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Im Chaos der Möglichkeiten: Wo ist mein Weg?
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Im Chaos der Möglichkeiten: Wo ist mein Weg?

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Aktuelle Zielkonflikte allgemein verständlich im Dialog entfaltet: Wie lässt sich eine starke Überzeugung mit Toleranz gegenüber entgegengesetzten Standpunkten verbinden? Unter welchen Voraussetzugen kann Sterbehilfe ethisch gerechtfertigt werden? Wie beurteilen wir den Aufwand für kulturelle Großereignisse in Anbetracht weltweiter Hungersnöte? Was hat das ökonomische Effizienzdenken mit Moral zu tun? Wie können wir auf die Jahrtausendfrage "Flüchten oder Bleiben?" antworten? Letzteren Live-Dialog hat Radio Darmstadt gesendet und ihm ein Interview von Helmuth Müller mit dem Philosophenpaar hinzugefügt. Die Texte aus beiden Features sind in diesem Band abgedruckt.

"Ich finde die Dialoge, die ich gelesen habe, gut verständlich und spannend. Gerade ihr Live-Charakter erleichtert dem Leser das Mitdenken. Auch das Beleuchten der jeweiligen Problematik in mehreren Anläufen ist hilfreich."
(Leiterin der Stadtbibliothek Werdau, 2018)
LanguageDeutsch
Release dateJan 16, 2019
ISBN9783748104544
Im Chaos der Möglichkeiten: Wo ist mein Weg?
Author

Thea Johannsson

Thea und Bruno Johannsson sind Mitbegründer des Café Philo in Chemnitz und dort seit 2012 Moderatoren. Auf Radio Darmstadt waren sie inzwischen mit 20 Stunden auf Sendung. Das vorliegende Buch ist der fünfte Band philosophische Dialoge in der von Ihnen entwickelten neosokratischen Methode. Thea ist Studienrätin a. D. in Germanistik und Geschichte.

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    Book preview

    Im Chaos der Möglichkeiten - Thea Johannsson

    Dieses Buch

    Ist eine Einladung zum Mitdenken und Nachdenken über den Stellenwert von Philosophie, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen. Der Leser wird ermutigt, das Motto des österreichischen Philosophen Karl R. Popper zu realisieren, das da lautet:

    „Jeder Mensch ein Philosoph."

    Durch die von den Autoren modifizierte sokratische Hebammenmethode kann der Leser die Geburt von Gedanken verfolgen, wie sie in einer Mischung aus logischer Disziplin und spontaner Reaktion entstehen. Er kann innehalten und seinen eigenen Eingebungen nachgehen. Hier wird er nicht mit fertigen Ergebnissen konfrontiert, sondern in einen ergebnisoffenen und verständlichen Diskurs eingebunden. Vielleicht regt das seinen Appetit an, sich auch mit klassischen Philosophen zu beschäftigen. Aber wichtiger ist uns, dass er sich seine eigene Meinung bildet. Wenn er möchte, kann er seine diesbezüglichen Gedanken mit uns teilen. Dies wäre unkompliziert über unsere Website mit dem folgenden Link möglich:

    https://theaundbruno.jimdo.com/kontakt.

    Dem Rabbi Jesus von Nazareth gewidmet,

    von dem uns die zentrale Bedeutung der Liebe für das

    menschliche Handeln überliefert ist.

    Inhalt

    Vorwort

    Dialoge

    Weltanschauung - Toleranz - Gewalt

    Sterbehilfe – Pro und Contra

    Fußballweltmeisterschaft einerseits - Millionen hungernde Kinder andererseits

    Was uns Mesut Özil gezeigt hat

    Effizienz – Damoklesschwert der Moderne?

    Ökonomisches Prinzip – moralisch indifferent?

