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Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder?: LARP-Krimi
Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder?: LARP-Krimi
Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder?: LARP-Krimi
Ebook265 pages3 hours

Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder?: LARP-Krimi

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About this ebook

LARP [lɑːp]
live action role playing (game),
ein Rollenspiel, bei dem Spieler ihre Figur auch physisch darstellen und im Rahmen ihrer Rolle frei improvisieren.

Lillis neuer Freund Markus passt eigentlich perfekt zu ihr.
Wäre da nicht sein merkwürdiges Hobby: Er und seine Freunde sind sogenannte LARPer. Dieses Mal ist ein Krimi-Wochenende im Stil der 60-er Jahre auf einem Landgut geplant. Als Markus Lilli einlädt mitzukommen, kann sie nicht widerstehen. Sobald das Spiel beginnt und Lilli sogar einen Hinweis findet, beginnt sie, Gefallen an der seltsamen Veranstaltung zu finden. Doch schon bald wird die inszenierte Zeitreise bedrohlicher als gedacht –
und wirkt erschreckend real.

Aber es ist doch alles nur ein Spiel ... oder?
LanguageDeutsch
Release dateJul 23, 2018
ISBN9783961880553
Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder?: LARP-Krimi

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    Mörderspiel - Es ist doch alles nur ein Spiel, oder? - Daniela Beck

    ROLLENSPIELBEGRIFFE

    DONNERSTAG

    1.

    Lilli

    »Also ich kann mir diese ganze Rollenspielgeschichte immer noch nicht so richtig vorstellen. Das ist doch total …«

    »Verrückt?«

    Markus strahlt mich schon wieder mit diesem entwaffnenden Lächeln an. Gerade macht es mir Angst, aber nur deshalb, weil er in seiner Begeisterung den Blick viel zu lang von der Landstraße abwendet. »Pass auf!«

    Um uns herum ist zwar weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen, aber ich möchte wenigstens kurzzeitig in der Lage sein, ihm rational zu widersprechen, ohne von seinen freudig funkelnden dunklen Augen abgelenkt zu werden.

    »Albern? Was für Kleinkinder? Oder für komische arbeitslose, hässliche Freaks ohne Freundin?«, schlägt er mir weitere Fortsetzungsvarianten für meinen Satz vor und grinst. »Mach mich ruhig fertig, ich hab das alles schon mal gehört.« Er zwinkert mir auffordernd zu.

    Ja, ich habe Vorurteile, zugegeben. Aber ich habe mich eben auf diesen Feiertag gefreut und darauf, zum ersten Mal mit Markus wegfahren zu können. Allein. Dann kam diese verdammte Einladung – und natürlich konnte ich einfach nicht nein sagen, als er gefragt hat, ob ich mitkomme.

    Und jetzt? Jetzt werden wir die kommenden drei Tage damit verbringen, uns als irgendwelche Leute in den Sechzigerjahren auszugeben, um, und jetzt kommt das Merkwürdigste, etwas zu tun, von dem keiner von uns im Vorhinein genau wissen darf, was es ist. Klingt völlig absurd? Ja, das habe ich mir auch gedacht.

    Resigniert schaue ich aus dem Fenster und sehne mich zum ersten Mal in meinem Leben schon am Donnerstag nach Montag. Draußen ziehen Bäume vorbei. Ihr gelb und rot gefärbtes Laub leuchtet in der Nachmittagssonne. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. In der Arbeit habe ich erzählt, dass Markus und ich übers Wochenende zusammen wandern gehen. Schön wär’s. »Du weißt deine Rolle noch, ja?«

    Diese Frage stellt er mir heute schon zum zwanzigsten Mal. »Ja.« Ich verdrehe übertrieben gekränkt die Augen, bis mir einfällt, dass er das aus seinem Blickwinkel ja sowieso nicht sehen kann.

    »Mein Name ist Victoria Chester, ich bin 1938 geboren, arbeite als Privatdetektivin in Chicago, meine Eltern sind–«

    »Stopp! Du sollst mir doch nicht alles verraten. Sonst sprengst du noch den Plot.« Nach allem, was mir Markus in den letzten zwei Wochen über sein seltsames Hobby erklärt hat, weiß ich, dass es für uns in den nächsten Tagen von enormer Bedeutung sein wird, »nicht den Plot zu sprengen.« Also wechsele ich rücksichtsvoll das Thema.

