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Autismus neu verstehen: Begegnung mit einer anderen Kultur
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Autismus neu verstehen: Begegnung mit einer anderen Kultur

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SIE SIND EINFACH ANDERS, sie verhalten sich anders, sie leben in einer ganz eigenen Welt - Menschen mit Autismus. Doch: Was ist Autismus eigentlich?
Eine neue Sicht liefert Klaus Kokemoor vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Seine These: Menschen mit Autismus sind Menschen mit einer anderen Kultur, ihre Vorstellung von Wirklichkeit und ihre Empfindungen sind grundlegend anders. Nur so lassen sich die besonderen Denk- und Handlungsweisen verstehen, nur so wird wirkliche Begegnung möglich.
Der Autor erklärt die frühkindliche Entwicklung bei Autismus sowie die unterschiedlichen Erscheinungsformen, und er zeigt Wege auf, Kinder und Jugendliche einfühlsamer zu begleiten.
LanguageDeutsch
Release dateAug 5, 2016
ISBN9783903072428
Autismus neu verstehen: Begegnung mit einer anderen Kultur

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    Autismus neu verstehen - Klaus Kokemoor

    EINLEITUNG:

    AUTISMUS NEU VERSTEHEN

    DAS »VERSTEHEN« STELLT EINE WESENTLICHE VORAUSSETZUNG DAR, um eine Brücke zu einem anderen Menschen herzustellen. Verstehen heißt noch nicht akzeptieren, sondern meint, die Bedürfnisse eines Verhaltens zu erkennen und den anderen so anzunehmen, wie er ist. Die Annahme des Kindes und das Erkennen der Bedürfnisse, die sich hinter seinem Verhalten verbergen, sind wesentliche Voraussetzungen für unser tägliches Handeln. Das besondere Fühlen, Handeln und Denken eines autistischen Kindes macht es uns jedoch schwer, seine Bedürfnisse zu erkennen. Hier scheinen die sonst vertrauten Fundamente des zwischenmenschlichen Kontaktes zu fehlen, um eine stabile Brücke zu bauen. Das spezifische Verhalten des Kindes fordert uns täglich auf fundamentale Art und Weise heraus, uns mit seinen Handlungen, seinen besonderen Wesenszügen auseinanderzusetzen. Wir müssen den Weg finden, die Bedürfnisse und das Erleben, welches hinter seinem Verhalten steht, zu verstehen. »Denn es gibt keine Handlung ohne Grund, und das, was ein Kind spontan tut, entspricht immer seinen tiefen Motivationen. An uns liegt es, zu verstehen, was dieses Tun wirklich ausdrückt – und dadurch auf unser eigenes Tun zu antworten.«²

    »Der Dienstag meiner Geburt war ein besonderer Tag, nicht nur für mich, nicht nur für meine Eltern und meinen Bruder, nicht nur für Eimsbüttel oder Hamburg – es war ein besonderer Tag für alle Menschen. Der Grund dafür ist einleuchtend und unbekannt: Es war der 183. Tag des Jahres 1963. In seiner Bedeutung ist der 183. Tag des Jahres allenfalls mit Neujahr oder Silvester zu vergleichen. Dass die Tatsache so wenigen Menschen bekannt ist, verwundert mich. Der 183. Tag ist die Mitte des Jahres.«³

    Das autistische Kind hat seine sehr eigene Art und Weise entwickelt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Doch die Vorstellung: »Jeder andere Mensch muss das Gleiche fühlen und denken und glauben wie ich«, entspricht zunächst unserer Natur. Aus diesem Grund ist es nicht einfach, eine andere Sicht zu akzeptieren, und es bedarf der Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen, damit wir seine besondere Art und Weise zu verstehen und anzuerkennen lernen.⁴ Das autistische Kind wirkt wie ein Kind einer anderen Kultur, einer anderen Lebensform, die wir nur begreifen, wenn wir erfassen, mit welchem Bewusstsein das Kind in der Welt agiert.⁵

    Ein Anliegen dieses Buches ist es, uns intensiv mit dem »kulturellen Hintergrund« des autistischen Kindes zu beschäftigen, um uns seinen Bedürfnissen, seinen Empfindungen sowie seinem Erleben zu öffnen. Die Suche nach den Motiven und Hintergründen der besonderen Verhaltensweisen, an denen das Kind so existenziell festhält, führt zu Erkenntnissen, die eine elementare Bedeutung für das Therapeutische und das Pädagogische haben.