    Flüchten oder Bleiben? Ein Jahrtausendproblem

    Exkurse

    Interview von Helmuth Müller mit Thea und Bruno Johannsson zum Thema „Flüchten oder Bleiben?" und zu einigen anderen Fragen

    Bruno Johannsson: Ich liebe dich, wenn ich mich liebe. Ich liebe mich, wenn ich dich liebe. Zum Verhältnis von Eigen- und Nächstenliebe Beitrag zum Philosophy Slam 2014 in Chemnitz

    Vorwort

    Wir folgen auch in diesem dritten Band unserer Dialoge dem Motto „jeder Mensch ein Philosoph, das dem österreichischen Philosophen Karl R. Popper zugeschrieben wird. Dieses Motto ist besonders plausibel, wenn es sich wie in diesem Band um ethische Fragen handelt. Wir könnten deshalb den Satz Karl Poppers für dieses Buch wie folgt variieren: „Jeder Mensch hat eine Ethik. Nach ihr trifft er bewusst und/oder unbewusst seine Entscheidungen. Welche Gesichtspunkte dabei eine Rolle spielen könnten, haben wir an einigen Beispielen herausgearbeitet.

    Unser Dialogverfahren basiert auf der „Hebammenmethode des griechischen Philosophen Sokrates, die von seinem Schüler Platon überliefert wurde. Um diese Methode an unsere persönliche Situation anzupassen und für die Wahrheitsfindung noch ergiebiger zu gestalten, haben wir sie in mehrfacher Hinsicht modifiziert zu einem „gleichberechtigten, konstruktiven und zweiphasigen Dialog über eine These. Dazu findet der Leser am Ende des ersten Bandes dieser Reihe „Spielregeln der Gesellschaft" einen Essay von Bruno, der das Wie und Warum näher erläutert und begründet.¹. Im 2. Band unserer philosophischen Dialoge wird in dem Interview mit Helmuth Müller, dem Redakteur von Radio Darmstadt, ausführlich über unsere Methode diskutiert.²

    Die Tatsache, dass es sich bei den Texten dieser Reihe um nur formal geglättete Live-Dialoge handelt, hat für den Leser einen Pferdefuß: Trotz der Beseitigung von Füllwörtern und ähnlicher Entgleisungen beim gesprochenen Wort, bleibt die sprachliche Qualität der Texte mangelhaft, wenn man eine durchschnittliche Schriftsprache zum Maßstab nimmt. Dafür bitten wir den Leser um Verständnis. Es ist der Preis für die Authentizität der Live-Dialoge, die wir erhalten wollten. Der letzte Dialog in diesem Band hat die besondere Eigenschaft, dass er nicht nur live aufgenommen sondern auch live vor Publikum durchgeführt wurde. Dies hat uns Frau Willuweit-Schirmbeck in dem gediegenen Veranstaltungsraum des Heinrich-Schirmbeck-Hauses auf der Rosenhöhe in Darmstadt ermöglicht, wofür wir ihr bei dieser Gelegenheit herzlich danken möchten.

    Thea Johannsson ist Studienrätin a.D. in den Fächern Deutsch und Geschichte, Bruno war als Diplomvolkswirt in Forschung und Lehre tätig und hat während seines Studiums Philosophie und Theologie als Nebenfächer belegt. Nach Renteneintritt sind daraus „Hauptfächer" geworden.

    Unser Ansatz könnte es dem Leser erleichtern, unbefangen seine eigenen Ansichten den hier geäußerten gegenüber zu setzen – schließlich hat er es hier nicht mit „Fachphilosophen zu tun - und damit zu einem im Geiste Mitphilosophierenden zu werden. Nicht nur, wenn ein Leser ein Aha-Erlebnis hat und einen für ihn neuen Aspekt entdeckt, sondern auch wenn er sagt: „Das sehe ich aber ganz anders, weil … hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

    Auch Helmuth Müller fühlte sich dieses Mal wiederdazu angeregt, selbst in ein philosophisches Gespräch mit dem Philosophenpaar zu dem gerade behandelten Thema und einigen seiner besonderen Anliegen einzutreten. Dieses Interview war so umfangreich, dass er daraus eine zweite Sendung gestalten konnte. Wir danken ihm und Radio Darmstadt für diese Arbeit. Helmuth Müller war auch dieses Mal wieder davon angetan, dass Philosophie so verständlich sein kann, was er von der Universitätsphilosophie nicht gewöhnt war. Wir hoffen, dass ihm zumindest ein Teil der Leser dieses Buches zustimmen wird. Über Kommentare, Stellungnahmen, Kritiken – positive und negative – aus Leserkreisen würden wir uns freuen. Sie könnten im Internet über www.theaundbruno.jimdo.com/kontakt erfolgen. Solange es unsere Kapazität nicht übersteigt, würden wir auch darauf antworten.

