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Verbotene Lieder: 10 Geschichten von 5 Kontinenten
Verbotene Lieder: 10 Geschichten von 5 Kontinenten
Verbotene Lieder: 10 Geschichten von 5 Kontinenten
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Verbotene Lieder: 10 Geschichten von 5 Kontinenten

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Warum werden Lieder verboten oder zensiert? Der norwegische Musiker Moddi macht sich auf die Suche – und auf eine Reise über fünf Kontinente

Im Laufe der Jahrhunderte haben Tausende von Musikern Zensur, Verfolgung und gewalttätige Unterdrückung erlebt. Oft bleiben ihre Geschichten unerzählt. Wer waren sie? Wer sind sie? Was können wir von ihnen lernen?
Nachdem er aufgrund einer Einladung nach Israel gewissermaßen zwischen die Fronten des Nahostkonflikts geraten war, machte sich der norwegische Musiker Moddi auf die Suche nach verbotenen Liedern in der ganzen Welt, trug auf fünf Kontinenten Songs zusammen und besuchte Musiker und Zeitzeugen, um die Lieder mit ihnen zusammen oder mit seiner Band aufzunehmen. Als Ergebnis dieser Reise in die Welt zensierter Musik gab Moddi 2016 das international gelobte Album "Unsongs" heraus, mit Klassikern wie "Strange Fruit" von Billie Holiday und "Army Dreamers" von Kate Bush; aber auch einem samischen Volkslied und dem "Punk Gebet" von Pussy Riot.
In diesem Buch erzählt er die Geschichten hinter diesem Projekt: zehn Schicksale von Gewalterfahrung und Unterdrückung. Auf seinen Reisen wurde er begleitet von dem Fotografen Jørgen Nordby, dessen Bilder das Buch illustrieren.

Die verbotenen Lieder und Stationen der Reise:
• Norwegen/Israel – Birgitte Grimstad, "Eli Geva" (1982)
• Chile – Víctor Jara, "Our Worker" (1971)
• Mexiko – Los Tucanes de Tijuana, "Parrot, Goat and Rooster" (1995)
• Sápmi/Norwegen – "The Shaman and the Thief" (ca. 1830)
• Libanon –Marcel Khalife / Mahmoud Darwish, "Oh My Father, I am Joseph" (1999)
• Israel – Izhar Ashdot, "A Matter of Habit" (2012)
• Vietnam – Viêt Khang, "Where is my Vietnam?" (2011)
• England – Kate Bush, "Army Dreamers" (1980)
• Russland – Pussy Riot, "Punk Prayer" (2012)
• USA – Billie Holiday, "Strange Fruit" (1939)
LanguageDeutsch
Release dateMar 4, 2019
ISBN9783960541899
Verbotene Lieder: 10 Geschichten von 5 Kontinenten

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    Book preview

    Verbotene Lieder - Moddi

    Danksagung

    Teil I

    Ein neues Kapitel

    House by the Sea

    »Du warst mal mein Lieblingsmusiker. Ich dachte, du hättest Rückgrat.«

    Das war keineswegs die erste derartige Nachricht, die mich erreichte, doch die Worte trafen mich immer wieder aufs Neue. Mein Telefon piepte unaufhörlich. Es war jedes Mal ein anderer Absender, aus einer anderen Ecke dieser Welt.

    »Du befürwortest einen Staat, der gewaltsam und auf Grundlage von Rassentrennung errichtet wurde«, schrieb jemand. »Hast du kein Gewissen?«, fragte jemand anderes.

    »Hast du das Geld wirklich so dringend nötig, dass du dich an die Zionisten verkaufst?«

    Das war ungewohnt harter Tobak für mich. Eigentlich war ich doch immer derjenige, der gegen irgendetwas protestierte. Und jetzt wurde plötzlich gegen mich protestiert. Mit jedem Mal, das ich wieder auf mein Telefon sah, waren neue Nachrichten gekommen. Und sie alle enthielten dieselbe Aufforderung: Sag dein Konzert in Israel ab!