    Den Ausgangspunkt meiner Suche bilden vor allem die praktische Erfahrung aus der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit autistischen Kindern sowie die Beratung von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Neben der Individualität des jeweiligen Kindes und dem breiten Spektrum an besonderen Verhaltensweisen kann ich eine gewisse Übereinstimmung beobachten, die mich letztlich dazu animiert hat, stets nach den Wurzeln der tiefgreifenden Entwicklungsstörung Autismus, mit seinen spezifischen Symptomen, zu suchen. Nun haben viele kompetente Wissenschaftler, mit modernsten Methoden, jahrzehntelang geforscht, und es ist bis heute nicht möglich, die Ursache von Autismus klar zu bestimmen. Nach meiner Auffassung folgt die Wissenschaft einer zu linearen Betrachtungsweise, sie sucht nach dem Faktor in der Genetik beziehungsweise im menschlichen Gehirn, der, kommt ein auslösendes Moment dazu, unausweichlich im Autismus mündet, jedoch niemals als Ursache für das ganze Bündel der charakteristischen Symptome herangezogen werden kann. Peter Hobson beantwortet dies mit dem Satz: »Wir müssen anders an die Sache herangehen und uns klarmachen, daß einer der stärksten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung das ist, was zwischen den Menschen geschieht. Anders gesagt, einer der schädlichsten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung besteht darin, daß – wie etwa beim Autismus – verschiedene Formen der Interaktion zwischen den Menschen nicht zustande kommen.«

    Die Aussage von Hobson rückt die Bedeutung der Interaktion ins Zentrum der Auseinandersetzung und deckt sich mit den Überlegungen von Leo Kanner, der den autistischen Kindern eine von Geburt an bestehende Unfähigkeit, sich mit der personellen und dinglichen Umwelt in Wechselbeziehung zu setzen, attestierte.⁷ Ich ersetze den von Kanner verwendeten Begriff der »Unfähigkeit« durch »Schwierigkeit«, da ich beim autistischen Kind immer auch Interaktionsmomente beobachten konnte. Ich unterstreiche an dieser Stelle jedoch ausdrücklich, dass es die Schwierigkeit des Kindes ist, in den für den frühkindlichen Reifungsprozess so wichtigen Dialog mit seinen Eltern zu gehen. Aus dem Konflikt, auf die elterliche Fürsorge nicht angemessen reagieren zu können, entwickeln sich Bewältigungsstrategien und Rückversicherungsprozesse, die letztlich das gesamte Fühlen, Handeln und Denken des Kindes bestimmen.⁸ Das Realitätsempfinden dieser Kinder resultiert nicht aus einem Beziehungserleben mit seinen Eltern, sondern aus den sensorischen Erfahrungen, die sich aus der frühen Bewältigungsstrategie ergeben. Aus den damit verbundenen Empfindungen erlebt und gestaltet das Kind seine eigene Wirklichkeit, seine Welt, in die es die anderen nicht aktiv einlädt.

    Das autistische Kind durchläuft also einen von der »Norm« abweichenden Reifungsprozess, in welchem in der Folge die unterschiedlichsten Faktoren zum Tragen kommen, die zu der tiefgreifenden Entwicklungsstörung mit ihren charakteristischen Symptomen führen. Zur Orientierung beschreibe ich in diesem Buch auch den natürlichen Reifungsprozess des Kindes unter drei Jahren. Die dargestellten Entwicklungsphasen sind lediglich Ausschnitte, in denen jedoch Faktoren herauszustellen sind, durch die eine Unterscheidung in Bezug auf den Reifungsprozess des autistischen Kindes darzustellen ist. Durch diese Betrachtung erhalten wir die Möglichkeit, die Bedeutung einzelner Symptome besser zu verstehen, um darauf sinnvoller, zielführender und emphatischer zu reagieren. Die theoretischen Gedanken orientieren sich hierbei im Schwerpunkt an Autoren wie Daniel Stern, Martin Dornes, Peter Hobson, Frances Tustin, Donald Winnicott und Bernard Aucouturier.

