wurde Corey Reese erschossen, während er seine zweite Portion Nachtisch aß.» Dann bückte er sich, kippte den Waggon nach links und sagte: «Sein Körper liegt jetzt auf dieser Seite.» Dann fing er an zu lachen, doch ich lachte nicht mit ihm. Stattdessen starrte ich ihn so lange an, bis er zu lachen aufhörte und sagte: «Scott, manchmal finde ich, dass dein größter Mangel in deinem Übermaß an Sitzfleisch besteht.»

    Woraufhin er nur um so heftiger lachte.

    Scott versuchte mich zu überreden, es an der Junior High School doch mal mit Sport zu probieren. «Corey», bekniete er mich, «woher willst du denn wissen, dass es so furchtbar ist?»

    «Ich bin zu klein und zu fett, und alle werden sich über mich lustig machen, wenn ich es nicht schaffe. Denk nur an das Wählen der Mannschaften. Die beiden Mannschaften werden um mich kämpfen, und unglücklicherweise wird es der Verlierer sein, der mich nehmen muss.»

    «Was ist mit Leichtathletik? Du könntest es mit Kugelstoßen versuchen. Ich weiß, du bist stärker als ich. Dicke Kinder sind immer stark.»

    «Ich bin einfach zu fett, um Turnhosen und T-Shirts zu tragen. Die anderen würden nur lachen und sich über mich lustig machen.»

    Also dachte er kurz nach und sagte dann: «Und was ist mit Mannschaftsführer. Mom glaubt, du könntest Mannschaftsführer werden.»

    «Nein, Scott, das ist ausgeschlossen. Und zwar deswegen, weil ich weder kontaktfreudig bin noch gesteigerten Wert darauf lege, im Umkleideraum verprügelt zu werden .»

    «Sie werden dich schon nicht zertrampeln.»

    «Danke sehr. Doch, werden Sie. Es ist schon schwierig genug, nur für den Sportunterricht dort hinein- und wieder herauszukommen.

    «Ich lass nicht zu, dass sie dich verprügeln.»

    «Vergiss es. Es sind einfach zu viele.»

    Er dachte erneut nach. «Und was ist mit Maskottchen? Wir könnten dir das Tigerkostüm anziehen.»

    «Das ist mir zu eng, und die Schule verfügt nicht über so hohe staatliche Fördermittel, dass sie ein größeres kaufen könnte.»

    «Dann vielleicht Cheerleader? Zwei Cheerleader!»

    «Scott, manchmal würde ich es wirklich vorziehen, einsam zu sein als zusammen mit dir jeglicher Gemeinschaft zu entbehren.»

    Daraufhin ließ er sich von der Bank fallen und kugelte sich vor Lachen. Letztendlich brachte uns der Junior-High-Sportklub auseinander, wenn auch nicht vollständig. Ich muss zu Scotts Rettung sagen, dass er sich während unserer gemeinsamen Schullaufbahn trotz seiner vielen sportlichen und sozialen Verpflichtungen immer noch Zeit für mich nahm; Zeit, damit ich ihm bei den Englischhausaufgaben, bei der Rechtschreibung und in Sozialkunde helfen konnte. Ich durfte ihm sogar bei der Hausarbeit helfen, wenn ich mit meinem Fahrrad zur Farm hinausfuhr, und im Herbst gestattete er mir, die Maiskolben aufzusammeln, die beim Wenden des Maispflückers über den Rand des Felds hinausgefallen waren. Im Sommer hatte ich ihn jedoch fast ganz für mich allein, und wir verbrachten die Tage damit, auf unseren Rädern durch die Gegend zu fahren, Erkundungen anzustellen und im Stadtpark von Grinnell im Gras zu liegen und dem Kondensnebel der Flugzeuge nachzuschauen, während wir den Wind durch die hohen Pinien rauschen hörten.

    2

    Mit dreizehn hatte Scotts Gestalt Konturen angenommen, und von seinen breiten Schultern abwärts bildete sich ein magerer, athletischer Körper heraus. Sein Engelsgesicht wich einem mageren, schönen Jungsgesicht, und sein Haar dunkelte etwas nach und war nun nahezu strohblond. Er flößte mir Ehrfurcht ein, aus Gründen, die ich nicht begreifen konnte. Just in dem Moment, als ich mir einzureden begann, dass unsere Freundschaft für immer eine erfreuliche und feste Sache war, etwas, das immer wunderbarer werden konnte, verkündete er, dass er fortziehen werde.