    2013 war ein langes Jahr gewesen, in dem ich zwei Alben veröffentlicht hatte, durch Stadt und Land getourt war und mit »House by the Sea« meinen ersten wirklichen Hit hatte landen können. Ich hatte 130 Konzerte gespielt, von Istanbul bis Spitzbergen. Die Konzertanfragen kamen von nah und fern, und meine einzige Sorge war, wie ich das alles schaffen sollte. Das Abschlusskonzert der Tournee sollte in Israel stattfinden, so weit weg von zu Hause wie nie zuvor, in einem Land, in dem ich noch nie zuvor gewesen war. An den 1. Februar 2014 werde ich mich wohl mein Lebtag erinnern, aber nicht aus den Gründen, die ich zunächst vermutete.

    Mir war bewusst, dass sich viele Künstler weigerten, in Israel aufzutreten. Unzählige Organisationen hatten sich für einen Boykott des Landes ausgesprochen, um eine Lösung des nun schon mehr als fünfzig Jahre anhaltenden Konflikts mit den Palästinensern zu erzwingen. Ich jedoch hatte keinerlei Intention, mich in den Nahostkonflikt einzumischen. Ich wollte ein ganz normales Konzert geben, wie ich es auch schon in Berlin, London und Prag getan hatte. »House by the Sea« wäre mein letzter Song an diesem Abend gewesen, dann hätte ich mich beim Publikum bedankt und wäre wieder nach Hause in den Norden gereist.

    Der Konflikt war mir nicht egal – das war es nicht. Aber dieser Krieg war nicht mein Krieg. Ich hatte schon Konzerte in der Türkei gespielt, die die kurdische Minderheit in ihrem eisernen Griff hielt, in Russland, wo Homosexuelle verprügelt werden, während die Polizei wegschaut. Ein Liedermacher auf Tournee kann da wenig ausrichten. Was aber möglich sein sollte, dachte ich, war, mit meiner Musik einen Raum im Alltag der Menschen zu schaffen, die verzweifelt nach einer Ablenkung suchten.

    In meinem Krieg ging es um unsere Umwelt. Um Konsum, Klima, Ölgewinnung und Plastik. Seit meiner Kindheit, seit meine Mutter mich im Umweltdetektiv-Club Blekkulf (Tintenfisch-Ulf) angemeldet hatte, träumte ich davon, einmal ein echter Umweltschützer zu werden. Mein Vater besaß ein Fischerboot, mit dem er uns oft mit hinaus auf die vielen kleinen Schären nahm, die vor der Insel Senja lagen, auf der ich aufgewachsen bin. Dort mussten wir mit ansehen, wie Müll und Schrott jahrzehntelang im Watt liegen blieben und so manches Leben dort eingehen ließen. Später half ich bei den Säuberungsaktionen unserer Gemeinde. Wir sammelten mehrere LKW-Ladungen mit Fischernetzresten von den Steinen im Watt und zogen poröse Planen und lange Tauenden aus dem Strandsand. Der Müll verschwand, das Watt war wieder sauber, und wir bekamen so viel warmen Johannisbeersaft und Hot Dogs, wie wir nur wollten.

    In der Schule waren meine Lieblingsfächer Naturkunde und Mathe. Ich liebte es, mit Saughebern, Magneten und Zahnrädern zu spielen und konnte Das Schlaue Buch von Donald Ducks Neffen auswendig. Gleichzeitig nahm ich Klavierunterricht, spielte Trompete in der Schulkapelle und rief ein Rap-Duo ins Leben, das nach einiger Zeit sogar für bezahlte Auftritte gebucht wurde. Auch wenn ich der Musik viel Zeit widmete, war sie für mich eher ein Hobby als eine mögliche Karriere. Ich wollte Naturforscher oder Windkraftingenieur werden, und große, nachhaltige Gerätschaften bauen.