    Aucouturier sieht in der individuellen Ausdrucksweise eines jeden Kindes, welches damit seine Geschichte und seine Realität zum Ausdruck bringt, die Grundlage für unser pädagogisches und therapeutisches Handeln.⁹ Im Zentrum der therapeutischen Arbeit liegt ein tonisch-emotionales Erleben, in der Wechselbeziehung mit dem Kind. Die Psychomotorische Therapie ist eine Einladung an das Kind, andere, neue sensomotorische Erfahrungen in der Beziehung zum Therapeuten zu machen, um sich seiner selbst rückzuversichern. Die Psychomotorische Praxis Aucouturier in der Arbeit mit autistischen Kindern, die neben dem Körperausdruck auch die symbolischen Dimensionen berücksichtigt, wird in diesem Buch ausführlich an Hand von Fallbeispielen beschrieben.

    Doch auch das Umfeld des Kindes benötigt dringend Begleitung, um Antworten zu finden und Anregungen zu erfahren, wie den Momenten dieser Wechselbeziehung mehr Bedeutung gegeben werden kann. Da wir das autistische Kind in der Regel nicht verstehen, wird gerade im Alltagserleben unsere Fähigkeit der Empathie in Bezug auf das Kind außer Kraft gesetzt. Mit der Marte-Meo-Videoberatung erhalten Eltern und pädagogische Fachkräfte sehr konkrete und alltagstaugliche Informationen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Handlungen mit dem Kind. Im Zentrum stehen hier die Bedeutung einer gelingenden Kommunikation mit dem Kind sowie die Botschaften, die sich hinter seinem Verhalten verbergen. Dieser von Maria Aarts entwickelte Beratungsansatz ist ein anschauliches Lernen am eigenen Modell, welches der Selbstwirksamkeit und Ressourcen der Protagonisten Raum bietet und deshalb eine hohe Wirksamkeit hat.¹⁰

    Eine wesentliche Handlungslinie der Psychomotorischen Praxis Aucouturier sowie der Marte-Meo-Beratung sind die Aufmerksamkeit und der Respekt gegenüber den Protagonisten. Beide Ansätze bieten die Chance der Herstellung oder Wiederherstellung eines Rahmens, in dem Beziehung wieder ermöglicht wird und eine unterbrochene Verbindung wieder aufgenommen werden kann.¹¹

    Meine Gedanken in diesem Buch resultieren aus der ständigen theoretischen Auseinandersetzung und jahrzehntelanger praktischer Erfahrung mit Menschen mit Autismus. Wobei die Richtung der Gedanken vom praktischen Handeln zur Theorie geht und nicht umgekehrt. Mit diesem Buch ist es also möglich, die Theorie aus der Praxis und die Praxis aus der Theorie heraus zu betrachten. Theorie und Praxis bilden hier eine Wechselbeziehung, aus der eine Einheit hervorgeht, die durch die Sicht von Betroffenen eine bedeutsame Ergänzung erfährt. Die Begegnung mit betroffenen Erwachsenen, die mir ihre Kultur und ihre Gedanken zum Autismus sehr anschaulich darstellen konnten, hat mich veranlasst, Autismus immer wieder neu zu denken. Weitere Anregungen resultieren aus der Beschäftigung mit autobiografischen Texten von Betroffenen. Hier sind vor allem die Autoren Axel Brauns, Susanne Schäfer, Daniel Tammet, Peter Schmidt, Dietmar Zöller sowie Matthias Brien zu nennen, die uns Anregungen geben, um unsere Gedanken zum Autismus neu zu sortieren.

    Dieser Wandel der Gedanken ist nötig, um nicht einem starren Konzept zu unterliegen, denn jede Theorie und jedes pädagogische oder therapeutische Konzept ist nur dann überlebensfähig, wenn es nach Möglichkeiten der Reflexion und Veränderung sucht. Veränderung kann dann gelingen, wenn wir die Bereitschaft mitbringen, unsere Vorstellungen durch den anderen verändern zu lassen. Gerade das autistische Kind ist hier auf unsere Bereitschaft angewiesen, da es kaum über Möglichkeiten verfügt, Veränderungen vorzunehmen, um sich an die Welt und die anderen anzupassen.

