Wirklich?
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"Unruhe", das ist der Entwicklungsroman über einen Jugendlichen zur Zeit der 1950er und 1960er Jahre. Andreas, Hauptfigur und Anti-Held, verspürt und durchlebt den Aufbruch, die Aufgeregtheit und den Widerwillen seiner Generation gegen das Vorgegebene. Seine "Geschichte einer Jugend" beschreibt exemplarisch die Suche nach sich selbst. Das bewegende Selbstporträt eines unangepassten Neinsagers entsteht und die allmähliche Wahrnehmung, dass seine Konflikte auch noch heute brennend aktuell sind.
Wie nahezu seine ganze Generation, so vibriert auch Andreas. Er ist nicht weniger unruhig, aber anders unruhig. Wir begleiten Andreas durch verschiedene Lebensabschnitte: von der frühen Kindheit über die Pubertät bis zum Ende des Studiums und den Anfang der 1968er Jahre. Wir erleben seine ersten Befreiungsversuche im Rahmen einer "antiautoritären " und "sexuellen Revolution", seine Auseinandersetzung mit den Eltern, seine Rebellion gegen Leistungszwänge, seine Konflikte mit Freundinnen. Erst ganz allmählich kann er sich von überkommenen Konventionen lösen, bis er schließlich zu sich selbst kommt – und tatsächlich auch seine erste "nichtakademische" Lebensprüfung besteht.
Gehversuche
Gibt es Gespenster?
»Ich werde dir etwas zeigen.«
Vater hatte das gesagt. Er hatte mich geweckt, er hatte mich mehrmals gerüttelt, bis ich wach wurde. »Andreas, willst du nun oder nicht?«
Uwe schlief weiter, Uwe drehte sich schlafend um, leise gingen wir an seinem Bett vorbei. In der Küche dampfte der Kessel. Vater goss mir Tee ein, schob mir eine Scheibe Brot und Butter hin. Vater kaute mit vollen Backen, sah mich an, zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann so früh nichts essen«, sagte ich. – »Du musst essen, sonst kannst du nicht mitgehen«, antwortete er. Ich nahm eine schmale Scheibe Brot, die Butter so fett, ich kaute, würgte. Drei Uhr in der Nacht. Um drei Uhr hatte Vater mich geweckt, ich war noch nie so früh aufgestanden.
Mutter war im Bett geblieben. Weder Uwe noch Mutter würden mitgehen.
»Ich werde dir etwas zeigen.«
Unsere Schuhe klackten auf dem Asphalt, hart klackten sie, niemand ging außer uns. Die Hauswände waren schwarz, nirgends ein Licht, der Himmel war schwarz. Mich fror, ich knöpfte die Jacke zu. Eine Lampe kam, sie glitt über uns hinweg, unsere Schatten huschten auf dem Gehsteig, wurden länger, huschten weg.
Der Wald kam, die Bäume schluckten uns, die Schuhe klackten nicht mehr, Erde war unter unseren Füßen, weich, die Schuhe verschwanden im Dunkel. Wo war Vater? Ich suchte nach seiner Hand, seine Finger legten sich fest um meine Finger.
»Hast du Angst?«
»Ich habe keine Angst.«
Vater lachte leise. »Das ist gut so«, hörte ich seine Stimme aus dem Dunkel.
Der Mond hüpfte hinter einem Zweig hervor, leuchtend, gelb, hüpfte über uns durch die Zweige, begleitete uns. Jetzt sah ich meine Füße wieder, sie warfen Schatten im Mondlicht.
Ein Gerippe schimmerte, streckte einen Arm gegen den hüpfenden Mond, der Arm war gespalten, hatte Finger, Spinnenfinger. »Gibt es Gespenster?« – »Nein, gibt es nicht. Hast du Angst?« – »Habe keine Angst.« Ich löste meine Hand aus der seinen, steckte sie in die Hosentasche, ging nun alleine, ging zwei Schritte hinter ihm. Vater drehte sich nach mir um. »Schau, diese Wurzel.« Er deutete auf das Gerippe.
Der Mond blieb über der Spitze einer Tanne stehen. Der Mond sah mich an. Der Mond hatte ein Gesicht. Ich stand eng bei Vater, fasste wieder seine Hand, fühlte seine Finger, heiß.
»Hörst du?« Er fragte es leise.
Es knackte. Es war still.
»Hörst du die Stille?«, fragte er.
Die Stille. Ich hörte nichts.
»Man kann die Stille hören«, sagte Vater.
Ich hörte, wie mein Herz pochte.
Drei Uhr in der Nacht … Wenn die Sterne über den Bergen funkeln, Andreas, ich sag dir …
Vater, wie er vom Gebirge erzählte.
