Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

HalbEngel
HalbEngel
HalbEngel
Ebook271 pages3 hours

HalbEngel

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

"Ich glaube nicht an Noten. Ich glaube an den Rausch in mir."

HalbEngel ist eine Reise in die Welt der Rockmusik in die Welt der Musiker, Groupies, Produzenten, Kritiker und Fans. Tobias O. Meißner schreibt in diesem Roman über alle Facetten eines Genies: über die wahnsinnige Leidenschaft für die Sache, über das Leiden der Menschen, die Floyd Timmen lieben, und auch über die gespaltenen Gefühle derer, für die er ein großartiger Musiker ist. HalbEngel ist ein Power-Roman über Musik, über ein Genie und über die Liebe.

Einer der ganz großen Romane um Musik und Leidenschaft, der sich mit Meisterwerken wie "Armageddon Rock" von George RR Martin, "Schattenklänge" von Lewis Shiner und "High Fidelity" von Nick Hornby messen kann.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 1, 2012
ISBN9783942396301
HalbEngel

Read more from Tobias O. Meißner

Related authors

Related to HalbEngel

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for HalbEngel

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    HalbEngel - Tobias O. Meißner

    cover.jpg

    Tobias O. Meißner

    HalbEngel

    Roman

    Golkonda

    Impressum:

    Tobias O. Meißner

    HalbEngel

    Erstausgabe bei Rotbuch (Hamburg, 1999).

    Für diese Pressung nach den Masters neu abgemischt.

    © 2010 by Tobias O. Meißner

    Mit freundlicher Genehmigung des Autors

    © dieser Ausgabe Mai 2011 by Golkonda Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Hannes Riffel

    Korrektorat: Katrin Mrugalla

    EPUB: Karlheinz Schlögl

    GOLKONDA VERLAG

    Charlottenstraße 36

    12683 Berlin

    Kontakt: golkonda@gmx.de

    www.golkonda-verlag.de

    ISBN: 978-3-942396-30-1 (eBook)

    Zuerst die Echos:

    Zu hell

    zu schnell

    zu schön

    zum Überleben

    Kollision der Tauben

    Aufwärts

    Von so weit oben,

    so weit hinten wie nur möglich,

    wird alles Harmonie.

    Und unten? Hier?

    Schwingung nimmt sich

    mit sich selbst mal sechs

    füllt Zwischenräume an

    mit Bersten

    Klang und Farben

    Wahn und Sinn

    mit einer Melodie

    doch Phoenix

    stirbt

    und stirbt

    und stirbt

    für wen denn?

    nicht für mich

    Der erste von zwölf Rhythmen

    Die Musik blendet aus,

    gibt den Geräuschen einer echten Straße Raum.

    Das Haus sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte.

    Schon von der Straße her, der Straße mit den netten, sauber geschnittenen Parzellen, war ihr etwas an der Fassade aufgefallen, ein neues Leuchten. Jetzt, nachdem sie den schmalen Kiesweg zur Vordertür hinter sich gelassen hatte, sah sie es genauer. Die Vorderfront war frisch geweißt, die Haustür frisch gestrichen, die Türfläche blendend und neu, der Rahmen in einem sehr milden Haselnussbraun.

    Lebkuchenhaus mit frischem Zuckerguss, noch warm und klebrig.

    Und der Klingelknopf hatte nicht einen einzigen Farbspritzer.

    Karens Zeigefinger, der sich dem kleinen Klingelschildchen schon genähert hatte, verharrte und zog sich wieder zurück.

    Karen versuchte sich auszumalen, mit welcher Akribie und Vorausschau jemand beim Renovieren der Fassade den Klingelknopf mit Folie oder Klebeband abgedeckt haben musste. Dieser Sinn fürs widerspenstige Detail war ganz und gar nicht Lauries Handschrift. Und überhaupt der neue Anstrich. Es gab dafür nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte Laurie in einem Preisausschreiben den Einsatz einer Malerfirma gewonnen – was aber Leuten im wirklichen Leben nie passierte –, oder aber Laurie und Sam hatten sich wieder zusammengerauft, Laurie und Sam bauten wieder gemeinsam für die Zukunft, Laurie war wieder Barbie, und Ken war wieder zu Hause.