    Um sich auf das besondere Kind einzulassen, sich mit ihm solidarisieren zu können, ist es erforderlich, sich mit der Entwicklung und Bedeutung einzelner Symptome zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den Verhaltensmotiven des autistischen Kindes beinhaltet die Chance, uns vom Eindruck des Erscheinungsbildes zu lösen und uns der tatsächlichen Persönlichkeit des Kindes zu öffnen. Es geht dabei um ein Symptomverständnis, welches uns zu einer Haltung führt, die Verhaltensweisen des anderen als dessen Existenzgrundlage anzuerkennen. Das tiefe Verstehen, mit dem Versuch, Autismus aus einer anderen Perspektive zu erfassen, ist das Fundament, um dem Kind dort zu begegnen, wo es sich jeweils in seinem Reifungsprozess befindet. Anerkennende und somit hilfreiche pädagogische Beziehungen brauchen diese Unmittelbarkeit zum Kind und eine daraus resultierende solidarische Motivation von Seiten der Entwicklungsbegleiter.¹² Im pädagogischen und therapeutischen Handeln ist ein Einlassen auf die Perspektive des autistischen Kindes nötig, um dessen besonderen Bedürfnissen die nötige Aufmerksamkeit widmen zu können.

    Dieser Perspektivwechsel ist für das autistische Kind und den autistischen Erwachsenen nur schwer möglich. Denn das autistische Kind hat zunächst nicht die Vorstellung, dass die anderen die Welt auf andere Weise wahrnehmen könnten. Es lernt spätestens als Erwachsener, dass es sich in einer Welt bewegt, die nach Vorstellungen und Maßstäben von Nichtbetroffenen eingerichtet wurde. Diese Tatsache zeigt viele für uns unsichtbare Barrieren auf, die es für Menschen mit Autismus so schwierig machen, sich in der Welt zurechtzufinden. Trotz des gegenseitigen Bemühens von Betroffenen und Nichtbetroffenen gibt es viele Missverständnisse, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren oder teilweise unmöglich machen. Ein Grundproblem ist hier der bewusste oder unbewusste Wunsch jedes Menschen, dass sich der andere – in diesem Fall das autistische Kind – an unsere Vorstellungen und Bedingungen anpassen möge. In diesem Punkt könnten die Grundgedanken der Inklusion, die unter anderem auf die fundamentale Bedeutung des Perspektivwechsels hinwiesen, einen großen Gewinn für ein autistisches Kind und in diesem Sinne für viele Menschen darstellen.

    Das autistische Kind zeigt uns auf eindrückliche Weise, wie Entwicklung verläuft, wenn wir die Kommunikation der Menschen untereinander vernachlässigen, und wie bedeutsam andererseits die Interaktion für den kindlichen Reifungsprozess ist. Es hält unserer technisierten und zunehmend medialen Welt in gewisser Weise einen Spiegel vor. So gesehen richten sich viele Gedanken dieses Buches an die Gesellschaft, das einzelne Kind, den einzelnen Erwachsenen.

    »Der Schlüssel zum Autismus ist der Schlüssel zum Wesen des Menschen.«¹³ Die Suche nach diesem Schlüssel bringt die Erkenntnis der elementaren Bedeutung von Beziehung für die Reifungsprozesse aller Kinder und für das Menschsein zum Vorschein. Wenn ich eine Brücke zu einem anderen Menschen bauen will, dann benötigt die Brücke tragfähige Fundamente, die Akzeptanz, Achtsamkeit und Wertschätzung des anderen einschließen.

    »Jeder Mensch ist in einem sehr realen Sinn eine Insel für sich, und er kann erst dann Brücken zu anderen Inseln bauen, wenn er zuallererst gewillt ist, er selbst zu sein, und wenn ihm dies erlaubt wird.«

    Carl R. Rogers

    AUTISMUS – BEGEGNUNG

    MIT EINER »ANDEREN KULTUR«

    DEN BEGRIFF KULTUR KöNNEN WIR AUF DIE GESELLSCHAFT BEZIEHEN, die bestimmte Dinge wie Kunst, Musik, Architektur oder Literatur hervorgebracht hat. Er kann sich auch auf eine Gemeinschaft von Menschen beziehen, die aus dem Gefüge des Miteinanders und gegenseitigen Verstehens eine Grundlage für menschliches Sozialleben geschaffen haben.¹⁴ Kulturelle Gepflogenheiten werden durch die Art und Weise erlebt und gelehrt, wie die Mitglieder über Sprache, Geschichten und Tätigkeiten in Beziehung zueinander treten. Ein Ausschnitt daraus sind bestimmte Umgangsformen, die häufig mit moralischen Werten belegt sind. Die meisten dieser Leitsätze oder Gedanken ergeben sich aus den unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen, andere werden bewusst vermittelt. Matthias Brien erzählt in seinem Buch Ich koche für dich von dem ersten Wochenendbesuch bei den Eltern seiner Freundin. Als es zum Ende des Besuches zur Verabschiedung kommt, hat er folgende Gedanken. »Beim Abschied kommt es mir so vor, als erwarten die Eltern von mir einen bestimmten Text, den ich nicht kenne. Irgendwie ist eine enorme Anspannung da und ich sage einfach ›Auf Wiedersehen‹.«¹⁵ In solchen Situationen sind Menschen mit Autismus oft überfordert, da sich ihre Umgangsformen nicht aus Empfindungen erschließen, und sie können dann nur auf die bewusst vermittelten oder imitierte Umgangsformen zurückgreifen. Das Verständnis für die angemessenen Worte stellt sich nicht automatisch ein, sondern ist ein Entwicklungsprozess, der sich aus einem Empfinden von geteilter Aufmerksamkeit ergibt.

