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Die Herrschaft der Großväter. Thriller
Die Herrschaft der Großväter. Thriller
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Ebook319 pages4 hours

Die Herrschaft der Großväter. Thriller

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Mikhail Vulkov wächst in der Ukraine in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater Alkoholiker, seiner Mutter gleichgültig, flüchtet er sich vor den Misshandlungen im eigenen Heim und tritt in die Armee ein. In der Kaserne angekommen, wird er mit dem brutalen System der Dedowaschtschina konfrontiert: Der Herrschaft der Großväter, die alle Rekruten über die Neuankömmlinge ausüben. Nach Jahren der Unterdrückung wird Vulkov schließlich selbst ein Großvater - und zieht nach seinem Ausscheiden aus der Armee eine blutige Spur der Gewalt hinter sich her.

LanguageDeutsch
Release dateDec 11, 2018
ISBN9783990740378
Die Herrschaft der Großväter. Thriller

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    Die Herrschaft der Großväter. Thriller - Michael Koller

    2

    1

    Die Vergangenheit war eine Prophezeiung dessen, was kommen sollte. Wäre ich ein Poet gewesen, hätte ich es eleganter auszudrücken vermocht. Doch ich war kein Poet. Nur eine dunkel gekleidete Gestalt, die dem Herbstwind trotzte. Ich suchte in der Deckung einer kurzen Plakatwand Schutz und steckte mir eine Camel an. Leichter Regen setzte ein. Irgendwo hinter den grauen Wolken stand die Sonne am Firmament. Verdeckt vom Schleier irdener Gewalten. Ich ging weiter. Ließ die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel baumeln. Ein Wohnblock reihte sich an den anderen. Dreißig Stockwerke hoch. An der Basis sehr breit, verjüngten sich die Türme mit zunehmender Höhe. Ähnlich einer Skateboardrampe. Die unteren Geschosse waren mit Balkongärten versehen, deren Eigentümer wuchtige Kistenpflanzen als Sichtschutz hingestellt hatten. Mich störten diese individuellen Abweichungen von Farbe und Symmetrie. Brachten Chaos in die Wahrnehmung einer ansonsten weißen Wand mit schmalen Fensterbändern und dunklen Einbuchtungen. Zerkratzten das Bild der Perfektion. Es war später Nachmittag, und immer mehr Menschen zogen eiligen Schrittes an mir vorüber. Kinder von der Ganztagsschule, die zurück zu ihren Eltern kehrten. Männer in schwarzen Mänteln oder verschmutzter Arbeitskleidung. Frauen im schicken Kostüm ebenso wie in legeren Jeans. Der Strom aus der nahe gelegenen Untergrundbahnstation riss nicht ab, und ich verlangsamte weiter mein Tempo. Sah in diese Gesichter, die vor Schmerz verzerrt, vor Hoffnung gespannt oder vor Gleichgültigkeit zerstört waren. Ich ließ die Kippe fallen, zertrat sie und zündete eine neue Zigarette an. Inhalierte den Rauch und dachte zurück an Charkiw, wo ich in einer vergleichbar großen Wohnsiedlung wie dieser aufgewachsen war. Natürlich in einer nicht vergleichbaren Infrastruktur. Und doch waren die Menschen dieselben geblieben. Bloß steckten sie in anderen Körpern. Hatten andere Geschichten zu erzählen, andere Biographien, hatten vielleicht auch andere Ideologien im Kopf. Ich begab mich zu einem der zahllosen Eingangsportale. Sie waren von braunen Säulen flankiert und erinnerten ein wenig an Periskope. Dort stieg ich die grauen, von Handläufen gesäumten Stufen zum Foyer hoch. Ich setzte mich in eines der harten, leicht ramponierten Kunstledersofas und wartete darauf, dass der Feierabendansturm langsam abklang. Obwohl ich mein ganzes Leben lang immer wieder inmitten großer Menschenansammlungen gestanden hatte, fühlte ich mich stets besser, wenn ich allein war. Niemand rings um mich herum war, dessen Geruch ich wahrnehmen oder dessen Stimme ich ertragen musste. An der Wand direkt vor mir war ein raumhohes Gemälde von Alfred Hrdlicka angebracht, das ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit intensiv studierte. Eigentlich hatte ich von darstellender Kunst wenig Ahnung, da ich mich mehr für Literatur interessierte, doch nach und nach hatte ich mir dieses spezielle Werk erschlossen. Erkannte das Leid, die Angst, den Schmerz und auch die Bedrohung, die in den blassen Gesichtern der dort hingemalten Leute standen. Und je intensiver ich diese Szenerie betrachtete, desto mehr Ähnlichkeit erkannte ich zu jenen Menschen, denen ich gerade erst begegnet war. Wenn auch in einem völlig anderen Kontext. Hrdlickas Figuren ächzten unter dem Joch der Unterdrückung, jene in meinem Kopf unter dem Stiefel des Mammons. Beides hatte seinen ureigenen Schrecken. Nach zwei weiteren Zigaretten erhob ich mich schließlich. Begab mich zu einem der Lifte und fuhr allein in der Kabine hoch in den achtzehnten Stock. Dort schloss ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung auf, streifte die Schuhe ab und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Als ich mit dem Getränk in der Hand raus auf die Loggia ging und runterblickte auf all die Ameisen, die über die Gehsteige wimmelten, nahm ich einen tüchtigen Zug. Und mir kam wieder der Tag in den Sinn, als ich mit sechzehn zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte.