… einen solchen Himmel hast du noch nie gesehen, einen solchen Himmel gibt es in der Stadt gar nicht. Nein, auch hier im Wald nicht.
Andreas, wenn dann die Sonne aufgeht: Zuerst nur ein rötlicher Schimmer am Himmel, dann rötlich die Bergspitzen, rötlich der Schnee, ja, auch im Sommer liegt dort oben Schnee, und du gehst und hörst nur deine eigenen Schritte – und plötzlich die Vögel, ein Konzert, sag ich dir – und dann, du hängst frei am Seil im Felsen, du blickst auf die Gipfel im Morgenlicht …
Vater hat alle Gipfel bestiegen.
Die Wiese vor uns … Silbrig glitzerten die Tropfen an den Gräsern … Weiß, etwas Weißes schwebte über die Gräser, hüllte sie ein, die Tropfen erstickten im Weiß. Ein Kopf stieg auf, ein Mund öffnete sich, ein Rachen mit Zähnen, der Rachen zerfloss, eine Hand kam aus dem Kopf … Gibt es Gespenster? Die Hand zerfloss …
»Andreas, schau, der Nebel.« Vater deutete zu der Mulde hin. »Sieht aus wie ein Pudel.« – »Wie ein Drache«, sagte ich. – »Wie ein Pudel«, sagte Vater. – »Ein Drache«, sagte ich. – »Jetzt … wie eine Ente …« – »Ein Adler«, sagte ich.
Die Bäume zerflossen, wurden weiß, oben an den Wipfeln schimmerten sie grün. Grün vor einer roten Wolke. Die Wolke bewegte sich, sie öffnete einen Rachen. »Ein Löwe«, sagte ich. – »Eine Katze«, sagte Vater.
Die Wolke brannte, Vulkane brennen so. Ein Strahl stieß durch die Wolke, stieß auf das Gras, die Tropfen leuchteten, alles leuchtete, leuchtete rot, die Sonne stieg hinter den Bäumen hoch.
Die Arme ausbreiten und …
Vater legte mir den Finger auf den Mund. »Jetzt ganz still.«
Die Stille hören.
Vögel zwitscherten …
»Spring!«
Vater hielt mir die Hände entgegen. Zwischen uns das Wasser, hüpfend, brodelnd, zischend, spritzend, dazu Steine, schlüpfrig. Vater war mit einem großen Schritt über den Bach gegangen. »Na, komm schon!« Vater stand auf der anderen Seite, hatte die Arme ausgebreitet. »Komm schon!«
»Ich … kann nicht.«
»Du bist doch ein großer Junge.«
Ich sagte nichts. Ich kniff die Augen zusammen. Die aufgehende Sonne blendete.
Das hüpfende, zischende, spritzende Wasser.
»Oder bist du ein Mädchen?«
Vaters Stimme weit weg. Die Sonne tanzte mit Punkten auf dem Wasser.
»Sag mal, bist du ein Mädchen?!«
Vaters Stimme weit weg. Ich stand da und … Ich sagte nichts.
»Sag mal, wie alt bist du denn?«
Ich sagte nichts.
»Sag mal …«
Neun Jahre alt.
Ich sagte es nicht. Ich sagte es nicht.
Wirbelnd, strudelnd, klatschend, ein Ahornblatt hüpfte auf dem Wasser, schwappte gegen einen Stein, verschwand in den Wellen, tauchte wieder auf, hüpfte wieder, verschwand. Das Blatt: hinabgezogen …
»Ich fang dich auf«, hörte ich Vater.
»Vertraust du deinem Vater nicht?« hörte ich ihn rufen.
Ich sagte nichts. Das Wasser hüpfte, die Sonne tanzte.
Vater war mit einem Schritt wieder bei mir. Seine großen Beine. »Dann eben nicht«, hörte ich ihn sagen.
Er ging vor mir her, ich wollte seine Hand fassen, er zog die Hand weg.
»Spring!«
Vater machte eine heftige Bewegung zum Schwimmbecken hin.
»Na, stell dich nicht so an.«
Ich stand da und … Mich fror. Es war heiß. Mich fror.
»Da, schau. Uwe bewegt sich wie ein Fisch im Wasser. Uwe ist ein Jahr jünger als du.«
Uwe winkte aus dem Schwimmbecken, sein Kopf war neben vielen anderen, sein Kopf war neben Männern, die so alt wie Vater waren.
»Kannst du schwimmen?! Oder kannst du’s nicht?!« Vaters Stimme war direkt hinter mir.
Ich sagte nichts.
»Du wirst doch ins Wasser springen können.«
Ich sagte nichts.