    In dem Roman Das Rosie-Projekt von Graeme Simsion erhält der Protagonist Don Tillman die Telefonnummer einer Frau mit den Worten gereicht: »Rufen Sie mich an!« Don, der das Asperger-Syndrom hatte, wusste, dass so etwas dauernd irgendwo passiert: In Büchern, Filmen und Fernsehserien tun die Leute genau das, was Rosie getan hatte. Durch dieses Ereignis fühlte er sich nun vorübergehend in eine Kultur aufgenommen, die er für sich verschlossen gehalten hatte.¹⁶ Don Tillman rekonstruiert dieses Ereignis nicht aus seiner inneren Vorstellung heraus, sondern benutzt äußere Vorbilder, um sich rückzuversichern, dass Rosies Verhalten in ihrer Kultur vorkommt. Das Verstehen von kulturellen Zusammenhängen und Traditionen ergibt sich vorwiegend aus dem frühen Erleben sozialer Zusammenhänge. So wie Kinder weltweit die Muttersprache ihres Landes ohne Anstrengungen aus der sozialen Interaktion mit ihrer Umwelt erlernen, so gehen auch die kulturellen Normen und Vorstellungen durch das soziale Miteinander in »Fleisch und Blut« über. Das soziale Verstehen, welches sich aus der Art und Weise ergibt, wie Kinder und Erwachsene miteinander agieren, erschließt dem Kind die Formen kulturellen Zusammenlebens. Wir werden zwar in eine kulturelle Umgebung hineingeboren, können die kulturellen Zusammenhänge jedoch erst dann für uns nutzen, wenn wir den anderen als handelnden Akteur begreifen. Dieses Verständnis ist Kindern unter neun Monaten noch nicht möglich und fällt vielen autistischen Kindern schwer.¹⁷ Kari Steindal schreibt im Buch von Susanne Schäfer: »Menschen mit Autismus brechen so grundlegend viele unserer gemeinsamen, einleuchtenden, ungeschriebenen Normen, Regeln und Werte. Susanne hat selbst darüber nachgegrübelt: ›Ich sage dir, ich bin überall ein Ausländer, nicht zuletzt in Deutschland.‹«¹⁸

    Die letzten Zeilen machen deutlich, dass es der Gruppe der Betroffenen schwerfällt, die kulturellen Umgangsformen der Nichtbetroffenen zu erfassen und ihnen zu entsprechen. Es stellt sich im Umkehrschluss die Frage, ob sich hieraus direkt folgern lässt, dass Menschen mit Autismus Menschen einer anderen Kultur sind. Diese Schlussfolgerung würde den üblichen Definitionen von kulturellen Gruppen widersprechen. Das gemeinsame kulturelle Merkmal, das sich in der Gruppe von Menschen mit Autismus zeigt, ergibt sich jedoch nicht nur aus der Schwierigkeit, Anknüpfungspunkte zu anderen kulturellen Zusammenhängen herzustellen, sondern in einer Art Gleichklang in Bezug auf ein bestimmtes Empfinden, im Handeln und im Denken. Auch wenn die Möglichkeiten, das Empfinden, das Handeln und das Denken auszudrücken, auf Grund der Heterogenität der Gruppe große Unterschiede aufweisen können. Es liegt mir fern, mit dem Begriff einer autistischen Kultur eine neue Zuschreibung vorzunehmen, die eine weitere Kategorie schafft, die eine Aufteilung in »wir« und »die anderen« vornimmt. Der Kulturbegriff soll eher dazu dienen, zu akzeptieren, dass verschiedene Gruppen unterschiedliche Entwicklungshintergründe haben, aus welchen sich zwangsläufig andere Vorstellungen und ein anderes Empfinden von der Realität ergeben. Das Nicht-Verstehen ist ein beiderseitiges Nicht-Verstehen und hat in der Regel nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit einer anderen Sichtweise oder einem anderen Empfinden. In ähnlicher Weise, wie es Menschen mit Autismus schwerfällt, die Gepflogenheiten der NT (Neurotypen) zu erfassen, fällt es uns Neurotypen schwer, die Symbole, Gesten und Verhaltensweisen von Betroffenen zu verstehen. Es geht darum, in der Lage zu sein, Missverständnisse und Grenzüberschreitungen zu minimieren, sowie eine interkulturelle Kompetenz zu entwickeln.