    Als ich nach Finnsnes zog, um dort aufs Gymnasium zu gehen, traf ich zum ersten Mal Gleichgesinnte. Wir riefen eine Vielzahl von Organisationen ins Leben, von Astronomen gegen Worttrennungen bis SOS Rassismus. Ich übernahm eine Führungsposition bei der Organisation Natur & Ungdom (Natur & Jugend) in meiner Heimatregion in Nordnorwegen. Wir verfassten zornige Leserbriefe an die Regionalzeitung Folkebladet, hielten Vorträge über den Klimawandel und ließen Ölplattformen aus Pappmaché auf dem Finnsnessee treiben, um den Leuten klarzumachen, dass die Ölbosse vor nichts Halt machten. Zur gleichen Zeit kaufte ich meine erste Gitarre, eine dunkelblaue mit Stahlsaiten, auf der ich jeden Abend spielte. Meine Vorbilder waren Damien Rice, Joanna Newsom und Radiohead. Ihre Lieder waren leicht nachzuspielen, aber längst nicht so leicht zu verstehen. Mir war, als würden sie mit Absicht kryptische Texte schreiben, damit jeder sie auf seine Weise interpretieren und sich selbst darin wiederfinden konnte. So auch ich.

    Als Achtzehnjähriger begann ich, meine eigenen Songs zu schreiben. Die ersten paar waren zahme Versuche, der stummen Natur eine Stimme zu verleihen. Meine Inspiration zog ich aus Büchern, Computerspielen und meinen musikalischen Vorbildern, und ich spielte die neuen Lieder bei den Wochenendversammlungen von Natur & Ungdom, spätabends, wenn die Diskussionsrunden vorbei und die Gruppenleiter ins Bett gegangen waren. In abgeschiedenen Treppenhäusern und über Nacht abgesperrten Duschräumen hielt ich kleine Mitternachtskonzerte für diejenigen von uns, die zu viel Energie hatten, um früh schlafen zu gehen. Meine Texte hallten nach, sowohl im Mauerwerk als auch in den Gedanken meiner Zuhörer.

    Meine Karriere bei Natur & Ungdom war nur von kurzer Dauer, aber ich beschloss, weiter Musik zu machen. In den Jahren nach dem Gymnasium gab ich den Plan auf, Ingenieur zu werden, um mich voll und ganz der Musik zu widmen. Ich übernachtete bei Freunden, spielte Konzerte gegen Kost und Logis und lebte so sparsam wie möglich. Ich hatte nur mich und meine Gitarre zu versorgen, also konnte ich fast überall hinreisen, wo ich wollte; alles was ich brauchte, waren ein Raum und ein Publikum. Meine Texte spiegelten mein eigenes entwurzeltes Leben wider. Ich schrieb über Heimweh, unerwiderte Liebe und über das Gefühl, nirgendwo richtig zu Hause zu sein. Die Musik wurde zum Kanal der schwierigsten Dinge in meinem Leben, für die ich nicht so leicht Worte fand, die sich aber oft mit Klängen beschreiben ließen.

    Mit einundzwanzig Jahren zog ich nach Oslo, um Soziologie zu studieren. Hier traf ich andere junge Musiker in den Startlöchern ihrer musikalischen Karriere. Ich wohnte im Keller meiner Großeltern und überwies den Großteil meines Studienkredits direkt auf ein Sparkonto, während ich die Lieder für mein erstes Album zusammenstellte. Nachdem ich über fünf Jahre hinweg all mein Geld, einige Lieder und das nötige Selbstbewusstsein zusammengekratzt hatte, veröffentlichte ich im Jahr 2010 mein Debütalbum Floriography. Auf den ersten Titel, »Rubbles«, ein Song aus meiner Zeit bei Natur & Ungdom, bin ich nach wie vor sehr stolz.