    Dezember 2018 Thea und Bruno Johannsson


    1 Vgl. Bruno Johannsson (2017): Die Hebammenmethode modifiziert. Essay, in: Thea und Bruno Johannsson: Spielregeln der Gesellschaft. Was uns zusammenhält und auseinandertreibt. Philosophische Dialoge Band 1 in der Edition Sokrates, BoD, Norderstedt, S. 232 ff.

    2 Vgl. Thea und Bruno Johannsson (2018): Der Weg zur Wahrheit holprig und schmal? Philosophische Dialoge Band 2 in der Edition Sokrates, BoD, Norderstedt, S. 203-213.

    Weltanschauung - Toleranz -Gewalt

    B. Heute ist Mittwoch der 27. September 2006, und wir möchten eine neue These in Angriff nehmen, die in diesem Fall ich stelle und die wie folgt lautet:

    Je tiefer die Überzeugung eines Menschen von einer Weltanschauung, desto größer ist die Gefahr von Intoleranz gegenüber anderen Überzeugungen und desto größer ist die Neigung, Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Überzeugung anzuwenden.

    Es ist jetzt deine Aufgabe, diese These etwas besser zu verstehen, falls das erforderlich ist.

    T: Kannst du mir kurz erklären, was du unter Weltanschauung verstehst?

    B: Ich habe hier bewusst nicht den Begriff Religion gewählt, weil gerade der Zusammenhang, den ich hier beschreibe, auch auf sehr eindrucksvolle Weise nachgewiesen werden kann bei nichtreligiösen Weltanschauungen, siehe Nationalsozialismus, Kommunismus und andere.

    T: Das meine ich auch. Das heißt, hier sind bewusste Weltanschauungen gemeint, wo auch Kanons existieren, deren Eckpunkte sehr festgelegt sind. Ich meine, jeder Mensch hat eine Weltanschauung, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Hier geht es somit wohl nicht um irgendeine diffuse Weltsicht, die man haben kann, ohne es überhaupt zu wissen, sondern um eine ganz bewusste Sicht der Welt, die dann einen Überzeugungscharakter hat, einen ganz bewussten Überzeugungscharakter. Man weiß, zumindest in den wesentlichen Grundzügen, woran man glaubt und kann es artikulieren. Ist das Voraussetzung oder würde deine These auch für etwas diffusere Weltanschauungen zutreffen?

    B: Du hast gerade selbst gesagt: Jeder Mensch hat eine Weltanschauung. Diese Meinung teile ich, und einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl R Popper, scheint diese Meinung auch geteilt zu haben. Der zuletzt über ihn erschienene Sammelband trägt den Titel „Jeder Mensch ist ein Philosoph". Und daraus folgt schon, obwohl wir selbst das Buch noch nicht gelesen haben, aber sehr wahrscheinlich lesen werden, dass jeder Mensch eine Weltanschauung hat. Diese Weltanschauung kann aber sehr unterschiedlich bewusst sein, sie kann sehr unterschiedlich präzise sein, der Grad der Überzeugung von dieser Weltanschauung kann mehr oder weniger stark sein. Mit anderen Worten: es gibt, nach meiner Vermutung, nicht nur so viele Weltanschauungen wie es Menschen gibt, wenn man genau hinschaut, sondern diese Weltanschauungen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in den anderen Merkmalen, die ich gerade genannt habe: Bewusstheit, Präzision, Überzeugung davon und so weiter. Alles das, was du da genannt hast, müsste man auf Skalen messen und dann eben unterschiedliche Ausprägungen von Weltanschauungen zu Grunde legen. Mir kam es hier auf zwei Merkmale von Weltanschauungen an – eigentlich sogar nur auf ein Merkmal, sehe ich jetzt gerade – nämlich auf die Tiefe der Überzeugung von der Weltanschauung.