Dieser Stoß. Hart und kräftig in den Rücken. Dieser Stoß. Sein Stoß. Das Wasser sprang auf mich zu, schlug mit einem Klatschen … schlug in den Hals, in die Kehle … schwarz … alles schwarz …
Vaters Gesicht war über mir. Er schüttelte mich. »Junge, Junge, komm zu dir.« Ich spuckte Wasser, lag im Gras.
Uwes Gesicht neben ihm. Uwe mit großen Augen. »Andi, Andi«, rief er.
Mutters Gesicht. »Was ist denn passiert?«
»Andi ist ins Wasser gefallen«, hörte ich Uwe rufen.
»Richard, kannst du denn nicht aufpassen?!« Mutter schrie.
Vater antwortete nicht.
Der Schrei …
Ich war hochgefahren, saß im Bett. Das Dunkel, ich hörte mein Keuchen, das Dunkel, ich hörte nicht auf zu keuchen.
Schritte von draußen, die Tür sprang auf, das Licht klickte an, Mutter kam zu meinem Bett gelaufen.
»Hast du so geschrien?«
»Ich habe geträumt.«
»Du bist ja ganz nass vor Schweiß.« Mutter wischte mit der Hand über meine Stirn.
»Ich habe geträumt, ich bin von einem Hausdach heruntergefallen. Ich habe auf einer Dachrinne balanciert, bin ausgerutscht, und dann …«
»Aber Kind … Kind …«
Mutter umarmte mich, drückte mich an sich.
Ich mag nicht, wenn sie Kind sagt.
»Habe ich dir zu viel versprochen?«
Vater fragte mich das, als wir den Berg hinab nach Hause gingen. Dunkle Wolken hingen am Himmel, schon im Wald waren Wolken aufgezogen, die Bäume waren dunkel geworden, wir mussten schnell gehen. Die Vögel zwitscherten. »Die Vögel singen immer intensiv, bevor Regen kommt«, sagte Vater.
»Werden wir wieder so etwas machen?«, fragte ich.
»Wenn du willst.«
»Wir. Nur wir beide?«
»Oh, wieso nur wir?«
»Weil es so am schönsten ist.«
Vater sagte nichts. Aber sein Lächeln.
»Hast du das Buch über Marco Polo schon zu Ende gelesen?«, fragte er.
»Ich lese es schon das zweite Mal, und jetzt zeichne ich eine Landkarte mit der genauen Route seiner Reise nach China: Venedig, Konstantinopel …«
»Buchara, Samarkand, Xian, Peking«, sagte Vater, weil ich stockte.
»Ja, so ist es.« Ich sagte nichts mehr.
»In welchem Jahr hat Marco Polo seine Reise begonnen?«, fragte Vater.
»Im Mittelalter.«
»Du musst das schon genauer wissen. Sag mir wenigstens das Jahrhundert.«
Ich schwieg.
Vater sah mich so an, so bohrend. »Andreas, du musst Bücher schon genau lesen.«
Ich schwieg.
Vater weiß alles.
»Lesen ist wunderbar«, sagte Vater. »In deinem Alter habe ich auch viel gelesen. Vielleicht sogar mehr als du. Heute habe ich leider keine Zeit mehr dazu.«
»Warum nicht?«
»Junge, Junge, einer muss ja arbeiten, damit es euch gut geht. Aber lies du, lies.«
Ich schwieg.
Es gibt nichts, was Vater nicht weiß.
»Möchtest du meine Zeichnungen sehen?« Ich fragte das, als wir unser Haus fast schon erreicht hatten. »Ich habe eine Weltkarte gezeichnet, die ist fast fertig, dann noch eine Marco-Polo-Karte, die ist bald auch so weit.«
»Ja, ja. Ich möchte beides gerne sehen.«
Vater will alles wissen.
Der strömende Regen. Wie die Tropfen gegen die Scheiben klatschten, prasselten. »Ihr habt aber Glück gehabt.« Mutter mit weit geöffneten Augen. Ihre helle Stimme, scharf. »Warum hattet ihr keine Regenschirme dabei?«
»Ach was, wir sind doch nicht aus Zucker.« Vater antwortete mit einem fröhlichen Lachen.
Mutter sah mich an.
»Wir sind doch nicht aus Zucker.« Ich sagte es auch, ich lachte auch.
Mutter goss uns Tee ein. Sie sagte zu Uwe: »Das nächste Mal wirst du auch wandern.« Uwe verzog den Mund, sah weder Vater noch mich an. Er schmiegte sich an die Seite von Mutter, sie legte ihren Arm um seine Hüften. Uwe spitzte die Lippen, Mutter lächelte, sie beugte sich zu ihm herunter, er schlang die Arme um sie, gab ihr einen Kuss.