    Das war natürlich ein Tiefschlag. Karen sah sich plötzlich selbst vor dem duftenden Lebkuchenhäuschen stehen, ein staubiger Freak, ein Hausierer, ein besonders schäbiger Versager, hoffend auf einen Bissen vom weichen Inneren, wie sie so dastand mit ihrem abgewetzten Koffer. Aber wie bisher immer, wenn sie sich selbst so gesehen hatte, als einen störenden Fleck in einer harmonischen Komposition, kam da auch dieser Trotz. Sie war jetzt innerlich so weit gekommen, sie war jetzt äußerlich so weit gegangen, hatte so viele Zäune überklettert oder niedergerissen, sie konnte jetzt vor dieser lächerlichen, sauberen, neu lackierten Tür nicht einfach kehrtmachen. Der elektrische Funke sprang. Karen klingelte regelrecht Sturm. Und es kam noch schlimmer, als sie befürchtet hatte: Ein schreiendes Baby echote von drinnen zurück.

    Es dauerte eine Weile, bis Laurie die Tür öffnete, und dann noch mal fast so lange, bis die beiden Schwestern ihren gegenseitigen Anblick verdaut hatten. Karen schmal, blass, entschlossen, in äußerst zerstoßener Kluft, und Laurie in von einem blassrosa Hausmantel kaum verhüllter, weiblicher gewordener Weichheit, mit diesem verdammten sabbernden Baby auf dem Arm.

    »Mein Gott – Karen! Ich glaub’s nicht!«

    »Tja.«

    Bei der nun folgenden Umarmung war das Baby irgendwie zwischen ihnen, trennte und irritierte ihre Körper, aber seine glitzernden Speichelfäden sponnen sie aneinander.

    »Komm rein, komm rein, komm rein, mein Gott, das ist ja, wie wenn der Papst plötzlich vor der Tür steht und ›Yo, Baby!‹ sagt. Es ist Karen, es ist wirklich Karen, die verschwundene, unsichtbare Karen.«

    »Ich war unsichtbar, und du hast dich gezellteilt. Das ist doch dein Baby, oder bist du einfach nur ein besonders einfühlsamer Sitter geworden?«

    »Natürlich ist das meiner, Dummchen. Sag Karen ›Guten Tag‹, Sam.«

    »Sam!?«

    »Na ja, wir wollten erst ›Ethan‹, aber nachdem wir dann gesehen haben, wie ähnlich er Sam ist. Schau dir doch mal die Farbe dieser Augen an. Dieses Blau gibt es nur zweimal auf der Welt. Ja, guck sie dir an. Das ist deine Tante Karen. Der wilde Teil der Familie.«

    Karen wuchtete ihren ausgebeulten Koffer über die Schwelle und schloss die gut geölte Tür hinter sich. Sie machte mit Absicht wenig Anstalten, keine schmutzigen Fingerabdrücke auf dem Zuckerguss zu hinterlassen. »Ist das immer noch derselbe Sam von früher?«

    »Natürlich derselbe Sam, was denkst du denn, mit wie vielen Sams ich zusammen bin.«

    »Der letzte Stand der Dinge zwischen dir und Sam, den ich mitbekommen habe, hörte sich in etwa so an, ich hab es noch ziemlich genau im Ohr: ›Sam ist so eine Art doppelter Evolutionssalto rückwärts, und seinen Dick hat er nur, damit er nicht aus dem Hintern pinkeln muss.‹«

    »Pssst, hältst du wohl den Rand? Willst du, dass der Kleine jetzt schon anfängt, sich über seinen Vater lustig zu machen? Das kommt noch früh genug. Mein Gott, Karen – der letzte Stand der Dinge, den du mitbekommen hast! Du hast nicht mehr viel mitbekommen im letzten Jahr, oder? Ich habe versucht, dir zu schreiben, dass ich schwanger bin, aber das blöde Management kannte deine augenblickliche Adresse nicht. Niemand kam mehr an dich ran. Also, wo hast du gesteckt die ganzen Monate?«

    Karen seufzte und warf sich auf ein nach gefüllten Windeln riechendes Sofa. »Überall. Wir waren überall. Haben mehrere Staaten durchgetourt, bis da kein Stein mehr auf dem andern lag. Wir haben geheiratet.«