    T: Aha. Und meinst du, dass Präzision und Bewusstheit der Weltanschauung keine Rückwirkungen auf die Toleranz oder Intoleranz haben?

    B: Sicherlich könnte man sehr leicht hundert verschiedene Merkmale von Weltanschauungen herausfinden und sie dann auch klassifizieren, zumal es hier um ein geistiges Phänomen geht, etwas, was vielleicht auch im Gehirn, aber nicht nur im Gehirn, verankert ist. Von daher sind sicherlich sehr viele Merkmale anzunehmen. Aber was das Merkmal der Präzision anbelangt, kann ich mir durchaus vorstellen, dass gerade ein Fanatiker eine Weltanschauung haben kann, die bei genauer Nachfrage alles andere als präzise ist, und trotzdem ist er zutiefst von dem, was er da hat und was möglicherweise keinerlei philosophischer Prüfung standhalten würde, überzeugt.

    T: Also du meinst, jemand tötet für seine „Überzeugung" in Anführungsstrichen, aber wenn man ihn befragen würde, würde er selbst die Inhalte dieser Weltanschauung gar nicht korrekt wiedergeben können?

    B: Zum Beispiel. Wenn wir uns überlegen, wieviel Selbstmordattentäter wir im Bereich des Islam in den letzten Jahren schon hatten – angenommen es wären 500 gewesen in den verschiedenen Ländern - dann ist die Frage: Was hatten diese 500 Menschen für einen Bildungsstand? Wie gut kannten sie den Islam? Wie gut kannten sie den Koran, außer dass sie ihn auswendig konnten? Wie sehr hatten sie ihn verinnerlicht? Wie gut hatten sie ihn verstanden? Ich weiß es nicht. Das wäre eine interessante Forschung, aber die Leute sind natürlich alle tot. Man könnte - was technisch sehr schwierig sein dürfte für die Wissenschaftler - die ganzen „Schläfer" mal analysieren,

    T: (lacht) Dazu müsste man sie erst mal herausfinden.

    B: (lacht auch): die weltweit bereit stehen. Ich vermute, es sind mehr als tausend, vielleicht mehr als zehntausend, vielleicht mehr als hunderttausend, die im Prinzip bereit sind, ein solches Opfer zu bringen. Und dann müsste man sich ansehen, was die für einen Bildungsstand haben. Ich will aber gleich hinzufügen: Da können durchaus hochintelligente und sehr gebildete Leute dabei sein. Nach dem, was ich aus den Medien entnommen habe, waren gerade die Attentäter vom 11. September doch wohl Studenten gewesen und hatten durchaus eine mehr oder weniger ausgeprägte akademische Ausbildung. Ich wollte eben nicht sagen, dass nur jemand, der intellektuell sehr schwach ausgeprägt ist, zu einer solchen Tat fähig ist, sondern vielleicht könnte sich sogar eine eher entgegengesetzte Gesetzmäßigkeit finden lassen, dass besonders intelligente Leute zu solchen Taten neigen. Das könnte auch sein.

    T: Oder dass es Merkmale gibt, die unabhängig vom Intelligenzgrad potentielle Attentäter kennzeichnen. Aber wenn ich jetzt diese Erläuterungen höre, dann könnte man fast sagen: „Je tiefer die Überzeugung eines Menschen von überhaupt etwas ist, umso größer die Gefahr von Intoleranz gegenüber denen, die diese Überzeugung nicht teilen.