    »Und ich muss wirklich die ganze Zeit so tun, als würde ich dich nicht kennen, nur weil unsere Spielfiguren nicht zusammen sind?«

    »Charaktere.«

    »Was?«

    »Es heißt ›Charaktere‹, nicht Spielfiguren.«

    »Meine ich ja.«

    »Und ich glaube, es wäre vom Plot her echt komisch geworden, wenn Anna auch noch irgendwelche Liebesgeschichten eingebaut hätte.« Markus sieht entschuldigend zu mir hinüber. Schon wieder dieser geheimnisvolle Plot. Ich denke an den verklärten Gesichtsausdruck, mit dem Markus in den letzten Tagen überdreht wie ein kleines Kind vor Weihnachten durch seine Wohnung gerannt ist, an undefinierbarem Zeug herumgebastelt und seine Koffer gepackt hat – und dabei gegrinst hat wie ein Honigkuchenpferd. Langsam macht mich der Grund dafür doch ein bisschen neugierig.

    »Ich sehe schon, gegen ›den Plot‹ habe ich bei euch einfach keine Chance.« Ich seufze theatralisch und fahre mit überzogen schmollendem Unterton fort. »Warum kannst du nicht einfach was Normales machen? So was wie Fußball spielen oder wandern zum Beispiel?«

    »Vielleicht, weil du dich mit mir dann sicher bald ganz furchtbar langweilen würdest?« Markus grinst. Guter Punkt. Ich betrachte sein unglaublich gut gelaunt aussehendes Profil von der Seite, während ich versuche, die erschreckend naheliegende Tatsache zu verdrängen, dass er möglicherweise recht hat.

    Eine gefühlte Ewigkeit später und ziemlich genau eine halbe Stunde, nachdem wir auch den letzten Rest Zivilisation hinter uns zurückgelassen haben, deutet Markus endlich auf einen breiten Schotterweg zwischen dem undurchdringlichen Dickicht um uns herum und stößt ein freudiges »Da muss es sein« aus. Woher er diese Gewissheit nimmt, ist mir nicht klar, da unser Navi sich bereits seit geraumer Zeit weigert, die baumfreien Abschnitte, auf denen wir uns über die letzten Kilometer hinweg bewegt haben, als Straßen anzuerkennen.

    Erleichtert, dass wir sein Auto genommen haben und ich meinen brandneuen Kleinwagen nicht durch diese Vorhölle für Felgen manövrieren muss, vergesse ich für einen Moment meine prinzipielle Abneigung gegen unseren Ausflug und betrachte die imposante Auffahrt, als die sich der Weg nach einigen Metern herausstellt. Links und rechts ragen windschiefe alte Bäume in die Höhe und allein der Gedanke, was für ein Anwesen sich wohl am Ende einer Zufahrt verbergen könnte, die länger ist als die gesamte Straße, in der ich wohne, weckt in mir annähernd so etwas wie Ehrfurcht.

    »Ich glaube, diese Location ist absolut perfekt.«

    »Perfekt? Wieso perfekt? Hier ist doch bisher überhaupt nichts. Nicht mal ein Handynetz.« Frustriert sehe ich auf mein Display.

    »Ganz genau.« Markus strahlt immer noch. »Einfach nichts.«

    »Nichts« stellt sich zu meiner Enttäuschung als ein noch kleinerer Seitenweg heraus, in den wir kurz darauf abbiegen. Und aus dem gigantischen Prachtbau in meiner Fantasie wird schon nach einer einzigen weiteren Kurve ein heruntergekommenes, uraltes Fachwerkhäuschen.

    »Das ist es? Das ist das fantastische, riesige Herrenhaus von Annas Urgroßmutter, von dem du mir in den letzten Tagen stundenlang vorgeschwärmt hast?«

    »Nee.« Markus schüttelt heftig den Kopf. »Das Hauptgebäude, in dem Annas Urgroßmutter Luise früher gewohnt hat, ist noch ein Stück weiter hinten. Das hier ist das alte Bedienstetenhaus, von dem uns Anna nachher abholt, wenn wir IT sind.«

    Ich schiele verstohlen auf meinen Unterarm. Unter meinem hochgezogenen Pulloverärmel habe ich mir einige von Markus’ komischen Abkürzungen und die dazugehörigen Erklärungen als Spickzettel notiert. »IT«, entziffere ich die verschmierten Filzstiftbuchstaben auf meiner Haut. » = ›In-Time‹, d.h. Teil der Handlung bzw. während der Handlung stattfindend.« Ich verstehe es immer noch nicht.

    »Warum holt sie uns ab? Hier ist doch eine riesige Auffahrt, die wir wunderbar hochkommen.« Ich ignoriere die Kiesel, die noch immer von außen gegen den Lack spritzen.