»Mein Schmusekater, du.« Mit welcher Stimme Mutter das sagte. Und wie Uwe nun lächelte.
Diese Küsse. Sie sind feucht.
»Zieh dir deine Jacke an.« Wie heftig Mutter das sagte.
»Warum?«
»Du erkältest dich. Es ist nicht warm in der Wohnung. Du bist von draußen hereingekommen, du kannst dich nicht einfach so ausziehen.«
»Mir ist warm.«
»Andreas, bitte …«
»Mir ist warm.«
»Dir kann gar nicht warm sein. Ich seh doch, dass du frierst.«
»Du siehst gar nichts.«
»Andreas, ich weiß, dass du dich erkältest. Es ist jedesmal dasselbe.«
Ich sagte nichts. Ich sah weg.
Wie Mutter aufstand und aus dem Zimmer ging. Wie sie wiederkam. Wie sie meine Jacke in den Händen hielt. »Da!«
Ich sah immer noch weg.
Ich spürte Mutters Hände, spürte die Jacke an meinem Rücken.
Ich lief aus dem Zimmer.
»Mama, darf ich fernsehen?«
Uwe fragt das immer, wenn Vater nicht dabei ist. Vater sagt: »Ein Fernseher kommt uns nicht ins Haus.« Uwe muss zu einem Freund gehen. Vater mag auch das nicht. Er sagt: »Du solltest lieber Bücher lesen.« Aber er schimpft nicht, wenn Uwe plötzlich verschwunden ist.
Vater war in sein Arbeitszimmer gegangen, Mutter in die Küche, ich saß am Tisch im Wohnzimmer, neben mir Bücher, meine Weltkarte und meine Marco-Polo-Karte.
Diese Sonntage bei Regen. Wir sind aber nicht gemeinsam in einem Zimmer. Oft nicht.
Kairo: Zu den Pyramiden malte ich noch eine Palme … Bagdad: Die Palastkuppel färbte ich mit einem Stift intensiver goldgelb. Peking: die Pagode noch mit schärferen Zacken … Rio de Janeiro: der Zuckerhut nicht allein, sondern mit blauem Meer …
Die Weltkarte war fertig, jetzt war sie fertig. Ich öffnete die Tür zu Vaters Zimmer, blickte auf seinen Rücken am Schreibtisch. »Papa …« Wie ruckartig er sich umdrehte. »Kannst du nicht anklopfen?!« Diese scharfe Stimme.
»Ich …« Wenn er mich so anfuhr, konnte ich nicht sprechen. Ich hielt die Weltkarte hoch, blieb an der Tür stehen.
»Siehst du nicht, dass ich arbeite?!« Immer noch diese scharfe Stimme. »Du darfst nicht einfach so hereinplatzen! Ist das klar?«
Ich konnte nicht sprechen.
Vater blickte auf die Weltkarte. »Jetzt habe ich keine Zeit dafür. Ist das klar?«
Ich konnte nicht sprechen.
Ich stand da und … Vater drehte mir wieder den Rücken zu, beugte sich über den Schreibtisch, suchte in Papieren. Ich ging aus dem Zimmer.
Der Schlag ins Gesicht. Wie ich gegen den Schrank taumelte. Wie ich dort gekrümmt stehen blieb.
Ich spürte seine Hand in meinen Haaren, seine Finger ballten sich zur Faust, zogen die Haare zusammen, Vater zerrte mich an den Haaren durch das Zimmer, drückte mich auf den Stuhl nieder.
In der anderen Hand das Lineal.
Der Stuhl. Die schwarze Fläche sprang auf mein Gesicht zu, der Boden unter mir schwankte, ich hing auf dem Stuhl. Seine Beine umklammerten meinen Kopf, umschlossen mich, es war dunkel, der Kopf war eingeklemmt. Vaters Faust fasste meinen Arm, drehte ihn auf meinen Rücken, ich konnte mich nicht mehr bewegen. Vater ist stark, ist stark, ist stark. Vaters zweite Hand zog mir die Hose stramm, die dünne Turnhose, die Hose rutschte mir über die Schenkel hoch, die Schenkel nackt …
Nicht schreien, nicht schreien.
Das Sausen des Lineals in der Luft. Ein Brennen quer über den Hintern. Nicht schreien. Ein Brennen quer über die nackten Schenkel. Ich schrie.
Die Fäuste ließen mich los, ich fiel auf den Boden, ich krümmte mich, krümmte mich, die Hände über den brennenden Schenkeln, dem Hintern.
Vaters Schuhspitzen direkt vor meinem Gesicht.