    B: Das wäre eine weitere Verallgemeinerung der These. Ich lege Wert darauf, bei dem Begriff „Weltanschauung" zu bleiben, weil das nun gerade besonders aktuell ist und weil es zu diesem Phänomen Terrorismus gehört, dass Menschen von etwas überzeugt sind. Es muss um eine Überzeugung von grundlegenden Dingen gehen, nun nicht gerade was ihre Gartengestaltung anbelangt oder die Art und Weise, wie sie mit ihrem Auto umgehen, sondern dass wirklich Dinge zu Grunde liegen, die von globaler Bedeutung sind, die sich auf eine Weltanschauung beziehen, die einen großen Anspruch hat in globaler Hinsicht.

    T: Ja, natürlich. Das stimmt. Wenn sich Intoleranz auf einen Inhalt bezieht, der sozusagen die gesamte Weltsicht umfasst, dann tritt sie leichter zu Tage, als wenn ich nur intolerant bin, meinetwegen in Fragen der Mode. Das wäre der Zusammenhang zwischen Überzeugung und Toleranz, und nun sagst du, je tiefer sie ist, desto größer die Gefahr der Intoleranz. Was ist für dich Toleranz beziehungsweise Intoleranz?

    B: Das ist jedenfalls eine gute Frage, auf die wir sicherlich einige Zeit werden aufwenden müssen. Ich schlage vor, dass wir uns vertagen. Dann kann ich über die Frage auch mal ein bisschen nachdenken.

    T: Gut. Bevor wir uns vertagen, will ich dir schon andeuten, in welche Richtung da meine Frage oder meine Kritik geht. Ich wäre fast bereit, die These dagegen zu setzen: „Nur ein Mensch, der von etwas überzeugt ist, kann überhaupt im klassischen, im wörtlichen Sinne tolerant sein. Denn Toleranz, das kommt ja ursprünglich von „tolere, also „leiden, dulden her, und jemand, dem alles egal ist, der leidet nicht, wenn andere anders denken und ihr Handeln dann auch von diesem anderen Denken geprägt wird. Nur wer selbst eigene Überzeugungen hat, leidet darunter, wenn diese Überzeugungen das gesellschaftliche Leben nicht prägen.

    B: Das können wir als Schlusswort gelten lassen und daran dann anknüpfen das nächste Mal.

    B: Heute haben wir Donnerstag den 28. September 2006. Du hattest die Frage in den Raum gestellt: Was ist Toleranz? Ich muss ganz ehrlich zugeben, ich habe nicht darüber nachgedacht in der Zwischenzeit, was etwas bedauerlich ist. Aber ich werde trotzdem versuchen, diese Frage zu beantworten. Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass es sich bei Toleranz um eine Einstellung handelt, die bedeutet, dass man anderen Menschen zugesteht, gemäß ihren Überzeugungen zu handeln und zu leben. Diese Einstellung ist dann besonders bemerkenswert, wie du schon angedeutet hast, wenn man selbst eine starke Überzeugung hat und wenn man ansehen muss, wie andere Menschen andere Überzeugungen haben und danach handeln.

    T: Das ist richtig, zumal der Fall selten ist, dass die Handlungen anderer keine, überhaupt keine externen Effekte haben. Wie soll ein Tierschützer es aufnehmen, wenn zum Beispiel ein anderer aus religiöser Überzeugung ein Tier auf eine Art und Weise schlachtet, die seiner Überzeugung nach Tierquälerei ist? Mit welchen Gefühlen vermag er dann Toleranz zu üben? Wird er sie überhaupt üben? Noch schwieriger wird es dann natürlich, wenn die Behandlung von Menschen auf dem Spiel steht. Aber ich möchte doch jetzt erst einmal weiter die Fragephase haben. Stimmst du mit mir darin überein, dass man, wenn man alle Überzeugungen als gleichwertig ansieht oder auf dem Standpunkt steht: „Nichts Genaues weiß man eh nicht; deswegen müssen alle das gleiche Recht haben, dass dann eigentlich von Toleranz gar nicht mehr gesprochen werden kann? Oder würdest du sagen: „Alle gleichmäßig gelten lassen und respektieren, nicht nur dulden, das ist eigentlich die höchste und beste Form der Toleranz?