    EINE VIELZAHL AN NEUEN EINDRÜCKEN

    ALS ICH 1982 DIE BRÜCKE BETRAT, welche zu dem Wasserschloss führte, in dem 160 als geistig behindert geltende Männer lebten, bot sich mir ein bizarrer Anblick. Der Innenhof war mit Pflastersteinen belegt und in der Mitte mit einem Rondell aus Rasen, Springbrunnen und Blumen verziert. Das Schloss war symmetrisch angelegt und strahlte eine gewisse Ordnung aus, es waren die Bewohner, die diesem Bild einen bizarren und für mich ungewöhnlichen Charakter verliehen. Sie trugen etwas altmodische Kleidung und einige der Männer verhielten sich sonderbar. Sie gaben auf den ersten Eindruck nicht das Bild einer Gemeinschaft ab, obwohl sie, wie sich später herausstellte, schon viele Jahre gemeinsam dort lebten. Jeder positionierte sich auf seine sehr individuelle Weise im Innenhof. Während ich diese Gedanken hatte, fiel mir ein junger Mann auf, der den Versuch unternahm, mit der Pflasterung des Hofes in »Beziehung« zu treten. Es schien ihm dabei sehr wichtig zu sein, dem Muster der Pflasterung in bestimmten geometrischen Formen zu folgen. Er hatte dabei eine sehr eigene Schrittfolge, und er fühlte sich auf magische Weise vom Fugenbild der Pflasterung angezogen.

    Viele autistische Kinder fühlen sich derart von Linien und visuellen Mustern angezogen, dass alles andere in den Hintergrund tritt. So können manche Kinder ein Puzzle legen, indem sie sich lediglich an der Form der einzelnen Puzzleteile orientieren, das Bild hingegen weitgehend ignorieren.¹⁹ »Ich konnte mich stundenlang damit beschäftigen, die geometrischen Figuren, die mein visuelles Von-Der-Welt-Bild immer überlagerten, nun endlich zu bemaßen.«²⁰ Diese Überlagerung kann für die Betroffenen in vielen Situationen auch sehr störend sein, und es soll in diesen Beispielen nicht darum gehen, besondere Fähigkeiten herauszustellen. Es sind lediglich Beispiele für eine unterschiedliche Wahrnehmung. »Die Barmbecker Mietshäuser erfreuten mich mit Sichtbarkeit. Das Mauerwerk aus Backsteinen bot meinen Blicken Halt und hob sich wohltuend von der wolkenweißen Gestaltlosigkeit der Hofhaussiedlung ab. Diese Häuser konnte ich gut sehen, die Häuser im Vorbergviertel dagegen nicht.«²¹

    In den nächsten Tagen erfuhr ich, dass der junge Mann mit dem großen Interesse für die Pflasterung (und mit Diagnose »Frühkindlicher Autismus«) Ralf hieß. Mir wurde ans Herz gelegt, es sei wichtig, seine spezifischen Eigenarten zu respektieren, um ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich wusste im ersten Moment nicht, warum die Mitarbeiter von »seiner Ruhe« sprachen, denn ich erlebte Ralf eher in einem Zustand permanenter rhythmischer Bewegung und Anspannung. Erst als ich einen seiner Wutausbrüche erlebte, der sehr stark mit Verzweiflung einherging, wusste ich, warum die Mitarbeiter sein alltägliches Verhalten mit »seine Ruhe« umschrieben.