    Noch im gleichen Jahr erschien mein Name landesweit in der Presse, allerdings nicht wegen des Albums, sondern wegen meines Engagements als Umweltaktivist. Ich hatte ein Statoil-Stipendium in Höhe von 800 000 Kronen abgelehnt und war daraufhin einem Telefonansturm ausgesetzt, dessen Ausmaße ich mir nie erträumt hätte. Die Medien waren neugierig, das Volk tuschelte. In den Kommentarspalten wurde ich immer wieder der Heuchelei und Scheinheiligkeit beschuldigt. Geld abzulehnen war anscheinend das Kontroverseste, was sich ein norwegischer Musiker erlauben konnte. Doch ich bewahrte Ruhe. Ich vertrat meinen Standpunkt.

    Der Umweltschutz war ein angenehmer Kampf. Nur selten musste man darüber nachdenken, was richtig und falsch war. Die Klimaforscher ließen keinen Zweifel daran, dass unsere Gesellschaft sich dramatisch ändern müsse, wenn wir die Zerstörung unseres Planeten verhindern wollen. Manchmal war es nicht so leicht, nach seinen eigenen Prinzipien zu leben, die Frage nach Richtig oder Falsch war aber immer leicht zu beantworten.

    Der Kampf für die Umwelt mag leicht gewesen sein, mein Engagement führte allerdings dazu, dass ich mich auf vieles andere nicht einließ. Ich lehnte höflich ab, wenn Tierschutz, Friedensbewegungen, Flüchtlingshilfe und Gewerkschaften bei mir anklopften, und redete mich damit heraus, dass ich meine Energie und meine Zeit nur meiner Herzensangelegenheit, der Umwelt, widmen wolle. Die Wahrheit war: Ich hatte eine Heidenangst davor, Stellungen zu Themen zu beziehen, die sich gegen jemanden richteten. Für mich war es leichter, mich voll und ganz auf den Kampf für die Umwelt zu konzentrieren und anderen andere Kriegsschauplätze zu überlassen.

    Bevor ich die Einladung nach Tel Aviv annahm, hatte ich Freunde und Familie um Rat gebeten. Meine Großmutter hatte in den achtziger Jahren in Israel gelebt und war später Mitglied der TIPH-Beobachtertruppe der besetzten Stadt Hebron. Sie hatte sowohl israelische als auch palästinensische Freunde und fand die gesamte Situation sehr besorgniserregend. Damals lebten knapp hunderttausend Israelis im Westjordanland, und die internationalen Friedensabkommen einer zukünftigen Zweistaatenlösung bewegten sich scheinbar in die richtige Richtung. 2013 hatten sich über eine halbe Million Israelis auf palästinensischem Boden niedergelassen und alle Versuche, eine friedliche Lösung zu finden, schienen gescheitert. Jedes Mal, wenn meine Großmutter dem Westjordanland einen Besuch abstattete, waren die israelischen Grenzposten weiter in die Gebiete der Palästinenser vorgedrungen.

    Dennoch war sie der Meinung, es wäre richtig von mir, dorthin zu fahren. Ein Konzert in einem Land zu geben, bedeute nicht, dessen Regierung zu befürworten, meinte sie beharrlich. Statt zu boykottieren, müsse man die israelische Friedensbewegung und die positiven Kräfte des Landes unterstützen. Und ich freute mich darauf, das Land zu bereisen, von dem meine Großmutter mir so oft erzählt hatte. Doch das war, bevor die Nachrichten auf mich einprasselten.

    »Moddi, du solltest dich schämen!«, lautete ein Kommentar bei Facebook. »Wärst du etwa auch unter dem Apartheid-Regime in Südafrika aufgetreten?«, fragte ein anderer. »Es ist so unglaublich wichtig, dass du nicht dorthin fährst«, bat mich ein Mitglied des norwegischen Palästinenserkomitees nach einer Tirade von Argumenten, warum man sowohl ökonomische als auch kulturelle und akademische Bande zu Israel kappen sollte.