    B: Das wäre ja eine ganz bestimmte Weltanschauung, die möglicherweise auf einer bestimmten Erkenntnistheorie beruht, dass man sagt: „Alle Weltanschauungen, alle Überzeugungen sind letzten Endes gleichwertig." Jemand, der diese Auffassung hat, ist in Sachen Toleranz möglicherweise gar nicht gefordert. Außer in Bezug auf die Personen, die diese Auffassung nicht teilen, die nämlich meinen, es gibt nur eine Wahrheit, und diese eine Wahrheit muss möglichst durchgesetzt werden. Hier wird auch dieser Mensch, mit dieser Auffassung, die fast agnostizistisch ist oder jedenfalls als eine Art Variante des Agnostizismus betrachtet werden kann, hier ist auch er provoziert, weil es auch hier das Gegenteil gibt.

    T: Stimmt! Und da fragt sich, wie sich dann diese „Toleranz" in Anführungsstrichen bewährt. Auf jeden Fall freue ich mich, dass auch du der Meinung bist, dass eigentlich in diesem Falle die Toleranz sich gar nicht erst bewähren muss oder gar nicht erst aufgewendet werden muss. Das heißt, dass wir doch unter Toleranz nun in etwa das Gleiche verstehen, nämlich etwas erdulden, das einem unangenehm ist, um der Freiheit, der Gewissensfreiheit, der Handelsfreiheit, der Wahlfreiheit anderer willen. Das bedeutet natürlich: das wird denen umso eher gelingen, in deren Weltanschauung diese Dinge, Wahlfreiheit, Gewissen usw. Werte sind.

    B: Das ist interessant. Du hast sozusagen einen Wertekonflikt dargestellt zwischen den Inhalten der eigenen Überzeugung, die man für wahr, die man für wichtig hält, und einem ganz besonderen speziellen Wert, nämlich der Freiheit des Menschen. Es ist durchaus vorstellbar, dass es Überzeugungen, Weltanschauungen gibt, in denen die Freiheit des Menschen keinen großen Stellenwert hat oder gar nicht vorkommt. Und gerade diese Weltanschauungen werden sich dann mit der Toleranz schwer tun, denn die sind ja durch ihr eigenes Wertesystem nicht aufgerufen zur Toleranz.

    T: Richtig. Darauf wollte ich nämlich in einem weiteren Gespräch noch kommen, dass meiner Ansicht nach die Toleranz nicht nur von der Tiefe und Intensität der Überzeugung abhängt, sondern auch von den Inhalten der Überzeugung, die jemand hat. Aber zunächst mal wollten wir noch bei der Definition der Toleranz bleiben. Zunächst mal sind wir einig: So lange es jemandem egal ist, so lange er sagt „Alles ist gleichwertig hat er in einem gewissen Sinne die Toleranz noch gar nicht nötig. Toleranz wird erst dann eine Tugend oder kann überhaupt erst vorkommen und möglich werden, wenn es einen eine gewisse Überwindung kostet, den anderen „nach seiner Fasson selig werden zu lassen. Das scheint etwas zu sein, wo wir uns einig sind.

    B: Ich meine, du gehst jetzt hinter das zurück, was du vorhin schon spontan zugestanden hattest, nämlich dass auch derjenige, dem alles so ziemlich egal ist, das Problem hat, mit den Leuten umzugehen, die zutiefst von etwas überzeugt sind. Also an der Toleranz kommt in diesem Sinn gar niemand vorbei.

    T: Stimmt.

    B: Das möchte ich hervorheben. Das war vorhin sehr einleuchtend gewesen und soll es auch bleiben: Es kommt niemand an der Toleranz vorbei. Außer –gerade fällt mir doch noch ein Fall ein - außer die Menschen, die in einem abgeschlossenen System leben, in dem alle die gleiche Überzeugung haben. Dort ist die Toleranz gegenstandslos.