    Es kam ganz unvermittelt. Sein Vater Leopold entschloss sich, das Farmerdasein aufzugeben und nach Chicago zu gehen, um dort Arbeit in einem der Firestone-Werke anzunehmen. Das war im Herbst 1965. Scott rief mich eines samstagnachmittags Ende Oktober an und sagte, ich solle mit meinem Fahrrad raus zur Farm kommen. Es war mitten in der Maisernte.

    Als ich ankam, sah ich Scott mit aufgestütztem Kinn auf der Verandatreppe ihres bescheidenen, eingeschossigen weißen Schindelhauses sitzen, das dringend einen neuen Anstrich brauchte. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, denn gewöhnlich sprang er mir entgegen und machte eine dumme Bemerkung, wie zum Beispiel: «Mom hat gerade Brot gebacken. Möchtest du eins oder zwei?» Doch als ich jetzt auf den Hof fuhr, winkte er mir nur halbherzig zu, erhob sich von der Treppe, zerrte sein Fahrrad aus dem vertrockneten Unkraut und war schon aufgestiegen, bevor ich anhalten konnte. «Los, komm!», brüllte er mir über die Schulter zu. «Lass uns raus aufs Feld fahren.»

    Bis zu der Stelle, wo Leopold gerade die Ernte einholte, war es eine halbe Meile Schotterweg, und Scott fuhr die ganze Zeit vor mir her. Er trug eine Jeansjacke, eine Baseballmütze, ein weißes T-Shirt, verwaschene Jeans und übergroße, klobige Treter, und ich beobachtete seinen geschmeidigen Körper, während er in die Pedale seines alten Schwinn-Rads trat. Manchmal fuhr er im Stehen, bis er Geschwindigkeit zugelegt hatte, dann setzte er sich wieder und fuhr mühelos weiter. Wenn er wollte, konnte er sehr schnell fahren, aber heute war seine Geschwindigkeit mäßig, und ich konnte zusehen, wie die Gesäßtaschen seiner Jeans sich auf dem Sattel hoben und wieder senkten. Es war ein strahlender Oktobertag, und Scotts Gesicht und Nacken zeigten immer noch etwas von ihrer «Farmerbräune». Er war jetzt alt genung, um Leopold während des Sommers eine Menge im Freien zu helfen.

    Als wir das Feld erreichten, ungefähr dreißig Hektar groß und voll mit hoch rankendem, staubedecktem gelbem Mais, sahen wir seinen Vater ungefähr eine halbe Meile weit weg am Steuer eines Traktors, der einen roten, doppelreihig erntenden Maispflücker antrieb. Der Maispflücker zog einen alten braunen Stahlanhänger hinter sich her, dessen Ladefläche durch selbst zugeschnittene, weiß gestrichene Seitenbretter erhöht worden war. Scott fuhr in das Feld hinein, zu einem in der Nähe abgestellten Dodge-Kleintransporter, der fast genau den gleichen braunen Anhänger mit weißen Seitenbrettern hatte. Auf beiden Seiten des Anhängers, jeweils neben dem braunen Metalltrichter, stand in gelben Buchstaben «David Bradley». Damals besaßen viele Farmer in Grinnell solche Anhänger, und ich habe mich immer gefragt, wer wohl David Bradley war.

    Scott stieg von seinem Fahrrad und ließ es in den puderigen grauen Schmutz fallen, den die Fahrzeuge, die beständig zwischen den Feldern hindurchfuhren, dort zentimeterhoch angehäuft hatten. Er setzte sich auf das Trittbrett des Dodge. Ich setzte mich zu ihm. In der Ferne wühlte sich der Maispflücker langsam und geräuschvoll durch das Feld und sah aus wie ein kleiner motorisierter Staubsturm. Die Luft war erfüllt vom wunderbar trockenen und staubigen Geruch der reifen Maiskolben. Der Anhänger war voll.

    «Ich muss den Anhänger zurückbringen und abladen. Willst du mitkommen?»

    «Danke sehr. Sicher doch!», strahlte ich. Eines der aufregenden Dinge an Scotts Farmleben war, dass er Kleinlaster, Lastwagen und Trecker fahren durfte, bevor wir Jungs aus der Stadt auch nur davon träumen konnten, hinter einem Steuerrad zu sitzen.

    «Okay», antwortete er, blieb aber sitzen und starrte weiter in die Richtung, wo die Maschine seines Vaters fuhr. Der Himmel war wolkenlos, und es hatte seit über einer Woche nicht geregnet. Bestes Erntewetter. Eine leichte warme Brise aus dem Süden wehte durch das dünne, strohblonde Haar, das ihm in die Stirn hing.

    «Weißt du was, Corey?»

    «Danke sehr. Nein, was?»