Das Lineal fiel auf den Boden, fiel direkt vor mein Gesicht.
»So, und jetzt hebst du das Lineal auf.« Vaters Stimme über mir. »Und du legst das Lineal dorthin, wo es hingehört. Hast du mich verstanden?!«
Ich hob das Lineal auf und legte es in den Behälter auf der Kommode.
Wenn Vater schlägt …
Was hatte ich denn getan? Nichts hatte ich getan! Nichts!
Vater war vom Büro nach Hause gekommen, war ohne zu grüßen in das Zimmer eingetreten, war über das Lineal gestolpert, das auf dem Boden lag. Ich hatte das Lineal dort nicht hinfallen lassen, ich nicht, aber er hatte mich angebrüllt: »Heb das Lineal auf!« Er hatte gebrüllt: »Du mit deiner Schlamperei!« – »Ich hab das Lineal nicht …« Er hatte mich nicht zu Ende reden lassen, er hatte mich am Haar gepackt …
»Andreas, versteh doch …«
Wie Mutter sagte: »Papa mag dich sehr, das weißt du doch, nicht?«
Wie Mutter sagte: »Aber Papa ist oft müde, da darfst du ihn nicht so reizen. Er arbeitet viel, versteh das doch.«
Wie Mutter sagte: »Seine Nerven, man darf ihn nicht aufregen, jede Aufregung schadet seinen Nerven.«
Wie Mutter sagte: »Und du hast ihn gereizt, du hast es getan. Gib es zu.«
»Ich habe nichts getan!« – »Andreas …« Mutter sah mich so an. »Du bist es, der Papa immer so reizt. Nimm dir ein Beispiel an Uwe. Er lässt es nicht so darauf ankommen wie du.«
Ich sagte nichts mehr.
Die Tür zur Küche stand offen, Mutter klapperte mit Geschirr.
»Warum arbeitet Papa denn? Heute ist Sonntag.« Auch Mutter drehte mir den Rücken zu, sie räumte Teller in das Regal.
»Heute ist Sonntag«, sagte ich noch einmal.
»Du weißt, dass Papa manchmal auch sonntags arbeitet. Er muss das tun. Er macht Überstunden, er hat Akten aus dem Büro nach Hause genommen. Aber das weißt du doch.«
Mutter drehte sich nach mir um. Ihre großen Augen.
»Andreas, du musst das verstehen. Papa arbeitet, damit es uns besser geht. Papa wird ein Haus kaufen.«
»Aber wir haben doch ein Haus.«
»Wir haben kein Haus. Das ist eine Wohnung, nur eine Wohnung, und die gehört uns nicht. Papa will etwas Eigenes. Wir können in diesem Haus dann bleiben, immer. Das ist für eine Familie wunderbar.«
»Hier ist es schön. Ich will hier bleiben.«
»Ach, Kind. Das verstehst du nicht.«
Sie sagt schon wieder Kind.
»Du hast noch immer keine Jacke an. Ich kann gar nicht hinsehen.« In welch heftigem Ton das Mutter wieder sagte.
»Mir ist warm«, sagte ich wieder.
»Du wirst dich erkälten«, sagte Mutter wieder.
Woher weiß Mutter, dass mir kalt ist?
»Du erkältest dich«, wiederholte Mutter.
Ich ging aus der Küche. Ich holte meine Jacke, kam wieder, zog sie an.
»Fein«, sage Mutter.
Mir war viel zu warm.
Die Tür war zu einem Spalt offen. Hatte Vater sie geöffnet? Durfte ich jetzt kommen? Ich blickte durch den Spalt. Vater saß nicht am Schreibtisch. Ich öffnete die Tür ein bisschen weiter. Er lag auf dem Sofa, die Augen geschlossen. Schlief er?
Ich ging einige Schritte näher.
Wie starr sein Gesicht war. Starr und weiß. Die Lippen sehr schmal. Zusammengekniffen. Schmal wie ein Strich.
Tot. Großvater hat so ausgesehen, als er im Sarg lag.
»Andreas.« Mutters Stimme hinter mir, flüsternd. Ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. Mutter schob mich aus dem Zimmer. »Andreas, du darfst Papa jetzt nicht stören. Er braucht Schlaf, viel Schlaf. Er arbeitet viel. Und du weißt, dass er krank ist.«
Krank …
Mutter hat das immer wieder gesagt: krank.
Vater falle öfter in Ohnmacht. Und er habe dann Krämpfe. Vater habe deshalb auch keinen Führerschein mehr, er dürfe nicht mehr am Steuer eines Autos sitzen. Er dürfe auch nicht mehr im Gebirge wandern und klettern, er könnte sonst abstürzen.