    T: Vorausgesetzt, dass sie diese Überzeugung von innen her teilen. Sonst leiden sie nur noch. Dann ist zwar ihre Intoleranz nicht störend für die anderen, könnte sie aber selbst zerstören. Ich meine, wenn man der einzige mit einer Überzeugung in einer Umgebung ist, in der alle anderen sich in einer anderen Überzeugung einig wären.

    B: Ich sprach von einer überzeugungsmäßig völlig homogenen Gesellschaft; eine Art Modellvorstellung. Homogen bedeutet hier: Inhalte gleich, Tiefe gleich, alles gleich.

    T: Das geht schon sehr weit. Es würde ja schon reichen, wenn die Inhalte wirklich gleich sind, nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern von allen geglaubt werden, wenn auch mit mehr oder weniger Intensität. Dann hast du Recht. Dann dürfte eigentlich dieser Konflikt, der Toleranz erfordert, gar nicht auftreten.

    B: Da ich ja immer das christliche Gedankengut dazu im Blickfeld behalten möchte, fällt mir dazu gerade ein, nur als kleiner Nebengedanke, den man später vielleicht einmal aufgreifen könnte: Die himmlische Gesellschaft könnte so eine homogene Gesellschaftsordnung sein. Allerdings wissen wir sehr wenig darüber, muss man sagen. Aber meine Vorstellung davon ist schon die, dass bei Gott keine Differenzen bestehen in Sachen Überzeugung. Was die Tiefe anbelangt, da die Seelen bestimmt nicht alle gleich sind, die in einer solchen Gesellschaft des Jenseits leben, müsste man die Frage mal offen lassen.

    T: Soweit ich die Offenbarung kenne, vermute ich, dass Nächstenliebe und Respekt vor der Freiheit anderer selbst in der himmlischen Gesellschaft gefordert sein werden, weil die sich dadurch auszeichnet, dass deren Insassen oder Bürger oder wie man es nennen will, Zugang auch zu allen anderen Welten haben, außer vielleicht den Söhnen des Verderbens, so dass sie zwar in ihrer Gesellschaft die Toleranz nicht nötig haben, aber sie sind nicht in sich hermetisch abgeschlossen, sondern haben umfangreiche Informationen über andere. Daher ist ihr Informationsstand so groß, dass sie denen gegenüber diese Einstellung nötig haben werden.

    B: Danke für diese Ergänzung. Das stimmt auch mit meiner Sicht der Offenbarung überein. Es wird auch dort sehr viele Unterschiede geben, die ja teilweise durch neuzeitliche Offenbarung schon recht detailliert beschrieben sind. Allerdings im Vergleich zu dem, was man noch gern wüsste, ist das immer noch sehr wenig an Information, was man da hat. Aber jedenfalls wird es in der Tat so sein, dass dann die auferstandenen Wesen der höchsten Welt die unteren Welten besuchen und dann anlässlich dieser Besuche und überhaupt auch bei der Kontrolle dieser Welten durchaus gefordert sind in Sachen Toleranz.

    T: Wir haben jetzt herausgearbeitet: eine eigene Überzeugung, ein eigenes Wollen ist Voraussetzung für Toleranz. Würdest du mir darin zustimmen, dass entweder Voraussetzung zur Toleranz oder Voraussetzung zur Feststellung ihres Vorhandenseins auch ist, dass man ein gewisses Maß an Macht hat, das Verhalten, das einem unliebsam ist, zu verhindern? Wenn ich zwar in meinem Herzen intolerant bin, aber überhaupt keine Maßnahmen habe, um andere an dem Verhalten, das ich nicht mag, zu hindern oder zu stören, dann muss ich mich zähneknirschend fügen und vielleicht gebe ich mich aus taktischen Gründen nach außen hin tolerant. Erst wenn ich die Macht hätte, es zu unterbinden, und es lasse, kann man feststellen, ob ich tatsächlich tolerant bin oder nicht.