    Rückblende

    Was mochten das für Bäume sein, die da draußen in Reih und Glied angeordnet standen? Schief wie Betrunkene und doch standfest wie die Zinnsoldaten. Keinerlei Äste griffen aus ihren Flanken. Bloß in den Himmel ragende Wassertriebe. Es musste Wochenende gewesen sein. Denn Vater und Mutter waren am späten Vormittag in unserer kleinen Wohnung anwesend. Und ich nicht im Kindergarten. Ich betrachtete diese Bäume vom Rand des in Wellblech gefassten Balkons weiter, während jenseits der Erkertür Glas zu Bruch zu gehen drohte. Wie seltsam die Natur doch war, die solche Gewächse in dieser Betonwüste überleben ließ. Die auch mich erschaffen hatte, um mir vor Augen zu führen, wozu sie imstande war. Und wozu die Geschöpfe imstande waren, die sie sonst noch hervorgebracht hatte. Ich blickte nach vorn, nach oben, nach unten. Nach links und nach rechts. Überall glatte helle Fassaden, die von knapp bemessenen Ausbuchtungen und Vorsprüngen kurz aus dem Tritt gebracht wurden, ehe sie wieder in der Ganzheit der Monotonie ineinander verschmolzen. Bloß jene mit dunkler Rinde überzogenen Bäume brachten Verwirrung in dieses Bild. Und die Schreie, die langsam von drinnen zu meinen Ohren drangen. Das war meine erste Erinnerung an das Leben, in das man mich hineingeboren hatte.