    Ich las jede einzelne Nachricht, die mich erreichte, antwortete aber nur auf vereinzelte. Mit jedem neuen Absender wurden die Worte härter. Apartheid. Kriegsverbrecher. Völkermord. In jedem Einzelnen brannte eine Wut, die ich nicht annehmen konnte. Warum sollte ein Boykott helfen? Ich beharrte auf meinem Standpunkt, wollte ein Musiker für alle sein. Es liegt nicht in der Natur der Musik, Grenzen zu ziehen – ich wollte Brücken bauen.

    Nach der ersten Nachrichtenwelle kam schon bald die zweite. Diesmal waren es palästinensische Jugendliche, die sich an mich wandten. Briefe aus dem Gazastreifen, in gebrochenem Norwegisch. »Wir lieben Musik, aber die Musik wurde uns weggenommen. Seit Jahren blockiert Israel den Import von Musikinstrumenten.« In einem anderen Brief schrieb ein Austauschschüler in Ramallah, dass er ein großer Fan von »House by the Sea« sei, und er dieses Lied besonders oft anhöre, wenn er Heimweh habe. Und er schrieb von seinen palästinensischen Freunden, die an einem sonnigen Tag die weißen Strände in der Ferne sehen konnten, jedoch nie die Möglichkeit hätten, selbst ans Meer zu fahren. Wellen und Salzwasser würden für sie immer nur ein ferner Traum sein, schrieb er. Ein paar Tage darauf erfuhr ich von einem dreijährigen Mädchen, das bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen war.

    Diese Geschichten erreichten mich mit einer ganz anderen Wucht als die harten Schlagworte der Boykottbewegungen. Es waren keine heftigen Vorhaltungen über Rassentrennung und Völkermord, sondern kleine, persönliche Erzählungen. Sie trugen nicht dieselbe Wut in sich, sondern waren still, trostlos, ohne Hoffnung oder Aussicht auf Besserung. Auf einige dieser Mails antwortete ich. Ich bedankte mich für die Geschichten, bestätigte, dass ich sie alle gelesen habe, aber nicht wüsste, was ich dem entgegnen solle.

    In mir wuchs die Unruhe. Wie konnte ich zeigen, dass ich der Situation nicht gleichgültig gegenüberstand? In meinen Liedern ging es ja nicht um den Nahostkonflikt. Egal was ich auf diesem Konzert spielen würde, es würde sich nur wie ein Ablenkungsmanöver anfühlen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto bizarrer kam es mir vor, mit »House by the Sea« an einem Ort aufzutreten, der nur ein paar Kilometer von einem ganzen Volk entfernt lag, das das Meer vielleicht niemals sehen würde.

    Die Hand um den Gitarrenhals, setzte ich mich an den Schreibtisch. Wenn meine Lieder nichts mit Israel zu tun hatten, musste ich eben neue schreiben. Ich wollte den Jugendlichen aus Palästina eine Stimme verleihen. Aber nichts geschah. Es kamen ein paar Akkorde und Melodien, doch wenn ich den Mund öffnete, war es, als wäre ich verstummt. Ich versuchte, die Eindrücke der letzten Wochen in kurzen Strophen zu sammeln, aber nichts passte wirklich zusammen. Die Gedanken und Bilder ließen sich nicht zu Strophen und Refrains formen. Jede Geschichte war so einzigartig, dass sie nicht mit einer anderen gleichgestellt werden konnte. Nichts reimte sich, der Rhythmus stockte. Es war, als würden sich die Worte gegen mich sträuben.