    «Die Maisernte ist für mich die schönste Zeit im Jahr.»

    «Ich denke, das kann ich ein wenig nachvollziehen, Scott, obwohl ich doch das Frühjahr bevorzuge, wenn die Maisrebbler kommen. Weißt du noch, wie großartig es war, auf diesen riesigen Haufen aus Maiskolben zu stehen und ‹König der Berge›zu spielen?»

    Das brachte ihn zum ersten Mal ein wenig zum Grinsen, während er weiter auf den Horizont starrte. «Ja, das war toll.» Er sah mich an. «Das ist das einzige Spiel, in dem du mich jemals geschlagen hast.» Seine hellen, stahlblauen Augen durchdrangen mich, wie sie es immer taten – widerstandslos.

    «Ich bin schwerer und kleiner als du. Mein Schwerpunkt ist größer und sitzt niedriger als deiner, und das ist bei Spielen, bei denen es auf Balance ankommt, von Vorteil.»

    Sein Lächeln verschwand, und er schaute wieder auf den Maispflücker in der Ferne. Plötzlich entfuhr ihm ein tiefer Seufzer, woraufhin seine Schultern in sich zusammenfielen. «Weißt du was, Corey?»

    «Danke sehr. Nein, was?»

    «Sieht aus, als wäre das für immer meine letzte Maisernte.»

    Als ich das hörte, brach in meinem Inneren alles zusammen, doch ließ ich mir weder Schrecken noch Enttäuschung anmerken. Wissen Sie, ich verfüge über eine Art inneren Autopiloten, der in Situationen wie dieser das Steuer übernimmt. Dieser Autopilot hat sich unter dem jahrelangen Einfluss von Disziplin, Selbstkontrolle und Mutter entwickelt. Er bedarf eines hohen Energieaufwands, schaltet sich jedoch fast automatisch ein, wenn ich mich aufrege oder unter Stress stehe. Er ist das unfreiwillige Endergebnis davon, dass ich all die Jahre immer streng dem Vorbild meiner Mutter gefolgt bin. Sie trichterte mir ein, niemandem mein Vertrauen zu schenken und, sollte ich es doch einmal tun, dafür zu sorgen, dass niemand über meine wahren Gefühle Bescheid weiß. Das war lebenswichtg, besonders für einen vertrottelten Langweiler, und als ich dreizehn war, hatte ich meinen Autopiloten vollends perfektioniert. Also sagte ich ruhig und sachlich zu Scott: «Danke sehr. Ich verstehe.»

    «Ja», seufzte er noch einmal und wandte seinen Blick wieder mir zu. «Dad bricht seine Zelte hier ab. Er hat nen Job in Chicago. Wir ziehen in ein paar Wochen um.»

    «Gut.» Ich nickte und starrte in den pudrigen grauen Schmutz. «Ich bin davon nicht völlig überrascht, Scott. Ich hatte damit gerechnet, dass deine Familie hier alles aufgeben würde. Du selbst hast diese Möglichkeit oft angedeutet, indem du dich über den niedrigen Maispreis beklagt hast, der, nebenbei, heute Morgen an der Chicagoer Börse nur mit einem Dollar neun angegeben wurde.»

    Seine durchdringenden hellblauen Augen wichen zur Seite aus, dann sah er mich wieder an. «So? Einen Dollar neun?»

    «Jawohl», bekräftigte ich und nickte mit schicksalsschwerer Miene. «Und der Weizen steht auch nur bei einem Dollar neunzehn.»

    Plötzlich warf er den Kopf zurück und explodierte förmlich vor Lachen. Das erschreckte mich, doch wissen Sie, er hatte nun einmal diese Neigung zu explosionsartigen Ausbrüchen von körperlicher und geistiger Ausgelassenheit. Ich habe dasselbe Phänomen auch bei anderen Männern von der Adoleszenz bis zum Ende des Studiums beobachtet. Und auch in der Ausgelassenheit junger Farmhunde habe ich es bemerkt. Es erinnert mich immer an einen unerwartet heftigen Windstoß. Und ebenso unvermittelt wurde er wieder ernst. «Ja», sagte er, «Dad stinkt es und Mom auch. Mom freut sich auf den Umzug. Ich habe sie schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.»

    «Ich bin erfreut, das zu hören, Scott.»

    «Ja.» Wieder ein Seufzer. «Gleich nach Weihnachten fange ich in Chicago mit der Schule an.»

    Ich sah wieder hinunter in den Schmutz. «Ja, das dachte ich mir. Ach, das wird bestimmt aufregend, Scott. Zur Schule gehen in solch einem großen Ballungszentrum.»