    2

    Ich schloss die Duschkammer und drehte das Wasser eiskalt auf. Einen Moment lang schüttelte es mich durch, dann entspannte sich mein Körper, und ich kam wieder zu Sinnen. Wer in der Roten Armee und später in der Legion gedient hatte, war an Abhärtung gewöhnt. Nach der Morgentoilette zog ich mich an und machte Frühstück, während im Radio die 6. Sinfonie von Jean Sibelius zu hören war. Rhythmische Wehmut, unterbrochen von eruptiven Bläserklängen. Mir gefiel die Interpretation dieses Werks von Leonard Bernstein besser, aber schließlich befand ich mich in Österreich, und so spielte der Sender eine Aufnahme der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel. Das Weißbrot schnalzte aus dem Toaster, und ich begab mich zur kleinen Sitznische in der Küche, wo eine Flasche Milch, etwas Schinken und eine Schale Müsli bereits auf mich warteten. Die Agentur hatte mich Punkt zwölf einbestellt. Ein neuer Auftrag, wie es geheimnisvoll hieß. Bis dahin war Zeit, noch etwas ins Fitnessstudio zu gehen. Nicht aus übertriebenem Ehrgeiz. Nicht aus Leistungs- oder gar Gesundheitswahn. All das war mir fremd. Nein, aber mein Körper war meine Einkommensquelle, meine Existenzsicherung. In vielerlei Hinsicht. Und darum musste ich ihn vor allzu schnellem Verfall bewahren. Den Raubbau an ihm in Grenzen halten. Was mir mit den Jahren zusehends schwerer fiel. Zumal ich bereits in meiner Jugend all meine inneren Ressourcen aufgebraucht hatte. Und jetzt nur noch auf Reserve lief. Bis auch diese sich verflüchtigte und mein Los besiegelte. Ehe es so weit war, wollte ich mich aber nicht kampflos ergeben. Darum konnte ich nur immer weitermachen. Egal, wohin das Schicksal mich auch führte. Jeder Kreatur auf diesem Erdenball war das beschieden. Wenngleich sich ihre Wege stark unterschieden. Ich räumte das Geschirr vom Tisch und begab mich ins Wohnzimmer. Dorthin, wo ich am Vortag meine Gedanken loslassen wollte. Sie ertränkte. Ich griff mir das nächstbeste Buch und schlug es auf. Irgendwo in der Mitte. Ulysses von Joyce. Ich hatte es nie geschafft, es zusammenhängend fertig zu lesen. Dazu hatte es mir ebenso an Ausdauer wie auch an Intellekt gefehlt. Vielleicht aber auch nur an der Begabung, wirklich leiden zu wollen. »Lehm, braun und feucht, begann in der Grube sichtbar zu werden«, stand da. »Stieg an, stieg auf und die Totengräber ließen die Spaten ruhen.« Ich entsann mich jener Stelle in diesem extravaganten Buch. Die Beerdigung von Paddy Dignam. In dem Moment verschwanden die wirren Worte des irischen Schriftstellers und wurden durch ein Bild ersetzt, welches sich bis ins Tiefste meines Gedächtnisses hineingebrannt hatte. Der aufgebahrte Leichnam meines ersten Opfers. Und mein hämisches Grinsen, welches ich damals in einer reflektierenden Glasscheibe wahrnahm.

    Rückblende

    Ich mochte den Kindergarten, der dem Betrieb angeschlossen war, in dem meine Eltern arbeiteten. Wir erfuhren dort viel Zuwendung. Das begann schon, als Mutter mich morgens früh dort abgab. Wir wurden in nach Alter aufgeteilten Gruppen betreut. Machten Morgengymnastik mit Musik, bekamen ein warmes Frühstück und durften unter fürsorglicher Aufsicht spielen. Wenn Schnee lag, gingen wir zum Schlittenfahren und im Sommer zur Naturbeobachtung in den nahe gelegenen Park. Mittags gab es ein dreigängiges Essen, und nach der zweistündigen Ruhezeit in den Kojen beschäftigten unsere Erzieherinnen sich wieder mit uns. Bis wir früh abends von den Eltern geholt wurden. In meinem Fall von meiner Mutter, die noch kurz mit den Aufsichtspersonen sprach, ehe wir uns zur Bushaltestelle und zurück in die Wohnung begaben. Gewöhnlich redeten wir dabei kaum ein Wort. Mutter quetschte meine Bastelarbeiten in einen Stoffbeutel, den sie dann in einem Mülleimer vorm Haus entleerte, und ich sah hoch in die vom künstlichen Licht zerfurchte Dunkelheit.