    Am nächsten Tag versuchte ich es nochmal, stieß aber an dieselben Grenzen. Was auch immer ich versuchte – es fühlte sich falsch an, Musik zu schreiben, die auf der Verzweiflung anderer basierte. Ich musste einsehen, dass diese Worte nicht die meinen waren. Die Geschichten waren mit mir geteilt worden, miterlebt hatte ich sie aber nicht. Mit welchem Recht konnte ich auf einer Bühne in Tel Aviv stehen und über Menschen singen, die mich darum gebeten hatten, die Show abzusagen? Fast einen Monat lang ließ ich meine Gitarre in der Ecke stehen.

    An einem Vormittag in der Vorweihnachtszeit lud ich mich selbst zum Kaffee bei Erik Hillestad ein, dem Leiter der Kirchlichen Kulturwerkstatt, einer Plattenfirma, die viele internationale Künstler repräsentiert. Erik hielt unter anderem bei dem Projekt Make me a channel of your peace, in dem palästinensische und israelische Musiker sich zu gemeinsamen Friedensgebeten getroffen hatten, die Fäden in der Hand. Ende der Neunziger war man noch voller Optimismus gewesen. Das kurz zuvor unterzeichnete Oslo-Abkommen hatte die Hoffnung geweckt, dass irgendwann Frieden in der Region einkehren würde.

    Die Zusammenarbeit unter den Musikern hinterließ so manche denkwürdige Erinnerung, doch die Friedensgespräche wurden immer seltener. Zeitgleich flackerte die Feindschaft der beiden Nachbarvölker von Neuem auf, sodass die musikalische Zusammenarbeit kaum noch zu rechtfertigen war. Während die Musik weiterhin versuchte, Versöhnung und Annäherung zu vermitteln, war die Realität für die meisten Palästinenser eine völlig andere. Die israelische Okkupation nahm neue Formen an, allein im letzten Jahrzehnt ließen sich Hunderttausende israelische Siedler in palästinensischen Gebieten nieder. Während die Politiker von Frieden sprachen, verleibten sie sich das Land des palästinensischen Volkes Meter für Meter ein. Zum Schluss brach auch Erik die Zusammenarbeit ab.

    »Hätte Israel nur den Willen gezeigt, in einen Dialog einzutreten, wäre ein Boykott nie nötig gewesen«, erklärte Erik. »Prinzipiell bin ich gegen jeden Boykott, aber in einem Boykott geht es nicht um Prinzipien, sondern um Konsequenzen.«

    Viele Israelis befürworten die Expansionspolitik, erzählte Erik. Man erkennt das an ihrem Handeln, wenn sie es auch oft gar nicht laut äußern. Es bringt nicht viel, über den Frieden zu reden, während israelische Bulldozer palästinensische Häuser dem Erdboden gleichmachen.

    »Aber ich verstehe es trotzdem noch nicht«, sagte ich. »Warum kann ich kein normales Popkonzert spielen, darum schert sich doch kein Mensch?«

    »Du wirst feststellen, dass dein Konzert trotzdem jemandem von Nutzen sein wird«, entgegnete Erik.

    Ich sollte schon bald verstehen, was er damit meinte. Ich hatte von einigen Musikern gehört, die sich lautstark davon distanzierten, Partei für eines der Völker zu ergreifen, und dann doch als Israelfreunde gefeiert wurden, nachdem sie in Tel Aviv oder Jerusalem aufgetreten waren. Nicht zu boykottieren wurde bereits als eine politische Botschaft verstanden. Das Gegenteil geschah mit Musikern, die ihre Konzerte absagten. Sie wurden von politischen Bewegungen missbraucht, die sich an der Grenze zum Antisemitismus befanden. Wofür ich mich auch entschied, es wäre falsch.