    »Weil die Anreise dann schon IT ist. Das ist von der Atmosphäre her viel besser. Du wirst sehen.«

    Ein paar Minuten später betreten wir das altertümliche Häuschen durch eine quietschende Holztür mit – zumindest für Markus – bedrohlich niedrigem Türrahmen und bewegen uns über ebenso laut knarzende Dielenbretter in Richtung Treppe.

    »Die anderen sind oben.« Markus deutet mit dem Daumen zur Decke und versucht, unsere beiden Koffer vor mir die ausgetretenen Stufen hinaufzuzerren. Ich genieße kurz den rührenden Anblick und freue mich darüber, wie sehr er sich für mich ins Zeug legt, komme mir aber letztendlich fies vor und helfe ihm mit den sperrigen Gepäckstücken.

    Im ersten Stock ist es deutlich wärmer, offensichtlich hat jemand für unsere Ankunft eingeheizt. Oder das Haus steht in Flammen. Nur wenige Schritte nach dem oberen Ende der engen Treppe geht eine ebenfalls hölzerne Tür ab, unter deren Spalt eindeutig Rauch hervordringt.

    Panisch greife ich nach meinem Handy, um die Feuerwehr zu rufen. Dann fällt mir das verdammte Funkloch wieder ein. Hilfesuchend schaue ich nach Markus. Der ist allerdings entweder auch noch heimlich bei der freiwilligen Feuerwehr oder ein ganzes Stück verrückter, als ich bisher dachte. Mit einem fröhlichen Lächeln und ohne das geringste Anzeichen von Überraschung öffnet er die qualmumwobene Tür.

    »Alter, schön dich zu sehen!« Eine zierliche Gestalt springt vor uns vom Boden auf. Um sie herum liegen Zahnräder, Drähte und ein ziemlicher Haufen sonstigen Elektroschrotts – und einige in bunten Farben rauchende Kugeln in kleinen Messingschalen.

    »Du bist Lilli, oder? Freut mich, dass wir uns endlich mal treffen. Ich bin Christina.«

    »Hi.« Etwas schüchtern greife ich nach ihren rußverschmierten Fingern.

    Christina trägt einen weißen Kittel über einem bunt gemusterten Sixties-Kleid mit blickdichten Strümpfen und weißen Stiefeln. Ihre rotbraunen Haare hat sie mit viel Aufwand und noch mehr Haarspray zu einem eindrucksvollen Beehive hochtoupiert, aus dem jedoch vereinzelte Strähnen in alle Richtungen abstehen, was ihrer Erscheinung einen etwas wirren Ausdruck verleiht. Dass hinter ihr immer noch Rauch aufsteigt, passt, wie ich finde, irgendwie ins Gesamtbild.

    Wäre Albert Einstein in den Sechzigerjahren als Frau wiedergeboren worden und hätte dabei seine Begeisterung für LSD entdeckt, hätte ich ihn mir genauso vorgestellt.

    »Du siehst anders aus. Wie immer.« Markus umarmt Christina und klopft ihr dabei auf die Schulter, wie er es sonst nur bei seinen ältesten Kumpels macht. Ich bin ein klein wenig eifersüchtig.

    »Sag, stimmt das, dass wir und Lukas die einzigen Spieler sind?« Schwungvoll wuchtet Markus unsere abgenutzten Lederkoffer – von seinen Eltern, meine schicke rote Nylonsporttasche hat er mir strikt verboten – in eine Ecke und lässt sich auf eine lange Holzbank an der Wand daneben fallen.

    »Genau. Der zieht sich gerade um.« Christina zeigt über ihre Schulter auf eine Tür weiter hinten im Raum. Zu meiner Erleichterung kriecht darunter weder Rauch noch sonst etwas Besorgniserregendes hervor. Beruhigt schalte ich das ohnehin nutzlose Handy aus und schiebe es in die Seitentasche meines Koffers.

    »Sie veranstaltet diesen ganzen Aufwand also tatsächlich nur für vier Leute.« Markus schüttelt den Kopf. » Anna ist wirklich unglaublich.«

    »Tja, wir sind halt die Elite.« Christina lächelt mich aufmunternd an und hockt sich dann Markus gegenüber auf den Fußboden. Hinter ihr explodiert etwas mit einem lauten Knall. Markus und ich zucken zusammen.

    »Toller Effekt, oder?« Christina wirft einen beinahe liebevollen Blick auf die verrußten Messingschalen.

    »Ja, klasse.« Wir nicken synchron. Bei Markus wirkt es aufrichtig.