    3

    »Ein saudischer Prinz kommt übermorgen hierher«, eröffnete der Chef der Sicherheitsagentur das Meeting. Ich hatte schon öfters mit arabischen Adeligen zu tun gehabt und dabei vor allem ihr großzügiges Trinkgeld geschätzt. Was über ihr Benehmen stets hinwegtäuschen konnte. Darum wäre ich nicht abgeneigt gewesen, dort zugeteilt zu werden. »Er hat natürlich seine eigenen Leute mit«, setzte Horst Marek fort. »Aber sie brauchen noch zwei Leute mit Ortskenntnissen.« Da es sich nicht um einen offiziellen Besuch, sondern augenscheinlich um einen ausgedehnten Einkaufsbummel handelte, wurden keine öffentlichen Stellen bemüht, sondern ein privater Dienst. Und Marek war die Nummer eins in Wien. Ich hoffte, diesen Job zu bekommen, doch der Boss, der ebenso wie ich eine Spezialausbildung in Israel gemacht hatte, überreichte zwei anderen Kollegen die Kuverts mit den entsprechenden Instruktionen. Ich griff nach dem vor mir stehenden Pappbecher und trank einen kleinen Schluck Automatenkaffee. Niemand wurde hier in die Zentrale herbestellt, ohne dass es auch einen Grund dafür gab. Also blieb ich gelassen. Kündigungen sprach der Chef nur unter vier Augen in seinem eigenen Büro aus. Und dazu sah ich keinerlei Anlass. Oder doch? Ich ging im Geiste die letzten Aufträge kurz durch. Gewiss. Bei der Generalversammlung eines großen Energieversorgers hatte ich zwei renitente Kleinaktionäre etwas unsanft aus dem Saal befördert und ihnen zum Abschied noch einige tüchtige Ohrfeigen mit auf den Heimweg gegeben. Aber das gehörte mit zum Geschäft. Zumal ich mir sicher war, dass niemand heimlich mit einem gezückten Smartphone mitgefilmt hatte. Dennoch war ich beunruhigt, als Marek mich nun direkt ansprach.

    »Volkov«, sagte er durchaus scharf und nahm mich mit seinen Habichtsaugen ins Visier. Er hatte einst bei einer Spezialeinheit der Polizei gedient, war aber nach einem bis heute strittigen Vorfall mit einem Festgenommenen vom Dienst suspendiert worden, ehe er sich diese Agentur hier aufbaute. Ich nickte kaum merklich. »Was sagt dir der Name Anja Pescher?«, wollte er ohne Umschweife wissen. Daher wehte also der Wind. Ich überlegte kurz.

    »Moderiert beim Fernsehen irgendein Politmagazin«, antwortete ich kurz. Beim Militär lernte man, niemals zu viel zu sagen als unbedingt nötig. Jetzt war mein Arbeitgeber es, der nickte.

    »Was hältst du von ihr?«, hakte er nach. Ich lachte ganz kurz verächtlich auf.

    »Weiß alles besser und glaubt, die Welt mit ihren Illusionen bekehren zu können. Ziemlich einseitig in ihrem Denken.« So wie alle Journalisten, fügte ich in Gedanken hinzu. Marek warf mir einen großen weißen Umschlag zu.

    »Dann bist du genau der Richtige. Sie hat Morddrohungen erhalten, die Polizei sieht aber keinen dauerhaften Handlungsbedarf.« Ich überlegte.

    »Soll das heißen, ich muss mich rund um die Uhr um diese Tussi kümmern?« Der Chef freute sich förmlich über die Aversion, die in meiner Stimme lag.

    »Genau das werden Hausberger und du tun!« Er hatte den Kollegen, mit dem ich mich ablösen sollte, also bereits in Kenntnis gesetzt.

    »Für wie lange?«

    Marek zuckte mit den Schultern.