    Ralf forderte immer wieder die gleichen Handlungen von bestimmten Personen ein, indem er ihre Hand nahm, ohne dabei Blickkontakt zu ihnen zu suchen. Mit seinem hochkonzentrierten Blick schien er irgendetwas festzuhalten, was jedoch außerhalb meiner Wahrnehmung lag. Ralf bewegte seinen Körper dabei weiter in einer Art rhythmischen Bewegung und führte fast kontinuierlich, mal laut, mal lautlos, kleine Dialoge mit sich selbst. Dann plötzlich richtete er die Dialoge nach außen. »Der Ralf muss jetzt in die Werkstatt gehen und er kommt auch bestimmt pünktlich – der Ralf kommt pünktlich!« Auch wenn diese Wörter aus seinem Munde kamen, so wirkten sie wie Zitate, die ihm andere eingeredet hatten. Ralf hatte den festen Willen, diesen Anweisungen auf seine Art zu folgen, doch schon die kleinste Veränderung, selbst in der Vorstellung, wie er sich den Weg von seiner Wohngruppe in die Werkstatt konstruiert hatte, konnte zu einer kleinen Katastrophe führen.

    Doch neben den Selbstzitaten, die sich wie die Wörter anderer Personen anhörten, brachte Ralf Dinge zur Sprache, die ihm sehr wichtig erschienen. So bat er seine Betreuer wieder und wieder darum, ihm seine Eisenbahn aufzubauen. »Dem Ralf bitte jetzt die Eisenbahn aufbauen! Dem Ralf jetzt bitte die Eisenbahn …!« Dies geschah immer nur samstags um Punkt 18.00 Uhr, wenn andere junge Männer seines Alters einem anderen Ritual folgen. Es war für Ralf mehr als ein Ritual, und es wirkte wie eine existenziell wichtige Handlung, der er mit seinen nervösen Blicken folgte und welche schon aus seiner Kindheit Bestand hatte. Er nahm eine Eisenbahnschiene nach der anderen aus dem Karton und fügte diese, auf eine für mich eigentümliche Art und Weise, zusammen. Es schien ihm im Wesentlichen darum zu gehen, etwas, was vorher getrennt war, wieder zusammenzufügen. Danach setzte Ralf zuerst die Lok auf die Schienen, bevor er den ersten Waggon über die Schienen zur Lok schob. Dann nahm er auf ähnliche Weise den dritten Waggon aus dem Karton und schob diesen, ohne dabei die sich drehenden Räder aus den Augen zu verlieren, zu dem kleinen Zug. Nun nahm er den vierten Waggon mit Bedacht aus dem Karton und verfuhr auf die gleiche, fast meditative Weise.

    Susanne Schäfer schreibt: »Ich selbst pflegte die Auto-Schlange derart zu bewegen, indem ich das erste Auto ein Stück vorwärts bewegte, dann das zweite, dann das dritte usw. jeweils das kleine Stück nachfolgen ließ, bis die ganze Schlange ein paar Zentimeter vorwärts gekommen war, um dann wieder von vorne zu beginnen. Mit Geldmünzen spielte ich auf die gleiche Weise.«²² Es scheint in dem Spiel von Ralf sowie Susanne Schäfer um einen Zusammenhalt zu gehen. Darum, eine visuelle Harmonie und eine unzertrennliche Einheit herzustellen. Für die Romanfigur Christopher Boone, über die wir noch ausgiebig sprechen werden, bedeuten fünf rote Autos in einer Reihe einen superguten Tag.

    Kurz nachdem die kleine Eisenbahn aufgebaut war und Ralf diese ein paar Augenblicke betrachtet hatte, mussten die Lok, die Waggons und die Schienen auch schon wieder ordentlich im Schrank verschwinden. Für den Betrachter macht dieses kleine Ritual wenig Sinn, doch Ralf hinterlässt den Eindruck, dass es unbedingt stattzufinden hatte. So wie viele seiner Handlungen und Verhaltensweisen, die jedoch, trotz ihrer für ihn großen Wertigkeit, keinen Lustgewinn erzeugten, sondern den Eindruck von etwas Existenziellem hinterließen.