    »Waaaaaas?« Laurie legte das Baby zärtlich in eine mit Knuddelgegenständen fast verhüllte kleine Krippe und tupfte dem glucksenden Kerlchen mit einem Tuch das Kinn ab. »Du hast ihn geheiratet? Das gibt’s doch gar nicht. Davon hätte ich doch gehört! Du flunkerst doch.«

    »Na, sooo berühmt sind MBMI ja nun auch noch nicht, dass man alles über sie im Fernsehen sieht.«

    »Im Fernsehen vielleicht nicht, aber im Radio und in den Zines – hast du ’ne Ahnung! Hast du ’ne Ahnung, wie Floyd hier gefeiert wird. Der Junge aus unserer Stadt, der es bis in die Top Twenty geschafft hat. Wo bisher alles, was man über uns in der weiten Welt gehört hat, nicht gerade positiv zu nennen war. Floyd ist jetzt so ’ne Art Nationalheld hier, obwohl einige Bigheads natürlich schmollig sind darüber, dass er jetzt schon seit ’ner Ewigkeit nicht mehr hier gespielt hat. Aber er ist ja auch wirklich soooooo süß. Ich hab sogar ein Poster von ihm überm Bett.«

    »Tja. Und ich hatte ’ne Zeitlang ihn ihm Bett.«

    Laurie riss sich jetzt endlich mal vom Baby los und schaute ihre jüngere Schwester zweifelnd an. »Du hast ihn nicht wirklich geheiratet.«

    »Doch.«

    »Isnichwahrisnichwahrisnichwahr.«

    »Doch, doch, doch.«

    »Wirklichwirklichwirklich?«

    »Wirklichwirklichwirklich. Am 4. Juli, wie sich’s gehört, und das ganze verdammte Land hat dazu Feuerwerk gemacht. Und am 28. November haben wir uns wieder getrennt.«

    Laurie, die gerade beide Arme hatte heben wollen, um zu jubeln und etwas wie »Juuuuhuuuu, ich freu mich ja so für dich!« zu schreien und ihre Schwester dann zu umarmen und hochleben zu lassen und vielleicht noch mehr, das ihr dann eingefallen wäre, tat plötzlich nichts von alledem. »Waaaaas?«, meinte sie nur. Dann noch mal: »Waaaaaas? Du bist mit Floyd durchgebrannt, in die Versenkung abgetaucht, hast ihn geheiratet und dich wieder von ihm getrennt innerhalb von einem Jahr?«

    »Na, hör mal: Du hast dich doch auch mit Sam gefetzt, dass alle dachten, jetzt kannst du nur noch lesbisch werden, und kein Jahr später säugst du plötzlich Sam junior groß und bist auch noch glücklich dabei. Die Schnelligkeit der Umstände ist keine Erfindung des Rock’n’Roll, das gibt es schon seit Adam und Eva.«

    »Bist du denn auch ... schwanger?«

    »Nö. Nur so ’ne Redewendung.« Karen lachte auf. »Mach dir keine Sorgen, Schwesterchen: Karen wird kein dreiköpfiges Crackbaby zur Welt bringen. Karen passt wenigstens in der Hinsicht immer gut auf sich auf.«

    Lauries immer noch skeptischer Blick irrte zwischen Karen und ihrem Koffer her. Sie setzte sich jetzt neben der Krippe in einen sackförmigen Sessel und forderte: »Erzähl. Erzähl mir alles, dann weiß ich wenigstens, ob ich heulen oder lachen oder schreien soll.«

    »Viel gibt’s da nicht zu erzählen. Du warst dabei, als ich ihn kennengelernt habe. Wir haben eine ziemlich gute Zeit gehabt, solange es dauerte. Weißt du, ich glaube, alles, was man jemals über Sex mit Rockmusikern gehört hat, ist so ziemlich nicht gelogen. Es ist wirklich ziemlich umwerfend.«

    »Aa-ha.«

    »Ja. Und ich dachte wirklich ... das ist es, verstehst du? Ich meine, wir zogen rum, hingen ab, wir hatten guten Stoff, und jeden Abend waren wir in einer anderen Stadt, von der ich früher nicht einmal im Traum gedacht hätte, dass es sie überhaupt gibt. Jeden Abend setzten die MBMI kleine lokalpatriotische Bühnen in Brand, und dann machten wir uns wieder aus dem Staub, bevor man uns lynchen konnte. Du hast es ja selbst gerade gesagt: Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sensationell gut entwickelt das Netzwerk von unabhängigen Radiostationen da draußen ist. Jedes Kuhkaff hat seine zwei miteinander konkurrierenden Sender. Das führte dazu, dass wir in jeder Stadt schon wie Helden empfangen wurden, bevor die Band auch nur einen einzigen Ton gespielt hatte.«