»Andreas, bitte versprich mir …« Mutter fasste mich an beiden Schultern, und ihr Gesicht kam wieder ganz nah an das meine. Ich spürte ihren Atem. »Andreas, du darfst Papa nie fragen, weshalb er nicht mehr ins Gebirge fährt. Nie! Versprichst du mir das?«
»Warum darf ich das nicht fragen?«
»Weil … du musst das verstehen, Andreas. Eine solche Frage würde deinem Papa sehr wehtun.«
»Papa hat mir versprochen, dass er meine Zeichnungen ansieht.«
»Das wird er auch tun, wenn er Zeit hat. Jetzt schläft er. Aber du kannst sie doch auch mir zeigen. Oder nicht?« Mutter legte das Handtuch zur Seite, wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ich habe Zeit«, sagte sie.
Ich blieb stehen.
»Na, darf ich sie denn nicht sehen? Sind die Zeichnungen nur für deinen Papa bestimmt?«
Ich holte die Weltkarte.
Mutter lächelte. »Peking … Die Pagode hast du schön gezeichnet … Indien … ah, das ist ein Tiger …« Ihr Gesicht war plötzlich starr. Wie sie mich ansah. »Aber Deutschland? Du hast bei Deutschland keine einzige Stadt eingezeichnet. Stuttgart? Wo ist denn Stuttgart? Deine Heimatstadt? Wo ist denn die?«
Mutter fasste mich an der Hand. Wie ihre Augenbrauen zuckten.
»Hast du denn kein Zuhause? Du hast doch ein Zuhause, nicht?«
Sie legte beide Arme um mich, drückte mich fest. Ich konnte nur noch schwer atmen.
Die Tür war halb offen. Schlief Vater immer noch? Saß er wieder am Schreibtisch? Oder war er gar nicht mehr in seinem Zimmer?
Ich hatte mich auf Zehenspitzen genähert, hatte die Hausschuhe ausgezogen, damit er mich nicht hörte.
Drinnen … Drinnen stand Mutter, sie stand mit Vater, hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen. Sie küsste ihn. Vater bewegte sich nicht. Da … Mutter bewegte sich. Papiere auf dem Schreibtisch raschelten, Mutter hatte sie mit der Hüfte gestreift. Die Papiere fielen auf den Boden. »Hilde, also bitte …« Seine Stimme. Vater wollte etwas sagen, Vater wollte sich nach dem Papier bücken, konnte nicht. Mutter hielt ihn noch immer eng umschlungen, küsste ihn noch einmal.
Vater löste sich abrupt von Mutter. Er hatte mich bemerkt.
Ich stand da und … Ich machte einen Schritt zurück.
Mutter sah mich nun auch. Sie öffnete den Mund, ihre Zähne leuchteten. Sie lächelte. Sie winkte mir. »Na, komm schon.«
Ich blieb stehen.
Sie winkte noch einmal.
Ich blieb stehen.
Sie kam her zu mir, ging in die Knie, beugte sich zu mir vor, dass ihr Gesicht ganz nah an dem meinen war. Ihre Augen groß. Ein Kuss. Mitten auf meinen Mund.
Ich wich zurück.
»Was ist denn, Andreas? Ich tu dir doch nichts.« Mutter lachte.
Vater? Er lachte auch. Aber anders. Irgendwie …
Vater bückte sich nach den Papierbögen, die auf den Boden gefallen waren, legte sie auf den Schreibtisch, glättete sie mit der Hand. Seine Stirn war gefurcht. »Entschuldige«, sagte Mutter. – »Hilde, du musst schon ein bisschen aufpassen. Das da …«, und Vater deutete auf die Akten hinter ihm, »… sind nicht irgendwelche Papiere.«
»Ich möcht nicht immer aufpassen!« Wie heftig Mutter antwortete. Wie sie wieder ihre Arme um seinen Nacken schlang. Wie sie ihn wieder küsste.
Ihr Gesicht blieb nahe an dem seinen.
Die Furche auf seiner Stirn verschwand. Er lächelte. Jetzt lächelte er.
»Ja … ja …«, sagte er. Nichts sonst.
Er streichelte nun mit seiner Hand ihre Wange.
»Ach, Richard …« Mutter sah ihn so an.
»Kannst du dich nicht mal fallen lassen?«
Mutter hatte das gefragt. Vater hatte gegrinst.
Fallen – wohin?
Vater hatte nicht geantwortet. Aber er hatte nun seinen Arm um ihre Schulter gelegt.
Fallen?