    Er sah in den Schmutz, lächelte einen Moment und schwieg dann mindestens eine Minute. Schließlich sahen wir beide zum Horizont. Leopold hatte gerade am Rand des Felds gewendet und fuhr Richtung Osten zurück. «Ganz bestimmt freust du dich sehr darauf, Scott. Du musst ziemlich aufgeregt sein. Ich hätte schreckliche Angst, aber du bist zweifelsohne aufgeregt, wenn nicht sogar fröhlich. Liege ich da richtig?»

    Er grinste zu mir herüber und antwortete zögerlich: «Glaub schon. Aber n bisschen Angst hab ich auch.»

    Ich zuckte die Achseln. «Alles wird gut gehen, Scott. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Du kommst immer so gut zurecht, ich mache mir um dich überhaupt keine Sorgen. Ich habe mir überhaupt noch nie Sorgen um dich gemacht. Du bist kontaktfreudig. Ich habe nur die elektrische Eisenbahn.»

    Das brachte ihn erneut zum Grinsen. Ich sah noch immer zum Horizont und zum Maispflücker in der Ferne. Ich konnte fühlen, wie seine stahlblauen Augen mich durchdrangen. Nach ein paar Sekunden schluckte er schwer und sagte: «Komm, lass uns den Anhänger abladen, ja?»

    Wir standen auf und kletterten wortlos in das Fahrerhaus des alten Dodge. Scott ließ den Motor an, legte den Gang ein und ließ ihn absaufen. Das passierte ihm äußerst selten, selbst mit einem vollbeladenen Anhänger hinten dran, und ich wusste, dass er beunruhigt und aufgeregt war. «Scheiße!», zischte er und ließ ihn wieder an. Es gab einen Ruck, und das altersschwache Getriebe kreischte widerwillig im ersten und zweiten Gang, während wir langsam aus dem Feld hinaus und auf dem Schotterweg in Richtung Farm fuhren. Während wir so die Straße entlangruckelten, grinste er auf einmal und begann, das kreischende Getriebe des alten Dodge nachzumachen. Jedes Mal wenn er schaltete, machte er ein knirschendes Geräusch mit den Zähnen, so, als würde er einen Gang verfehlen. Er wusste, wie sehr mich das begeisterte, ebenso wie viele andere in der Schule. Er hatte viele Lacher damit geerntet, wenn er im Klassenzimmer das Kreischen alter, schwer beladener Lastwagen in den niedrigen Gängen imitierte.

    Diesmal lachte ich jedoch nicht. Stattdessen schüttelte ich den Kopf und stöhnte: «Scott, hättest du damals in den Vierzigern gelebt, wäre wahrscheinlich ein Pionier der Fernsehunterhaltung aus dir geworden.»

    «Echt?», fragte er halb lachend.

    «Ja. Du hättest der allererste Mensch sein können, bei dem die Leute gelangweilt ausgeschaltet hätten.»

    Daraufhin warf er den Kopf in den Nacken und lachte lauter als je zuvor, doch im nächsten Moment schwieg er wieder und stierte mich von neuem an. «Pass auf die Straße auf.» Ich stöhnte auf, ohne hinzusehen.

    Er grinste, wurde dann ernst und presste heraus: «Ich werde dich vermissen, Cor.»

    «Danke sehr. Das ist doch absurd, Scott. Du wirst deine Mannschaft und deine Kumpane aus den Umkleideräumen in der Schule vermissen, die deinen einfachen Sinn für Humor teilen. Was wirst du schon an mir vermissen?»

    «Du bist so normal.»

    «Normal?»

    «Ja, wie Oliver Hardy. Ein Fettsack, der keinen Spaß versteht. Die perfekte Ausgangssituation.»

    Ich machte einen Schmollmund. «Scott, manchmal missbrauchst du nicht nur meine Zeit, sondern du verdirbst mir die Ewigkeit.»

    Er schlug vor Lachen auf das Steuerrad. «Genauso. Verstehst du, was ich meine?» Dann wurde er ernst. «Ich werde – dich vermissen, Corey. Ehrlich, du bist der einzige Freund, den ich jemals hatte, der wie ein Collegeprofessor redet.»

    «Aha. Danke sehr.»

    «Schreibst du mir?»

    Ich nickte, während ich auf den schmutzigen, vollgerümpelten Boden des alten Lasters blickte. Dort lagen rostige Schraubenschlüssel, Radnabenmuttern, ein Hammer und Drahtstücke zwischen eingetrockneten Schlammresten und verkrustetem Staubschmutz. All das sah aus, als hätte es schon

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