    KULTURELLE ÜBEREINSTIMMUNGEN

    ALS ICH SECHS JAHRE SPÄTER die Darstellung von Dustin Hoffman im Film Rain Man beobachtete, war ich sehr beeindruckt, mit welcher Präzision Dustin Hoffman auch kleine Episoden aus dem Leben von Ralf und vielen anderen Betroffenen, die ich in der Zwischenzeit erlebt hatte, darstellte, ohne von ihrer Existenz zu wissen. Der Drehbuchautor Barry Morrow hatte sich lediglich von dem Savant Kim Peek inspirieren lassen. Daniel Tammet, der das Asperger-Syndrom hat und Kim Peek 2004 trifft, schreibt in seinem Buch: »Kim und ich hatten viel gemeinsam, aber das wichtigste von allem war das Gefühl der Verbundenheit, das wir wohl beide während unserer gemeinsamen Zeit empfunden haben. Unser Leben ist in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich verlaufen und doch besteht zwischen uns in gewisser Weise ein ganz besonderes, seltenes Band.«²³ So lässt sich beobachten, dass es trotz der besonderen Individualität von Menschen mit Autismus doch viele prägnante Überschneidungen in der Art und Weise gibt, wie sich ihre Symptome ausdrücken. Es hinterlässt das Bild einer Art kulturellen Übereinstimmung, deren Ursprung letztlich den Schlüssel zu den Hintergründen und Motiven der Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus sowie einer therapeutischen oder beratenden Begleitung darstellen kann.²⁴ Eine dieser Überschneidungen ist die Selbstbezogenheit. Diese Konzentration auf das eigene »Selbst« ist eines der deutlichsten Merkmale für den Autismus. Somit wurde das griechische Wort »auto« (eigen, selbst) auch treffend zum Wortgeber für diese tiefgreifende Entwicklungsstörung. Ich musste in den vielen Begegnungen mit autistischen Kindern und Jugendlichen in der Therapie sowie in den Gesprächen mit erwachsenen Betroffenen erleben, dass diese Selbstbezogenheit eine besondere Qualität hat. Denn es ist eine Bezogenheit auf ein »Selbst«, welches sich nicht vordergründig aus der Beziehung zu einem anderen konstruiert.²⁵ Es ist ein Selbst, das den anderen nicht in seine Gedankenwelt einschließt und aus diesem Grunde auch oft so weit von unserem Weltbild entfernt ist. Da wir unsere Beobachtungen als Nichtbetroffene und vor dem Hintergrund unseres eigenen Selbstverständnisses machen, müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Beobachtungen und Interpretationen der Realität von Betroffenen auch gerecht werden können. »Dieses Fernsehteam hat es vermieden, uns mit seinen Gefühlen und Erwartungen zu überfordern. Das heißt, dass wir uns außerhalb des Klassenzimmers des Lebens bewegen konnten und uns auf die Sache konzentrieren konnten. So sollte es auch sein! Sonst filmen die Leute autistische Verteidigungsmechanismen und nennen das Autismus. Das ist es nicht, es sind nur Schutzmechanismen, das ist der Unterschied.«²⁶

    Donna Williams macht deutlich, dass wir viele unserer Interpretationen in Bezug auf die Bedeutung von Handlungen, Bewegungen und Verhalten von Menschen mit Autismus überdenken müssen. Meine persönlichen Erfahrungen und der Austausch mit Betroffenen haben mich zu der Erkenntnis geführt, dass es unumgänglich ist, andere Maßstäbe bei unseren Beobachtungen anzulegen, um das autistische Kind wirklich zu verstehen. In ihrem Verhalten und ihrem Denken werden Menschen mit Autismus von Motiven und Empfindungen geleitet, die sich zunächst unserer Vorstellungskraft nicht erschließen.

    So können Logik, Zahlen, Muster, Buchstaben und rhythmische Folgen ein gutes Körpergefühl vermitteln. »Auch der Gedanke an Kalender, an die ganzen Zahlen und Muster, die an einem Ort vereint sind, macht mir gute Gefühle.«²⁷ Viele Menschen mit Autismus scheinen eine Intuition für logische Zusammenhänge zu haben, die stärker an Empfindungen als an das Denken gebunden sind. »Mathematik ist eine Anwendung von logischen Schritten. Wir müssen diese Logik nicht erst lernen, sondern unser Gehirn bedient sich ebenfalls derselben Logik. Es ist deshalb auch ein schönes Körpergefühl, Aufgaben durch Befolgen dieser Logik zu lösen. In unserer Kultur haben sich bestimmte Lösungswege bewährt und genau diese lehrt und fragt die Schule in den Prüfungen hinterher ab.«²⁸

    EINE JACKE IST MEHR ALS EINE JACKE

    DIE BEGEGNUNG MIT MATTHIAS, der

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