Der Boden raste auf mich zu, ich fiel, ich schrie, ich war im Bett hochgefahren, saß im Dunkeln …
Uwe, wie er die Arme hochriss. Wie er sich in der Luft drehte. Und dann fiel: auf das Wasser zuschoss und aufprallte, dass die Wellen klatschten, knallten, über ihm zusammenschlugen. Das Wasser verschluckte ihn.
Uwe, wie er noch einmal in das Schwimmbecken sprang. Und jauchzte. Er drehte sich in den aufspritzenden Wellen, wirbelte, winkte mir. »Andi, spring doch auch!«
»Spring!« Vaters Hand in meinem Rücken.
Wie ein Fisch im Wasser.
Wie Uwe mir noch einmal winkte, das Kinn nur knapp über den Wellen: »Andi, lass dich doch einfach fallen!«
Wie Uwe sich immer in den Schoß von Mutter plumpsen lässt. Wie er über das ganze Gesicht lacht, wenn Mutter »Schmusekater, mein Schmusekater«, flüstert. Ihre Küsse. Feucht.
Vater, der meine Handgelenke fest umklammert hielt. Der die Zähne fletschte. Der sich mit mir auf dem Boden wälzte. Der meine Handgelenke nicht mehr losließ. »Hooooo, zeig mal, wie stark du bist.«
Ich lag auf ihm. Sein Körper unter mir, groß, schwer atmend.
»Stark bist du, hoooooo …« Vater, der lachte. Der aber meine Handgelenke noch immer nicht losließ.
Ich biss ihn in die Hand.
Er stieß mich zurück. »Das ist unfair. Das ist nicht die Spielregel.« Er richtete sich auf, er wandte sich von mir ab.
Die Tür war halb offen. Vater saß am Schreibtisch, diesmal arbeitete er nicht, er las Zeitung. Ich ging hinein, jetzt ging ich hinein. Drei Tage hatte ich gewartet. Er sah mich über die Ränder seiner Brille an, hatte die Augenbrauen hochgezogen. Trotzdem senkte er die Zeitung.
»Kann ich dir jetzt meine Zeichnungen zeigen?« Er nickte. Die Zeitung raschelte auf seinen Knien.
»Gut«, sagte er. »Gut.« Besonders schaute er sich meine Marco-Polo-Karte an. »Konstantinopel, Täbris … Isfahan … Du hast wichtige Städte eingezeichnet. Man merkt, du kennst dich aus. Du wirst ein Weltreisender.«
»Papa, du wirst mich auf diesen Reisen begleiten.«
Er lächelte wieder. Er strich mir mit den Fingern über meine Hand.
»Ach, weißt du …« Diese Pause, die er beim Reden machte. »… mein Zug fährt in eine andere Richtung.«
Er sagte: »Mein Zug ist längst abgefahren.«
Welcher Zug?
»Träume du nur«, sagte er. »Träumen ist schön.«
Die Zeitung raschelte wieder auf seinen Knien. Er sah noch einmal auf meinen Marco-Polo-Reiseweg, kniff die Augen zusammen. »Da schau mal: Buchara schreibt sich mit einem r, du musst das noch ausbessern.«
Ich spürte seine Hand an meinem Hinterkopf. Er streichelte mir das Haar.
»Du hast mich verletzt. Sehr verletzt.«
Warum hatte Mutter das gesagt? Zu Vater – zu Vater hatte sie das gesagt. Er hatte die Stirn gefurcht, aber nicht geantwortet.
Verletzt? Wo?
Mutter mit großen Augen. Sie hatte plötzlich geweint.
»Jetzt übertreib nicht so.« Vater hatte das gemurmelt.
Mutter hatte noch immer geweint.
Vater hatte sie in die Arme genommen. »Übertreib nicht so, übertreib nicht so.« Er hatte immer nur das gesagt.
Der Riss in meiner Hand. Mutter zog mich in die Küche, öffnete hastig den Schrank und ließ den Verbandskasten auf den Tisch fallen.
»Was ist denn los?« Vater rief aus dem Wohnzimmer.
»Andreas hat sich verletzt!«
Blut quoll, tropfte auf den Boden. Die Haut war durch den spitzen Nagel aufgerissen. Der Spalt rot, eklig rot. Ich schloss die Augen.
»Verletzt!«
Es brannte, hörte nicht auf zu brennen.
»Verletzt!«
Der Schlag ins Gesicht. Uwe starrte mich mit weit offenen Augen an. Er griff mit beiden Händen an die Nase. Er fing an zu weinen. Er rannte aus dem Zimmer.
»Andreas, was hast du getan?!« Mutter schüttelte mich. Uwe taumelte auf sie zu und hielt noch immer die Hände an die Nase.
Blut sickerte aus Uwes Nase.