    »Wenn es sein muss bis zum Sankt Nimmerleinstag. Sie zahlt gut, und es wird kein allzu anstrengender Job für euch werden. Haltet die Augen auf. Vermutlich irgendein Spinner, der sich mit der Guten einen Scherz erlaubt. Dennoch tun wir so, als nähmen wir die Sache ernst. Das ist unser Beruf. In zwei Wochen werdet ihr von einem anderen Team abgelöst. Es sei denn, sie überlegt es sich bis dahin anders.« Der Boss sagte das in einem süffisanten Ton, der darauf anspielte, dass sie womöglich der Gesellschaft von Hausberger oder mir selbst bald überdrüssig werden könnte. Allgemeines Gelächter, meines ausgenommen, war die Folge. Ich erhob mich, ohne das Ende des Meetings abzuwarten, und nahm im Magazin meine Dienstwaffe in Empfang. Sie zu tragen, diente eher der Abschreckung, da man im privaten Begleitschutz nur sehr eingeschränkte rechtliche Befugnisse hatte. Was mich an diesem Auftrag störte, war nicht die Tatsache, zwei Wochen lang zwölf Stunden täglich eingespannt zu sein. Da hatte ich schon wesentlich ungünstigere Arbeitszeiten erlebt. Nein. Mich störte, dass ich in Diensten einer Person stand, die ich zutiefst verabscheute.

    Rückblende

    Als ich in die Grundschule kam, änderte sich einiges in meinem Leben. Ich lernte Schreiben, Lesen und Rechnen. Und mein Vater verlor jegliche Hemmungen. Hatte er sich aus Angst vor den regelmäßigen ärztlichen Begutachtungen im Kindergarten noch zurückgehalten, so ließ er nun seine ganze Wut auf diese Welt an mir aus. Spätestens nach der ersten Flasche Wodka geriet er derart in Rage, dass es keiner Schilderung bedurfte, was er dann mit mir anstellte, während Mutter mit leeren Augen das Geschirr spülte. Wenn er sich an mir verging, hatte zumindest sie ihre Ruhe. So war ihr Selbstschutz aufgebaut. Während andere Familien ihren kostenlosen Anspruch auf ein kleines Grundstück für eine Datscha geltend machten, um dort Gemüse anzubauen und etwas Glück zu erleben, vertrank mein Vater seinen Verstand ebenso schnell wie das Geld, das man ihm auszahlte. Und meine Mutter sah ohnmächtig zu. Leistete dem sogar Vorschub. Warum auch immer.

    4

    Die TV-Station hatte ihre eigenen Sicherheitsleute, und so übernahm ich Anja Pescher, wenn man das so nennen wollte, erst am Angestelltenausgang. In den vorangegangenen Tagen hatte sie sich stets umgezogen, bevor sie zu mir ins Fahrzeug stieg, doch dieses Mal kam sie mit ihrer Moderatorenkleidung heraus. Sie trug ein weißes, knielanges Kleid, schwarze Nylonstrümpfe und hochhackige Schuhe in gleicher Farbe. Nachdem ich einen kurzen, aber intensiven Blick an ihr haften ließ, hielt ich ihr mit einem kurzen Gruß die Hintertür auf und klemmte mich anschließend hinters Lenkrad. Sie hatte ein Appartement direkt in der Innenstadt, und da dort weitgehendes Fahrverbot für private Fahrzeuge herrschte, musste bis hin zu ihrer Wohnung ein etwa zweihundert Meter langer, öffentlicher Raum überwunden werden, wie man das im Fachjargon nannte. Doch als ich einen günstigen Parkplatz in einer Seitengasse gefunden hatte, machte sie keine Anstalten, das Auto zu verlassen.

    »Ihr Kollege redet wie ein Wasserfall. Erfragt praktisch meine ganze Lebensgeschichte. Sie hingegen sind stumm wie ein Fisch.« Sie strich dabei lasziv durch ihr blondes, schulterblattlanges, glattes Haar.

    »Wir sind da«, antwortete ich professionell und machte mich daran auszusteigen, um ihr die hintere Fahrzeugtür zum Aussteigen zu öffnen. Auch das gehörte zu unserem Service.