    »Und dann natürlich noch das Personal.«

    »Personal?«

    »Ja. Anna hat ihre halbe Verwandtschaft angeheuert. Ihr Cousin, er heißt Dominik, ist der Butler und sein Vater, glaube ich, der Stallbursche. Außerdem gibt es noch eine Hauswirtin. Die ist sogar echt.«

    »Echt?«

    »Hm. Macht ihren Job einfach im Spiel weiter. Anna hat ihren Verwandten IT übrigens ihre echten Namen gelassen.« Christina wischt etwas Ruß von ihren ansonsten makellosen Stiefelkappen. »Sie meinte, dass sie sich als Nicht-Rollenspieler dann leichter tun und nicht immer erst mal irritiert gucken, wenn sie jemand anspricht.«

    »Nichts hier ist echt. Wir leben alle in einer Illusion.« Der mit unnatürlich tiefer Stimme gesprochene Satz donnert durch den sich immer weiter im Raum ausbreitenden Rauch in unsere Richtung. Hinter Christina hat sich die zweite Tür geöffnet und über den knarzenden Dielenboden nähert sich betont gemessenen Schrittes eine weitere Person.

    Lukas ist mindestens eins neunzig groß und trägt einen altmodischen braun melierten Anzug aus Wollstoff. In seiner rechten Hand hält er eine Pfeife, in seiner linken einen abgewetzten Lederkoffer.

    »Gestatten? Lohme. Mycroft S. Lohme.« Er lässt die, wie ich jetzt sehe, völlig leere Pfeife in seiner Jackettasche verschwinden und begrüßt mich mit einem galanten Handkuss.

    Dann schält er sich aus seinem vornehmen Fischgrät-Sakko, schmeißt es achtlos auf die Bank neben Markus, lässt die Hände in den Hosentaschen verschwinden und wendet sich mit einer schwungvollen Halbdrehung auf dem Absatz seiner blankpolierten Schuhe an Christina. »Mann, ich liebe angemessene Auftritte für meine Charaktere. Danke für die, äh, Räucherdinger.«

    Synchron mit seiner steifen Haltung ist auch sein versucht vornehmer Tonfall verschwunden. Jetzt, wo Lukas direkt vor uns steht und kein schmeichelhafter Nebel mehr zwischen ihm und unserer Bank liegt, sieht man auch, dass sein Anzug ein gutes Stück zu locker an seinem schlaksigen Körper herabhängt und dass sein vielleicht dreißigjähriges Gesicht nicht wirklich zu seinem Altherren-Outfit passt.

    »Alter, deine Anagramme werden auch immer schlechter.« Markus zieht gespielt vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. Dann verwandelt sich sein Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen und er begrüßt Lukas auf die gleiche vertraute Weise wie zuvor Christina.

    »Also, ich mag Anagramme.« Lukas lässt sich neben uns auf die Bank sinken und legt seine Arme wie ein beleidigtes kleines Kind um seine angewinkelten Beine.

    »Hä?« Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon die beiden reden. Ein Zustand, an den ich mich im Laufe dieses Wochenendes wohl früher oder später gewöhnen muss.

    »Holmes«, antworten Christina und Markus wie aus einem Mund. Ich sehe sie weiter verständnislos an.

    »Lukas war wie immer zu faul, sich einen Namen auszudenken, hat sich deshalb unoriginellerweise nach Sherlock Holmes’ Bruder benannt und dabei einfach die Buchstaben von dessen Nachnamen verdreht«, klärt mich Christina auf.

    »Sherlock Holmes hatte einen Bruder?« Meine Frage muss ein Fehler gewesen sein. Jedenfalls starren mich Lukas und Christina plötzlich völlig entgeistert an. Dann fängt Lukas an zu lachen und schüttelt mir ein zweites Mal die Hand.

    »Schön, dich kennenzulernen, Lilli. Endlich mal jemand wirklich Neues. Ich bin Lukas … oh, und bevor wir anfangen …« Er greift in eine abgewetzte Ledertasche, die neben der Bank an der Wand steht, und zieht eine Flasche Likör heraus.

    »Genau denselben haben meine Eltern immer in den Sechzigerjahren getrunken. Okay, das Etikett sieht mittlerweile etwas anders aus, aber meine Mama schwört, dass er immer noch genauso schmeckt. Wer will was?«

    Ohne eine Antwort abzuwarten, kramt er ein paar Becher hervor, schüttet in jeden schwungvoll etwas von der klebrigen Flüssigkeit und drückt uns allen einen in die Hand. »Mehr gibt’s nicht, wir müssen ja nachher noch hellwach sein. Cheers.«

    »Apropos nachher, wie viel Zeit haben wir noch?« Christina greift nach Lukas’ Handgelenk, offenbar auf der Suche nach einer Armbanduhr. Lukas beugt sich zu ihr herunter und fördert mit einer saloppen Bewegung eine altmodische Golduhr an einem abgewetzten Lederarmband unter seinem Ärmel zu Tage. Dabei stößt er gegen sein unverändert zerknüllt daliegendes Jackett und die Pfeife, die er vorhin dort verstaut hat, fällt mit lautem Klappern zu Boden.