Verletzt …
»Uwe hat mir die Bleistifte weggenommen. Und dann … da …« Ich zeigte auf den Boden, wo die Stifte lagen, zerstreut. Uwe hatte sie fallen lassen, als ich ihn an der Hand gepackt hatte. »Er hat sie fallen lassen, einfach so. Und als ich sagte, er solle die Stifte aufheben, hat er es nicht getan. Er hat die Stifte liegen lassen, einfach so.«
»Aber deshalb schlägt man doch nicht.« Mutter zog mich am Ohr. »Das tut man nicht, nur böse Menschen schlagen.«
»Uwe kriegt gleich noch eine …«
»Was?! Was sagst du da?! Andreas, du bist so jähzornig. Immer wieder dieser Jähzorn. Du hast doch gar keinen Grund.«
»Ich habe einen Grund!«
Mutter sah mich an, sah Uwe an, ihre Augen gingen hin und her. »Ihr seid doch Brüder. Wir sind eine Familie.«
Ich sagte nichts, Uwe sagte nichts.
»Man darf nicht schlagen. Man kann das doch anders machen. Andreas, du entschuldigst dich jetzt bei Uwe. Und Uwe hebt die Bleistifte auf. Ja?«
Uwe hielt noch immer die Hände an die Nase. Die Tränen in den Augen. Heulsuse.
Ich sagte: »Uwe, ich hab das nicht wollen.«
Uwe nickte. Nichts sonst.
»So, und jetzt, Uwe, du …« Mutter schubste ihn in die Seite.
Uwe hob die Bleistifte auf.
Die Fäuste geballt …
»Was machst du da? Was?!« Vater hatte sich in seinem Stuhl aufgerichtet, steil. »Was?!«
Ich öffnete meine Fäuste wieder, ließ meine Hände sinken, ließ meine Arme hängen, stand da …
»Du, wenn ich das noch einmal bei dir sehe …«
Vaters Stimme sehr leise.
»… dann kannst du was erleben.«
»Ist das klar?!« Seine Stimme plötzlich laut, sie tat weh.
Ich sagte nichts.
»Ist das klar?!« Die Stimme stach.
»Ja«, sagte ich.
»Und damit auch das ein für alle Mal klar ist …«
Vaters Augen stachen.
»… ich möchte nicht noch einmal hören, dass du fragst, warum du dies oder das tun sollst. Wenn ich dir sage, du sollst das Lineal aufheben, dann machst du das. Da gibt es kein Warum! Ist das klar?«
Ich antwortete nicht.
»Ist das klar?!«
Ich antwortete: »Ja.«
Vaters rechte Hand lag auf dem Schreibtisch, die Finger ballten sich zur Faust, das Papier unter den Fingern knisterte, krümmte sich, verbog sich unter den Fingern. Vater tat dem Papier weh.
»Du kannst jetzt gehen.« Vater hatte sich über die Akte auf seinem Schreibtisch gebeugt, glättete das Papier, das sich unter seiner Faust krümmen musste.
»Andreas …«
Ich war schon an der Tür.
Vater sah mich so an.
Ich wartete.
Seine Augen … plötzlich so … nicht mehr streng …
»Ach, nichts«, sagte er, »nichts. Ich hab’s vergessen.« Er winkte ab. Er lächelte. »Nichts für ungut, du verstehst schon.« So leise seine Stimme wieder. »Andreas, ich hoffe, du hast mich verstanden.«
Ich ging, ging, stand im Flur. Ich hatte die Fäuste wieder geballt.
Ich schlug die Fäuste gegeneinander.
»Andreas …« Mutters Stimme hinter mir. »Ist dir nicht gut?«
Ich sagte nichts.
»Du zitterst ja«, hörte ich Mutter flüstern.
»Ich zittere nicht.«
Ich stand ganz still.
»Dein Vater meint es gut mit dir.«
Ich sagte nichts.
»Was machst du, wenn ich zurückschlage?«
Ich spürte, wie mein Gesicht prickelte.
Ich fragte es nicht.
Ich hatte die Fäuste gehoben und war einen Schritt auf Vater zugegangen. Die Zähne … Ich hatte die Zähne gefletscht.
Sein Gesicht kam nahe an das meine. Ich hörte ihn sagen: »Du, wenn du …« Nur diese Worte. Sonst nichts. Er sah mich so an.
Seine Augen …
Ich konnte ihn nicht ansehen.
»Wenn du das machst«, hörte ich ihn sagen, »mein Junge … das machst du nur einmal und dann nie wieder in deinem Leben.«
Ich spürte, wie es zwischen meinen Schenkeln heiß wurde. Wie es nass wurde. Meine Hose nass. Ich hatte in die
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