    »Seien Sie nicht so langweilig«, unterbrach sie mich stattdessen und wies mich an, mit ihr eine nahe gelegene Diskothek aufzusuchen, die nach einer Stadt in Tennessee benannt war. Da es keine akute Bedrohungslage in diesem Fall gab und ich daher keine Verstärkung brauchte, kam ich diesem Wunsch sofort nach. Ganz nach Vorschrift der Agentur. Wenngleich es für mich und meinen Auftrag leichter gewesen wäre, eine Wohnung zu observieren, als mit einer prominenten Schutzperson eine öffentliche Lokalität aufzusuchen, die noch dazu sehr gut besucht war. Wir nahmen in einer der knappen Nischen im Untergeschoss Platz. Dort sah ich ihr erstmals in die Augen. Zuvor hatte ich mich ausschließlich auf das fixiert, was sie umgab. Und während Depeche Mode musikalisch der Stille huldigte, spürte ich die Einsamkeit in ihr. Meine eigene war bereits vor Jahrzehnten vom Meer der Ignoranz weggespült worden. Zwar läutete ihr Handy andauernd, und ständig huschten irgendwelche Leute an ihr vorbei, die sie mit Küsschen überbordeten. Dauerhaft sitzen blieb jedoch nur ich. Der Mann mit der Knarre im Halfter. Was für eine unromantische Vorstellung für eine Frau. Sie tanzte einige Male mit Leuten, die ich nicht kannte, ließ sich Komplimente machen, und nachdem sie fünf oder sechs Gläser Sekt getrunken hatte, den man hier ganz ungeniert als Champagner verkaufte, wandte sie sich direkt an mich, der bislang im knappen Abseits gesessen hatte.

    »Was, glauben Sie, was los ist, wenn ich in einen normalen Club gehe und dort etwas trinken will?«, fragte sie mich. Mir war klar, dass in dieser Disco nur ausgewähltes Publikum Zutritt hatte. Ein Normalsterblicher brauchte sich erst gar nicht beim Türsteher zu bemühen. Also stellte ich ihr eine Gegenfrage.

    »Sie meinen also einen Club, in dem sich Leute wie ich befinden?« Ich sagte das in einem völlig wertfreien Ton. Anja überlegte kurz. Dann nickte sie.

    »Ja, so wie Ihrereins ausgeht.« War das Naivität oder gezielte Provokation? Ich schluckte kurz und lächelte sie dann eisern an, ohne darauf etwas zu erwidern. Es dauerte vielleicht zehn, womöglich auch zwanzig Sekunden, in denen wir uns nur neutral ansahen. Dann begann sie plötzlich, lauthals zu lachen.

    »Entschuldigen Sie«, sagte sie erheitert. »Aber das musste ich einfach wissen.« Ich hatte verstanden. Sie wollte mich nur auf die Probe stellen. Und doch hatte sie eine Grenze überschritten. Ich hatte einen ganz einfachen Grundsatz. Jeder Kunde, der mich als Mensch respektierte, bekam meinen Respekt, meine Freundlichkeit und meinen Schutz zurück. Alle anderen, die das nicht taten, mussten auf den Respekt verzichten. Der Rest war vertraglich geregelt.

    Rückblende

    Mein Vater hieß Evgeniy Volkov, meine Mutter Teresa. Welche Ironie. Mir wurde, als ich am 28. Februar 1970 in Charkiw geboren wurde, der Name Mikhail gegeben. Wenn Vater zu viel getrunken hatte, was sehr oft vorkam, bekam er meistens früh morgens gerade noch so die Kurve und stand auf, um pünktlich bei der Arbeit im Traktorenwerk zu erscheinen. Was er dort tat, wusste ich nicht. Auch nicht, womit meine Mutter sich den ganzen Tag über beschäftigte, die im gleichen Betrieb Geld verdiente.

    Mitunter kam es aber auch vor, dass Evgeniy Volkov alle viere gerade ließ und im Bett liegen blieb. Ohne Bescheinigung eines Arztes. Was zur Folge hatte, dass die Miliz im Laufe des Tages an unserer Wohnungstür klopfte und den säumigen Arbeiter zurück an seine Wirkungsstätte verfrachtete. Da war ich aber zumeist in der Schule und kriegte nichts von diesen Vorgängen mit. Nur abends, wenn Mutter schamvoll darüber flüsterte, dass der Name ihres Ehemannes mal wieder am Schwarzen Brett wegen einer Verfehlung angeschlagen worden war. Dass er mich einmal pro Woche halb tot prügelte, störte sie dabei weniger.

