Autismus neu verstehen: Begegnung mit einer anderen Kultur
Von Klaus Kokemoor
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Über dieses E-Book
Eine neue Sicht liefert Klaus Kokemoor vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Seine These: Menschen mit Autismus sind Menschen mit einer anderen Kultur, ihre Vorstellung von Wirklichkeit und ihre Empfindungen sind grundlegend anders. Nur so lassen sich die besonderen Denk- und Handlungsweisen verstehen, nur so wird wirkliche Begegnung möglich.
Der Autor erklärt die frühkindliche Entwicklung bei Autismus sowie die unterschiedlichen Erscheinungsformen, und er zeigt Wege auf, Kinder und Jugendliche einfühlsamer zu begleiten.
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Buchvorschau
Autismus neu verstehen - Klaus Kokemoor
EINLEITUNG:
AUTISMUS NEU VERSTEHEN
DAS »VERSTEHEN« STELLT EINE WESENTLICHE VORAUSSETZUNG DAR, um eine Brücke zu einem anderen Menschen herzustellen. Verstehen heißt noch nicht akzeptieren, sondern meint, die Bedürfnisse eines Verhaltens zu erkennen und den anderen so anzunehmen, wie er ist. Die Annahme des Kindes und das Erkennen der Bedürfnisse, die sich hinter seinem Verhalten verbergen, sind wesentliche Voraussetzungen für unser tägliches Handeln. Das besondere Fühlen, Handeln und Denken eines autistischen Kindes macht es uns jedoch schwer, seine Bedürfnisse zu erkennen. Hier scheinen die sonst vertrauten Fundamente des zwischenmenschlichen Kontaktes zu fehlen, um eine stabile Brücke zu bauen. Das spezifische Verhalten des Kindes fordert uns täglich auf fundamentale Art und Weise heraus, uns mit seinen Handlungen, seinen besonderen Wesenszügen auseinanderzusetzen. Wir müssen den Weg finden, die Bedürfnisse und das Erleben, welches hinter seinem Verhalten steht, zu verstehen. »Denn es gibt keine Handlung ohne Grund, und das, was ein Kind spontan tut, entspricht immer seinen tiefen Motivationen. An uns liegt es, zu verstehen, was dieses Tun wirklich ausdrückt – und dadurch auf unser eigenes Tun zu antworten.«²
»Der Dienstag meiner Geburt war ein besonderer Tag, nicht nur für mich, nicht nur für meine Eltern und meinen Bruder, nicht nur für Eimsbüttel oder Hamburg – es war ein besonderer Tag für alle Menschen. Der Grund dafür ist einleuchtend und unbekannt: Es war der 183. Tag des Jahres 1963. In seiner Bedeutung ist der 183. Tag des Jahres allenfalls mit Neujahr oder Silvester zu vergleichen. Dass die Tatsache so wenigen Menschen bekannt ist, verwundert mich. Der 183. Tag ist die Mitte des Jahres.«³
Das autistische Kind hat seine sehr eigene Art und Weise entwickelt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Doch die Vorstellung: »Jeder andere Mensch muss das Gleiche fühlen und denken und glauben wie ich«, entspricht zunächst unserer Natur. Aus diesem Grund ist es nicht einfach, eine andere Sicht zu akzeptieren, und es bedarf der Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen, damit wir seine besondere Art und Weise zu verstehen und anzuerkennen lernen.⁴ Das autistische Kind wirkt wie ein Kind einer anderen Kultur, einer anderen Lebensform, die wir nur begreifen, wenn wir erfassen, mit welchem Bewusstsein das Kind in der Welt agiert.⁵
Ein Anliegen dieses Buches ist es, uns intensiv mit dem »kulturellen Hintergrund« des autistischen Kindes zu beschäftigen, um uns seinen Bedürfnissen, seinen Empfindungen sowie seinem Erleben zu öffnen. Die Suche nach den Motiven und Hintergründen der besonderen Verhaltensweisen, an denen das Kind so existenziell festhält, führt zu Erkenntnissen, die eine elementare Bedeutung für das Therapeutische und das Pädagogische haben.