    »Kann ich nicht einfach auch ein Konzert für die Palästinenser spielen? Ein Benefizkonzert in Ramallah zum Beispiel, damit alle verstehen, dass ich für niemanden Partei ergreifen will?«

    »Da liegt vielleicht das größte Problem. Es ist nicht möglich, beides miteinander zu verbinden. Wenn du erst einmal in Tel Aviv gespielt hast, wird niemand auf der palästinensischen Seite mit dir zusammenarbeiten wollen. Es ist tatsächlich schwarz-weiß.«

    »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, ein Konzert im Nahen Osten zu geben, ohne dass es zu einem Politikum wird?«

    »Darum bist du doch hier, oder? Sich in einem Konflikt neutral zu verhalten, bedeutet automatisch, die stärkere Seite zu wählen. Schweigen wäre auch ein Zeichen.«

    Nach dem Gespräch mit Erik war ich nur noch verwirrter. Wäre es wirklich von Vorteil, das Konzert abzusagen? Zu Hause wartete schon ein glühender Computer auf mich, denn inzwischen meldete sich auch noch die Seite zu Wort, die mich in Israel willkommen heißen wollte. Davor hatte man mich gewarnt. Alle, die in Israel auftreten wollten, wurden zunächst mit Ermahnungen und Absageforderungen überschüttet, dann folgte eine Welle der Befürwortung.

    Ein Absender zitierte die Bibel. Wer Israel segnet, wird ebenfalls gesegnet. Andere wiederum berichteten voller Enthusiasmus, wie sehr sie sich auf das Konzert freuten. »Musik ist das Instrument des Friedens und der Harmonie«, schrieb der Konzertveranstalter in einer beharrlichen Mail. Er war es gewohnt, dass Musiker mit Boykottforderungen bombardiert wurden.

    Viele plädierten für die versöhnende Kraft der Kunst, und dass mein Konzert zu den Friedensprozessen in der Region beitragen würde. »Musik ist ein Dialog, der nicht abbrechen darf«, schrieb eine amerikanische Künstlerorganisation, und forderte mich dazu auf, es Paul McCartney gleichzutun, der sein Konzert in Tel Aviv durchführte.

    »Ich trage die Botschaft des Friedens weiter und bin der Meinung, dass diese Region genau das benötigt«, sagte er damals in einem Interview. Weltstars wie Elton John, Leonard Cohen, Madonna, U2 und Red Hot Chili Peppers wollten allesamt in Israel auftreten, um ihre Friedensbotschaften zu verbreiten, doch trotz all der schönen Worte von Brückenbauen und Toleranz erwähnte keiner von ihnen Palästina auch nur mit einem Wort. Niemand kommentierte die Belagerung des Gazastreifens oder die Besiedlung des Westjordanlandes. Für den Frieden zu spielen, war gleichbedeutend damit, die Klappe zu halten.

    Ich las die Mail der amerikanischen Künstlerorganisation noch einmal durch. Wir sind für dich da, wir werden dich unterstützen, schrieben sie, und fügten eine lange Liste mit Musikern an, die den Boykottforderungen getrotzt hatten und in Israel aufgetreten waren. Sie forderten mich dazu auf, meine Kunst nicht zu einem Politikum werden zu lassen und klangen dabei wie ein Echo der Mails, die ich in den letzten Tagen bekommen hatte. Musik habe universell zu sein. Kunst sei für alle da. Sie solle keinen Standpunkt einnehmen. Nicht verurteilen. All das klang schön, machte mich aber nur wütend. Waren da draußen wirklich Musiker, die sich Unterstützung von Leuten wünschten, für die Musik nicht mehr als reine Unterhaltung war? Die nichts dagegen hatten, über Frieden und Harmonie zu singen, während über der Nachbarstadt Bomben abgeworfen wurden?

    Viele der Nachrichten bestätigten nur, was Erik bereits erwähnt hatte: Es half nicht, über Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis zu sprechen, wenn die Situation vor Ort mit jedem Tag schlimmer wurde. Mit jeder Mail über Frieden und Harmonie wurde ich mir meiner Sache sicherer. Es war nicht nur komplett sinnlos, dieses Konzert zu spielen, es könnte alles noch schlimmer machen.