    B: Das ist eine sehr interessante Facette des Problems der Toleranz. Die sollten wir sicher später dann noch einmal aufgreifen, wenn es um das Thema Gewalt geht. Aber an der Stelle wäre die Frage, ob wir uns darauf einigen können, dass Toleranz nicht nur eine Frage des Handelns ist, das darin bestehen könnte, jemand anders daran zu hindern, etwas zu tun, was man nicht tolerieren möchte, sondern dass es in erster Linie oder auch eine Frage der Einstellung ist.

    T: Das würde ich dir zugeben. Deshalb habe ich das abgeschwächt und gesagt, dass die Macht nur die Voraussetzung ist, um Toleranz eines anderen festzustellen, aber eigentlich nicht die Voraussetzung ihres Vorhandenseins.

    B: Ich hatte ja auf deine Frage hin Toleranz definiert als Einstellung, ganz bewusst. Ich möchte das vorläufig auch so beibehalten und jetzt nur als Beispiel den Fall nennen, dass jemand ohnmächtig ist, keine Möglichkeit hat, ein bestimmtes Verhalten eines anderen Menschen, das er nicht mag, zu verhindern. Aber er leidet trotzdem darunter, das heißt: seine Intoleranz ist eine Quelle seines Unwohlseins, seines Ärgers, seines Unglücklich-seins, obwohl er selbst gar nichts tut, sondern nur zusehen muss, wie jemand anderes etwas tut.

    T: Das ist richtig. Nur könnte man einen sehr weiten Begriff von Intoleranz haben und sagen: Immer wenn ich mich über etwas ärgere, bin ich intolerant. Aber wie ist es, wenn der auf mich zugeht und mich verprügelt, dann leide ich ja nicht nur auf Grund meiner Einstellung, sondern dann leide ich auch auf Grund der Schmerzen, die mir da beigebracht werden. Ist nun derjenige, der den anderen daran hindern will, wenn er irgend kann, intolerant oder nicht? (lacht)

    B: Darauf möchte ich eine Antwort geben, die aber zunächst einmal als etwas humorvoll betrachtet werden soll und die aber zugleich in Anbetracht der vorgeschrittenen Zeit das Schlusswort sein sollte: Nehmen wir einmal an, es schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann bedeutet christliche Moral: halte ihm die andere hin. Wir wollen das mal nicht vertiefen, inwieweit uns das hier weiterbringt. Aber das nächste Mal könnten wir das dann vielleicht tun. Bist du damit einverstanden, dass wir es dabei bewenden lassen heute?

    T: Das können wir, obwohl ich es dann nicht als Problem der Toleranz ansehen würde.

    B: Heute ist Samstag der 30. September 2006. Wir sind bei dem Thema Toleranz, und ich hatte unser letztes Gespräch mit der als humorvoll gedachten Bemerkung geschlossen, dass man dann, wenn einem jemand einen Schlag auf die eine Backe gibt, Toleranz üben kann, indem man ihm die andere Backe hinhält.

    T: Ich hatte, glaube ich, schon erwähnt, dass ich meine, dass man dazu mehr braucht als Toleranz, wobei ich – das ist ja immerhin ein Zitat aus der Bergpredigt – das nicht nur als humoristisch betrachten kann. Aber ich glaube, in dieser Phase sollten wir vielleicht das noch nicht aufgreifen. Ich hätte noch Fragen darüber, was du unter Gewalt verstehst.

    B: Das knüpft unmittelbar an das an, was wir eben besprochen haben. Eine solche Ohrfeige ist ein Akt der Gewalt. In dem Moment, wo gegen den Körper einer Person vorgegangen wird, kann man auf jeden Fall von Gewalt, von physischer Gewalt, sprechen.

    T: Ja.

    B: Es gibt dann sicher noch Formen psychischer Gewaltausübung und so weiter. Die können wir im Moment noch mal zurückstellen. Was uns in der heutigen Zeit besonders beschäftigt, ist die Gewalt, die von Terroristen ausgeübt wird, insbesondere den islamistischen Selbstmordattentätern, und hier geht es darum, dass ein Mensch einmal Gewalt gegen sich selbst ausübt, indem er etwas tut, was ihn selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tode bringt, gleichzeitig aber auch

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