    »Mist.« Er verzieht das Gesicht und versucht, möglichst würdevoll nach dem abgestürzten Rauchutensil zu greifen. »Etwa anderthalb Stunden. Ach ja, eines noch …« Lukas dreht sich wieder zu uns herum und seine Stimme klingt mit einem Mal sehr viel ernster als vorher.

    »Ich hab mich vorhin mit Anna unterhalten und sie hat mir noch was erzählt, das ich euch weitersagen soll.« Lukas’ Gesicht ist anzusehen, dass er sich gerade alles andere als wohl fühlt. »Es gab bei ihr wohl mal ein ziemliches Familiendrama. Anna meinte, sie weiß auch nicht so genau, was passiert ist, aber …«, Lukas zögert, »… irgendein entfernter Verwandter … ich glaube, es war der Großneffe ihrer Uroma oder so, der hier als Kind gewohnt hat, hat sich vor ein paar Jahren umgebracht.« Christina, Markus und ich schweigen betroffen. »Also Anna kannte ihn wohl nicht persönlich und im Grunde hat das natürlich auch alles nichts mit uns zu tun. Außer, dass es wohl einen riesigen Erbstreit gab und sie ganz schön gezittert hat, ob wir das Haus noch nutzen können. Aber diese Frage hat sich ja offensichtlich geklärt.« Lukas fährt in beschwichtigendem Tonfall fort. Unsere betretenen Mienen haben ihn eindeutig verunsichert.

    »Es ist nur … Dominik und dieser Verwandte, er hieß Albert, standen sich wohl recht nahe und Dominik macht das alles immer noch total fertig. Deswegen sollen wir ihn auf gar keinen Fall darauf ansprechen. Also bitte denkt daran:«, er hebt mahnend den Zeigefinger, aber seine offenbar scherzhaft gemeinte Oberlehrergeste wirkt eher unbeholfen als aufmunternd, »Falls ihr auf irgendetwas stoßen solltet, das mit diesem Albert zu tun hat, erwähnt es unter keinen Umständen, weder IT noch OT, gegenüber Dominik, und am besten auch nicht gegenüber der Haushälterin oder Dominiks Vater, okay?« Wir nicken wortlos.

    Nach einigen weiteren Minuten voller unbehaglichem Schweigen, einem unruhigen Blick auf die Uhr und einem auffordernden Nicken von Markus gehen wir beide schließlich ebenfalls zum Umziehen ins Nebenzimmer und ich schlüpfe in die Flohmarktklamotten, die ich mir Markus zuliebe für diesen Anlass zugelegt habe.

    Schließlich stehen wir alle wieder mit unserem Gepäck unten vor dem Ausgang und warten auf Dominik, der uns, wie ich mittlerweile erfahren habe, in Kürze abholen soll.

    Die Nachmittagssonne hat sich inzwischen verzogen und einem ungemütlichen trüben Herbstabend Platz gemacht. Wortlos betrachte ich die anderen in ihren Kostümen und muss zugeben, dass wir alle verdammt echt aussehen. Unruhig zupfe ich an meinem Mantelärmel. Es ist zwar albern, aber ich werde langsam nervös. Immerhin habe ich noch immer nicht die geringste Vorstellung von dem, was uns an diesem Wochenende erwartet.

    2.

    Victoria

    »Kann ich Ihnen mit dem Koffer helfen?« Der äußerst gutaussehende und in einen schmal geschnittenen, dunklen Anzug gekleidete Mann neben mir begutachtet besorgt das sperrige Lederutensil, das noch etwas schief auf der Böschung hängt, über die ich es eben gewuchtet habe.

    Meine Mitreisenden und ich stehen etwas verloren an dem verlassenen Waldweg, der als Treffpunkt verabredet war. Die letzten Sonnenstrahlen versickern kraftlos im Dickicht und das heraufziehende Dämmerlicht skizziert filigrane Geisterwesen in den Ästen der Bäume, die sich dunkel vor dem rot gefärbten Himmel abzeichnen.

    »Danke, es geht schon, aber der Fußmarsch vom Bahnhof war doch ein gutes Stück weiter, als ich angenommen hatte.« Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es wäre klüger gewesen, ein Taxi zu nehmen. In dieser

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