Den Ausgangspunkt meiner Suche bilden vor allem die praktische Erfahrung aus der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit autistischen Kindern sowie die Beratung von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Neben der Individualität des jeweiligen Kindes und dem breiten Spektrum an besonderen Verhaltensweisen kann ich eine gewisse Übereinstimmung beobachten, die mich letztlich dazu animiert hat, stets nach den Wurzeln der tiefgreifenden Entwicklungsstörung Autismus, mit seinen spezifischen Symptomen, zu suchen. Nun haben viele kompetente Wissenschaftler, mit modernsten Methoden, jahrzehntelang geforscht, und es ist bis heute nicht möglich, die Ursache von Autismus klar zu bestimmen. Nach meiner Auffassung folgt die Wissenschaft einer zu linearen Betrachtungsweise, sie sucht nach dem Faktor in der Genetik beziehungsweise im menschlichen Gehirn, der, kommt ein auslösendes Moment dazu, unausweichlich im Autismus mündet, jedoch niemals als Ursache für das ganze Bündel der charakteristischen Symptome herangezogen werden kann. Peter Hobson beantwortet dies mit dem Satz: »Wir müssen anders an die Sache herangehen und uns klarmachen, daß einer der stärksten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung das ist, was zwischen den Menschen geschieht. Anders gesagt, einer der schädlichsten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung besteht darin, daß – wie etwa beim Autismus – verschiedene Formen der Interaktion zwischen den Menschen nicht zustande kommen.«⁶
Die Aussage von Hobson rückt die Bedeutung der Interaktion ins Zentrum der Auseinandersetzung und deckt sich mit den Überlegungen von Leo Kanner, der den autistischen Kindern eine von Geburt an bestehende Unfähigkeit, sich mit der personellen und dinglichen Umwelt in Wechselbeziehung zu setzen, attestierte.⁷ Ich ersetze den von Kanner verwendeten Begriff der »Unfähigkeit« durch »Schwierigkeit«, da ich beim autistischen Kind immer auch Interaktionsmomente beobachten konnte. Ich unterstreiche an dieser Stelle jedoch ausdrücklich, dass es die Schwierigkeit des Kindes ist, in den für den frühkindlichen Reifungsprozess so wichtigen Dialog mit seinen Eltern zu gehen. Aus dem Konflikt, auf die elterliche Fürsorge nicht angemessen reagieren zu können, entwickeln sich Bewältigungsstrategien und Rückversicherungsprozesse, die letztlich das gesamte Fühlen, Handeln und Denken des Kindes bestimmen.⁸ Das Realitätsempfinden dieser Kinder resultiert nicht aus einem Beziehungserleben mit seinen Eltern, sondern aus den sensorischen Erfahrungen, die sich aus der frühen Bewältigungsstrategie ergeben. Aus den damit verbundenen Empfindungen erlebt und gestaltet das Kind seine eigene Wirklichkeit, seine Welt, in die es die anderen nicht aktiv einlädt.
Das autistische Kind durchläuft also einen von der »Norm« abweichenden Reifungsprozess, in welchem in der Folge die unterschiedlichsten Faktoren zum Tragen kommen, die zu der tiefgreifenden Entwicklungsstörung mit ihren charakteristischen Symptomen führen. Zur Orientierung beschreibe ich in diesem Buch auch den natürlichen Reifungsprozess des Kindes unter drei Jahren. Die dargestellten Entwicklungsphasen sind lediglich Ausschnitte, in denen jedoch Faktoren herauszustellen sind, durch die eine Unterscheidung in Bezug auf den Reifungsprozess des autistischen Kindes darzustellen ist. Durch diese Betrachtung erhalten wir die Möglichkeit, die Bedeutung einzelner Symptome besser zu verstehen, um darauf sinnvoller, zielführender und emphatischer zu reagieren. Die theoretischen Gedanken orientieren sich hierbei im Schwerpunkt an Autoren wie Daniel Stern, Martin Dornes, Peter Hobson, Frances Tustin, Donald Winnicott und Bernard Aucouturier.
Aucouturier sieht in der individuellen Ausdrucksweise eines jeden Kindes, welches damit seine Geschichte und seine Realität zum Ausdruck bringt, die Grundlage für unser pädagogisches und therapeutisches Handeln.⁹ Im Zentrum der therapeutischen Arbeit liegt ein tonisch-emotionales Erleben, in der Wechselbeziehung mit dem Kind. Die Psychomotorische Therapie ist eine Einladung an das Kind, andere, neue sensomotorische Erfahrungen in der Beziehung zum Therapeuten zu machen, um sich seiner selbst rückzuversichern. Die Psychomotorische Praxis Aucouturier in der Arbeit mit autistischen Kindern, die neben dem Körperausdruck auch die symbolischen Dimensionen berücksichtigt, wird in diesem Buch ausführlich an Hand von Fallbeispielen beschrieben.