    5

    In meinem ersten Jahr bei der Armee der UdSSR hatten mich die Großväter gelehrt, auf Schlaf zu verzichten. Meist, um ihren Schikanen freien Lauf zu lassen. Und so war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, oftmals mit zwei oder drei Stunden nächtlicher Ruhe auszukommen. Ich setzte mich in meinen freien Nächten mitunter in ein Auto, das ich kurz zuvor gestohlen hatte, tauschte die regulären Nummernschilder durch andere aus und parkte mich in die Seitengasse irgendeiner Diskothek oder eines Clubs am Stadtrand.

    Wenn die Luft rein und die Anwesenheit eines konzessionierten Taxifahrers auszuschließen war, stellte ich mein beleuchtetes Schild aufs Dach und spielte Chauffeur. Es machte mir Spaß, betrunkenen Jugendlichen ihre kurzen, bedeutungslosen Lebensgeschichten abzufragen. Weil es mich immer daran erinnerte, dass auch mein Leben damals kurz und bedeutungslos war. Bloß dem Zwecke bestimmt zu überleben. Wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Doch ich verurteilte diese jungen Leute nicht dafür. Welchen Sinn hätte es auch gehabt? Nur die Großväter wollten, dass man dasselbe erlitt wie einer selbst. Die Großväter, die mich nicht losließen. Selbst dann nicht, als ich einer von ihnen wurde.

    Eines Nachts stieg jedoch ein Junge bei mir ein, der anders war als alle, die ich bisher gefahren hatte. Er war nüchtern, eloquent, und schon nach wenigen Minuten des Gesprächs begann ich, ihn zu hassen. Wäre er in seiner nach außen hin getragenen Überheblichkeit auch noch beleidigend geworden, hätte ich ihn als das abtun können, was ich seit jeher verachtete. Aber dieser Typ passte in kein Bild, in kein vorgefertigtes Schema. Er überrollte mich, je länger wir sprachen. Und als ich am Praterstern meinen Fuhrlohn verlangte, hechtete ich vielleicht eine Sekunde später auf die Rückbank und tötete ihn so, wie man es mir ein Leben lang beigebracht hatte. Ohne die geringste innerliche Regung zu verspüren.

    Rückblende

    Ich bekam den Roten Stern Lenins verliehen und wurde in den Kreis der Oktoberkinder aufgenommen. Bei derlei Ereignissen war es üblich, die ganze Familie einzubinden. Alle kamen zusammen und freuten sich. Aßen, tranken und ließen es sich gut gehen. In meinem Fall hingegen war nur Mutter dabei. Mit einem überschminkten blauen Auge. Dem anwesenden Parteiorgan log sie auf Nachfrage etwas von einer Unpässlichkeit ihres Mannes vor, und ohne sich groß zu verabschieden, verschwanden wir, ehe das Fest noch richtig begonnen hatte. So wie immer. Egal, ob es sich um die Feierlichkeiten zum 1. Mai handelte, dem Tag von Armee und Marine, oder den Siegesfeierlichkeiten zur Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Ganz zu schweigen von den unter der Hand geduldeten orthodoxen Festen.

    Die Volkovs glänzten mit Abwesenheit. Mischa, wie die anderen Kinder mich nannten, war nicht dabei. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch auf die Paraden und die Choreographien freute, die wir in der Schule einstudiert hatten. Denn Mischas Vater, dem schon zweimal der Personalausweis abgenommen worden war, musste sich betrinken. Mit einer Flüssigkeit, deren bloßer Anblick Übelkeit bei mir auslöste.

    6

    Ich hatte den jungen Mann irgendwo im Wienerwald verscharrt und den Wagen auf der

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