    In der Nacht zum 3. Januar verfasste ich eine Erklärung, warum ich mein Konzert in Tel Aviv absagen müsse. Unter dem Titel »Wenn die Kunst zu kurz kommt« erklärte ich, dass ich mir bewusst sei, wie sehr ich sowohl den israelischen Veranstalter, mein Publikum vor Ort als auch meine Großmutter und mich selbst mit der Absage enttäuschte. Dass ich aber trotzdem so handeln müsse. Die Entscheidung sei gefällt.

    »Wenn man wieder den Dialog sucht, um den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu lösen, hoffe ich, endlich mein erstes Konzert in Israel spielen zu dürfen«, schrieb ich. »Bis dahin ist Schweigen mein stärkstes Instrument.«

    Am nächsten Morgen war diese Pressemeldung beim norwegischen Sender NRK. Nur wenige Minuten später klingelte das Telefon. Die Nachrichtensendung Dagsnytt 18 lud mich zu einer Debatte ein. Die Tageszeitung Dagbladet veröffentlichte einen halbfertigen Artikel mit kaum zusammenhängenden Sätzen. Mein Mail-Postfach erwachte erneut zum Leben. Diesmal erreichten mich hasserfüllte Nachrichten. »Es ist eine Schande, dass in uns das gleiche norwegische Blut fließt«, war einer der ersten Kommentare, die mich auf den sozialen Medien erreichten. »Hör auf, so ein heuchlerisches Arschloch zu sein. Deine Musik ist mit ziemlicher Sicherheit Scheiße«, schrieb ein anderer. Und kurz darauf: »Moddi ist nur ein Lakai der Faschisten. Er hätte auch Amerika boykottiert und wäre für Hitler aufgetreten«, dazu ein Bild von mir mit einem Hakenkreuz und einer Gruppe Araber, die den Hitlergruß zeigten. Ein amerikanischer Journalist kontaktierte meine Plattenfirma und erkundigte sich, wie sie zu Künstlern stünden, die rassistische Gesinnungen verbreiteten, und vermutete hinter der Konzertabsage einen doch eher mäßigen Kartenverkauf.

    Nun verstand ich das volle Ausmaß dessen, was Erik mit Propagandamaschinerie gemeint hatte. Der Journalist benutzte eine anonymisierte Mailadresse, und seinen Namen konnte ich in keiner Redaktion ausfindig machen. Über die IP-Adressen der Absender fand ich aber heraus, dass die meisten Kommentare von amerikanischen Organisationen mit Hauptsitz in Manhattan kamen, nicht etwa von den israelischen Privatpersonen, als die sie sich ausgaben. Viele Nachrichten wurden von falschen Profilen verschickt, die nur dazu dienten, Palästinenser und deren Unterstützer im Internet zu schikanieren. Die meisten dieser Profile wurden nach wenigen Wochen wieder gelöscht. Es schien, als hätten sie nur die Aufgabe, Unruhe zu stiften.

    Teilen Sie dieses Bild. Verbreiten Sie es im Internet. Schande über diesen kleinen Rassisten, der sich als Künstler ausgibt.

    Und diese Aufforderung wurde tatsächlich erhört. Ein ehemaliger Vizerepräsentant der konservativen Volkspartei Høyre im norwegischen Parlament teilte das Nazibild, unterschrieben mit den Worten »noch einer dieser einfältigen Idioten im Dienste des Antisemitismus«. Die norwegische Bloggerin Suzanne Aabel schrieb einen Beitrag in der Zeitschrift NATT & DAG mit dem Titel »MAHATMA MODDI«, in dem sie mich dazu aufforderte, meinen stillen Protest auf das nächste Level zu heben und einfach die Fresse zu halten. »Unser süßer kleiner Nordland-Elf, Moddi, bekannt für seine feinfühligen Barfußkonzerte, ist mit einer Piepsstimme und dem Talent gesegnet, Gitarre, Akkordeon, Klavier und Trompete

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