    »Kaum zu glauben. Hier in Floyds Heimatstadt kann ich das ja voll verstehen. Aber draußen im Land? Im Zeitalter von MTV und so und den Hunderten und Aberhunderten von Bands, die’s gibt. Es ist doch heute schon wirklich verdammt unwahrscheinlich geworden, dass der Junge, der im Supermarkt hinter dir in der Kassenschlange steht, nicht in irgendeiner Band spielt.«

    »Stimmt. Aber vielleicht ist genau das der springende Punkt. Die Leute wollen es so haben. Sie sind einfach geil auf Musiker und Schauspieler und Models und all so was. Ich glaube manchmal, am liebsten wäre es den Leuten, wenn es gar keine normalen Menschen mehr geben würde, sondern wenn jeder, dem du begegnest, ein Superstar wäre. Keiner interessiert sich doch mehr für Politiker und Wissenschaftler oder Intellektuelle und all so’n Scheiß. Es geht doch allen sowieso schon dreckig genug. Wer sich mit beschissenen McJobs über Wasser halten muss und überhaupt keine lohnende Perspektive mehr hat, der hat doch echt keinen Bock mehr drauf, sich zu Hause auch noch Sorgen um die Ozonschicht oder die Probleme der Obdachlosen und Schwarzen machen zu müssen. Aber so’n Typ mit ’ner elektrischen Gitarre, der mit seinem staubigen Tourbus in die Stadt geschlingert kommt – der ist wie Jesus zum Anfassen, und für die Kids die heiß ersehnte Ausrede, um wieder mal richtig zu Headbangen.«

    »Ich fand es eigentlich ganz schön cool, dass ›Goodbye‹ so ’nen zivilisationskritischen Text hat. Ich dachte, der wird einige Fettärsche ganz schön aufreißen.«

    »Ach scheiße. Da hört doch keiner drauf. Floyd selbst hat zu mir gesagt: ›Das ist dieses Bruce-Springsteen-Riff, das die ganzen Arschlöcher zum Wippen bringen wird, dieses Riff, das können sie gerade noch kapieren, also sollen sie es von mir aus kriegen und wie die Seehunde Beifall klatschen‹.«

    »Ja, das klingt ganz nach Nobody’s Floyd

    »Ist der Nobody’s Floyd-Scheiß auch schon bis hierher durchgedrungen?«

    »Bis hierher durchgedrungen? Karry, du machst dir echt kein Bild, wie sich hier alles verändert hat. Es gibt schon Nobody’s Floyd-T-Shirts zu kaufen. Selbst Silberman an der Ecke hat welche.«

    »Verrrrückt.« Beide lachten, als sie an den alten Silberman dachten, in dessen Laden früher immer nur ausgeleierte Klezmermusik vom Band gelaufen war. »Aber das klingt doch alles nach ’nem Traumleben. Was ist denn dann schiefgelaufen?«

    Karen seufzte. Sam junior quengelte und wurde von seiner Mami wieder auf den Schoß geholt.

    »Alles. So ziemlich alles lief schief. Na ja, letzten Juli haben wir wie gesagt geheiratet. Ich meine, wir kannten uns da über fünf Monate, was will man mehr verlangen. Wir kannten uns wirklich gut und hatten auch schon einige Ups und Downs hinter uns. Ich wusste auch, dass Floyd irgendwie verrückt war, irgendwie besessen, und dass er auf ganz einzigartige Art und Weise gut war. Jeder, der sich auch nur ein bisschen die Mühe machte hinzuhören, konnte das merken. Aber ich hab mir wohl nicht klar genug gemacht, was das am Ende bedeuten würde. Ich kann nicht mal behaupten, dass es Floyds Schuld gewesen ist. Er ist eben einfach seinen Weg weitergegangen, ohne Gnade, ohne Kompromisse und ohne Gefühle für jemand völlig Nutzlosen wie mich. Der Text dazu stand die ganze Zeit über an der Wand, ich bin nur einfach zu blöd und zu bekifft gewesen, ihn rechtzeitig wahrzunehmen.«