Doch auch das Umfeld des Kindes benötigt dringend Begleitung, um Antworten zu finden und Anregungen zu erfahren, wie den Momenten dieser Wechselbeziehung mehr Bedeutung gegeben werden kann. Da wir das autistische Kind in der Regel nicht verstehen, wird gerade im Alltagserleben unsere Fähigkeit der Empathie in Bezug auf das Kind außer Kraft gesetzt. Mit der Marte-Meo-Videoberatung erhalten Eltern und pädagogische Fachkräfte sehr konkrete und alltagstaugliche Informationen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Handlungen mit dem Kind. Im Zentrum stehen hier die Bedeutung einer gelingenden Kommunikation mit dem Kind sowie die Botschaften, die sich hinter seinem Verhalten verbergen. Dieser von Maria Aarts entwickelte Beratungsansatz ist ein anschauliches Lernen am eigenen Modell, welches der Selbstwirksamkeit und Ressourcen der Protagonisten Raum bietet und deshalb eine hohe Wirksamkeit hat.¹⁰
Eine wesentliche Handlungslinie der Psychomotorischen Praxis Aucouturier sowie der Marte-Meo-Beratung sind die Aufmerksamkeit und der Respekt gegenüber den Protagonisten. Beide Ansätze bieten die Chance der Herstellung oder Wiederherstellung eines Rahmens, in dem Beziehung wieder ermöglicht wird und eine unterbrochene Verbindung wieder aufgenommen werden kann.¹¹
Meine Gedanken in diesem Buch resultieren aus der ständigen theoretischen Auseinandersetzung und jahrzehntelanger praktischer Erfahrung mit Menschen mit Autismus. Wobei die Richtung der Gedanken vom praktischen Handeln zur Theorie geht und nicht umgekehrt. Mit diesem Buch ist es also möglich, die Theorie aus der Praxis und die Praxis aus der Theorie heraus zu betrachten. Theorie und Praxis bilden hier eine Wechselbeziehung, aus der eine Einheit hervorgeht, die durch die Sicht von Betroffenen eine bedeutsame Ergänzung erfährt. Die Begegnung mit betroffenen Erwachsenen, die mir ihre Kultur und ihre Gedanken zum Autismus sehr anschaulich darstellen konnten, hat mich veranlasst, Autismus immer wieder neu zu denken. Weitere Anregungen resultieren aus der Beschäftigung mit autobiografischen Texten von Betroffenen. Hier sind vor allem die Autoren Axel Brauns, Susanne Schäfer, Daniel Tammet, Peter Schmidt, Dietmar Zöller sowie Matthias Brien zu nennen, die uns Anregungen geben, um unsere Gedanken zum Autismus neu zu sortieren.
Dieser Wandel der Gedanken ist nötig, um nicht einem starren Konzept zu unterliegen, denn jede Theorie und jedes pädagogische oder therapeutische Konzept ist nur dann überlebensfähig, wenn es nach Möglichkeiten der Reflexion und Veränderung sucht. Veränderung kann dann gelingen, wenn wir die Bereitschaft mitbringen, unsere Vorstellungen durch den anderen verändern zu lassen. Gerade das autistische Kind ist hier auf unsere Bereitschaft angewiesen, da es kaum über Möglichkeiten verfügt, Veränderungen vorzunehmen, um sich an die Welt und die anderen anzupassen.
Um sich auf das besondere Kind einzulassen, sich mit ihm solidarisieren zu können, ist es erforderlich, sich mit der Entwicklung und Bedeutung einzelner Symptome zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den Verhaltensmotiven des autistischen Kindes beinhaltet die Chance, uns vom Eindruck des Erscheinungsbildes zu lösen und uns der tatsächlichen Persönlichkeit des Kindes zu öffnen. Es geht dabei um ein Symptomverständnis, welches uns zu einer Haltung führt, die Verhaltensweisen des anderen als dessen Existenzgrundlage anzuerkennen. Das tiefe Verstehen, mit dem Versuch, Autismus aus einer anderen Perspektive zu erfassen, ist das Fundament, um dem Kind dort zu begegnen, wo es sich jeweils in seinem Reifungsprozess befindet. Anerkennende und somit hilfreiche pädagogische Beziehungen brauchen diese Unmittelbarkeit zum Kind und eine daraus resultierende solidarische Motivation von Seiten der Entwicklungsbegleiter.¹² Im pädagogischen und therapeutischen Handeln ist ein Einlassen auf die Perspektive des autistischen Kindes nötig, um dessen besonderen Bedürfnissen die nötige Aufmerksamkeit widmen zu können.
Dieser Perspektivwechsel ist für das autistische Kind und den autistischen Erwachsenen nur schwer möglich. Denn das autistische Kind hat zunächst nicht die Vorstellung, dass die anderen die Welt auf andere Weise wahrnehmen könnten. Es lernt spätestens als Erwachsener, dass es sich in einer Welt bewegt, die nach Vorstellungen und Maßstäben von Nic