    »Karen ...«

    »Nein, ist ja schon gut. Ich bin drüber weg. Ich bin ja nicht erst gestern abgehauen. Ich bin schon im November weg, das hab ich dir ja schon gesagt.«

    »Und wo warst du die zwei Monate seitdem?«

    »Unsichtbar. Überall und nirgends. Floyd hatte mir was abgegeben von dem scheiß Plattenvertraggeld. Ich hab genau das gemacht, was ich sonst auch getan habe, wenn ich mal keinen Bock drauf hatte, mir jeden Abend denselben Gig reinzutun. Ich hab in fremden Städten, fremden Hotels, fremden Bars an der Theke gesessen, hab ein paar Drinks gehabt und mit Cowboys geplaudert. Ich hab das Leben weitergelebt, bis das Geld alle war. So, wie ihr alle mir immer vorgeworfen habt, dass ich bin, so bin ich dann halt auch geworden, da kann man nichts mehr machen.«

    Laurie seufzte. »Und jetzt willst du hier unterkommen.«

    »Tja. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du und Sam wieder ... und dass du jetzt’n Baby hast.«

    »Ich hab versucht, es dir zu schreiben.«

    »Hast du schon gesagt.«

    »Ja. Und es war verdammt noch mal nicht fair von dir, einfach so abzuhauen. Ich hätte auch deine Hilfe brauchen können, weißt du? Damals, als Sam gerade mit der Anwältin rummachte. Plötzlich warst du auch noch weg, mit deinem Rockstar, und ich blieb ganz allein hier sitzen.«

    Das Schweigen, das jetzt entstand, vom Glucksen des Babys betont, war fast körperlich unangenehm. Karen betrachtete die bürgerliche Einrichtung, die bunten Gardinen, die hell gemaserten Schränke, den Tisch, die Audioanlage mit den wuchtigen CD-Ständern links und rechts davon.

    »Sieht so aus, als hättest du’s aber wieder gut in den Griff gekriegt. Wann habt ihr denn geheiratet?«

    »Ich und Sam? Seh ich so aus, als würde ich jemanden heiraten, von dem ich genau weiß, dass er nicht treu sein kann? Nee, so blöd bin ich nun auch wieder nicht. Wir sind nicht verheiratet und werden’s auch nie sein, wenn’s nach mir geht. Seinen Eltern ist’s egal, und unsere sollen die Schnauze halten. Als du abgehauen bist, haben sie ja auch nichts gesagt.«

    »Sie haben nichts gesagt?«

    »Wenig«, verbesserte sich Laurie. »Na ja.«

    »Sie werden froh gewesen sein, dass ich endlich weg war. Wird ihnen ganz und gar nicht gefallen, dass ich noch nicht an meinen Drogen krepiert bin.«

    »Red nicht so ’nen Scheiß.«

    »Ist doch kein Scheiß. Wir waren immer Licht und Schatten für sie, du und ich. Tochter Laura kriegt ein kleines Häuschen außerhalb der Stadt geschenkt, damit sie’s nicht mehr so weit bis zur Arbeit hat, und Karen hat ja ihre Drogen und ihre Kerle. So war das schon immer eingeteilt.«

    »Niemand hat dich je gezwungen, in unserem Wohnzimmer einen Gang Bang zu veranstalten.«

    »Das war kein Gang Bang, verdammt, das hab ich schon tausendmal erklärt. Es war so eine Art Strip-Poker, ganz harmlos.«

    »Ganz harmlos, ja. Weißt du was? Am Anfang, als wir beide mit Floyd unterwegs waren und es schon abzusehen war, dass zwischen euch was laufen wird, da hab ich wirklich gedacht, dass Floyd gut für dich ist. Und als du mit ihm abgehauen bist, hab ich das immer noch gedacht. Karry hat das große Los gezogen, hab ich gedacht. Er hat dich da rausgeholt und dir etwas von der Welt gezeigt, dass dir eigentlich den versponnenen Kopf wieder ein wenig gerader gerückt haben müsste. Aber dann ist dir langweilig geworden mit ihm, oder er hat dann gemerkt, dass mit dir nichts einen richtigen Sinn ergibt, und hat Schluss gemacht. Ich kann mir das alles sehr gut vorstellen. Das ist schon immer so gelaufen bei dir.«

    »Gar nichts kannst du dir vorstellen. Überhaupt nichts.«

    »Weil du nichts Richtiges erzählst, nur Ausflüchte. Wie soll ich mir denn da ein Bild machen? Du liebst ihn, du heiratest ihn, er ist verrückt, er findet dich nutzlos, ihr trennt euch. Und das alles innerhalb eines halben Jahres. Das ist doch Blödsinn. Willst du auch ’ne warme Milch? Ich mach mir eine.«

    »Ja, gerne. Soll ich helfen?«

    Laurie ging an Karen vorbei in die Küche, Sam junior auf dem Arm. »Das krieg ich schon alleine hin, mach dir darum mal keine Gedanken.« Sie fing an, einhändig in der Küche herumzurumoren, Karen blieb sitzen, die Beine untergeschlagen, mit den Fingern an den Stellen pulend, wo die Sofaknöpfe abgeschnitten worden waren.

    »Alles ist anders geworden in diesem halben Jahr«, fing sie leise an. »Als wir ihn kennengelernt haben, da hatte er MBMI gerade frisch gegründet. Weißt du noch? Sie tourten hier in der Umgegend wild herum, aber immer mit Harrisburg als Basis. Die Kreise wurden zwar immer größer, aber wir beide hatten keine Schwierigkeiten, jede Woche einen MBMI-Gig zu sehen und guten Kontakt mit Floyd zu halten.«

    »Ja, das war ’ne geile Zeit. Da war Brian Milman noch in der Band. Mein Gott, wenn man uns so reden hört, könnte man meinen, das ist Jahrzehnte her und unsere Jugend liegt so weit zurück. Das war letztes Jahr, Karry!«

    »Ja, aber das ist eben doch der Rock’n’Roll. Alles läuft so schnell, läuft so schnell weg. Nachdem ich das erste Mal mit der Band bis nach Scranton rausgefahren bin und übers Wochenende weggeblieben bin, ohne mich bei Ma und Pa abzumelden, hab ich’s zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten.«

    »Mann, das war ja auch vielleicht ein Affentheater. Pa hat mich mitten in der Nacht angerufen und Panik geschoben, von wegen dass du vielleicht gerade jetzt, in dieser Sekunde, von Motorradbanden zu Tode vergewaltigt wirst und all so’n Scheiß. Und ich hab nur gesagt: ›Pa, das Mädchen ist achtzehn und volljährig, sie kann jetzt machen, was sie will.‹«

    »Und das stimmte ja auch, verdammt. Wofür wird man denn achtzehn, wenn man dann zu Hause immer noch Stress kriegt.«

    »’Ne Woche später bist du dann abgehauen.«

    »Klar. Wärst du auch an meiner Stelle. Und es war dann echt das Paradies. Februar, März, April, Mai, Juni, New York State, Ohio und Virginia. Wir hatten so ’ne edle Zeit. Brian hat immer für Stimmung gesorgt, und für guten Stoff natürlich auch, und Floyd war so voller ... so voller Kraft und Licht. Man konnte seine Zukunft in ihm leuchten sehen, das ganze Potenzial in ihm. Sie brauchten noch keine zweite Gitarre damals und auch kein Keyboard. Sie waren nur Drum und Bass und Floyds Gitarre und Floyds Stimme, und die Kids liebten uns auf den Konzerten. Klar bekamen wir auch mal Ärger. Brian legte sich fast jedes Mal mit den örtlichen Promotern und den Schuppenbesitzern an und feilschte wie ein Wiesel um mehr Geld, und einmal gab es sogar so ’ne Art Messerduell zwischen Brian und einem Fischfresser oben in Ithaca. Mit Klappmessern sind sie aufeinander losgegangen, und Floyd hat die Gitarre eingepluggt und den Soundtrack dazu live gespielt. Er war so genial. Er ist immer noch genial, aber anders. Es war so eine tolle Zeit. Im Juli dann die Hochzeit, das war das Größte. Und keine zwei Wochen darauf kam dann Utah.«

    »Utah? Das ist die blonde Braut, die im Booklet von Ripcage auf dem Zaun balanciert?«

    »Ja, genau die. Utah McAllison. Wir lernten sie in Bradford kennen oder in Smethport oder Jamesport oder irgendeinem

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1