Daniels unsichtbarer Freund: Sophienlust 275 – Familienroman
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Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
»Also, ich begreife diese jungen Frauen von heute nicht«, sagte Gisela Neubrecht aufgebracht zu ihrer Nachbarin. »Sie setzen ein Kind nach dem anderen in die Welt und schieben es dann ins Kinderheim ab.« »Ganz so schlimm, wie Sie es sehen, liebe Frau Neubrecht, ist es doch nicht«, meinte Helga Schwaderer. »Erstens setzen die jungen Frauen von heute nicht ein Kind nach dem anderen in die Welt – eine Familie mit mehr als drei Kindern hat schon Seltenheitswert –, und zweitens blieb Frau Küster gar nichts anderes übrig, als Kerstin in ein Heim zu geben. Leicht hat sie sich das aber nicht gemacht, und soviel ich gehört habe, ist dieses Sophienlust ein ganz erstklassiges Kinderheim.« »Nein, nein, Frau Schwaderer!« wehrte Gisela Neubrecht entschieden ab. »Kein Kinderheim, mag es auch noch so gut sein, kann das Elternhaus oder die Mutter ersetzen.« Sie ergriff die Kaffeekanne, die vor den beiden auf dem Tisch stand. »Noch etwas Kaffee?« fragte sie freundlich. »Gern!« Helga Schwaderer hob ihre Kaffeetasse. Sie und Frau Neubrecht waren seit Jahren Nachbarinnen. Zweimal in der Woche trafen sie sich nachmittags zum Kaffeetrinken und Plaudern. Obwohl Gisela Neubrecht mit ihren über siebzig Jahren bedeutend älter war als sie selbst, unterhielt sie sich sehr gern mit ihr. »Danke«, sagte sie und setzte ihre Tasse auf den Tisch zurück.
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Book preview
Daniels unsichtbarer Freund - Anne Alexander
Sophienlust
– 275–
Daniels unsichtbarer Freund
Ein kleiner Junge muss schon viel ertragen
Anne Alexander
»Also, ich begreife diese jungen Frauen von heute nicht«, sagte Gisela Neubrecht aufgebracht zu ihrer Nachbarin. »Sie setzen ein Kind nach dem anderen in die Welt und schieben es dann ins Kinderheim ab.«
»Ganz so schlimm, wie Sie es sehen, liebe Frau Neubrecht, ist es doch nicht«, meinte Helga Schwaderer. »Erstens setzen die jungen Frauen von heute nicht ein Kind nach dem anderen in die Welt – eine Familie mit mehr als drei Kindern hat schon Seltenheitswert –, und zweitens blieb Frau Küster gar nichts anderes übrig, als Kerstin in ein Heim zu geben. Leicht hat sie sich das aber nicht gemacht, und soviel ich gehört habe, ist dieses Sophienlust ein ganz erstklassiges Kinderheim.«
»Nein, nein, Frau Schwaderer!« wehrte Gisela Neubrecht entschieden ab. »Kein Kinderheim, mag es auch noch so gut sein, kann das Elternhaus oder die Mutter ersetzen.« Sie ergriff die Kaffeekanne, die vor den beiden auf dem Tisch stand. »Noch etwas Kaffee?« fragte sie freundlich.
»Gern!« Helga Schwaderer hob ihre Kaffeetasse. Sie und Frau Neubrecht waren seit Jahren Nachbarinnen. Zweimal in der Woche trafen sie sich nachmittags zum Kaffeetrinken und Plaudern. Obwohl Gisela Neubrecht mit ihren über siebzig Jahren bedeutend älter war als sie selbst, unterhielt sie sich sehr gern mit ihr. »Danke«, sagte sie und setzte ihre Tasse auf den Tisch zurück.
»Noch etwas Kuchen?« Gisela Neubrecht hielt ihrer Nachbarin den Teller mit dem selbstgebackenen Kuchen entgegen.
»Jedesmal, wenn ich bei Ihnen Kaffee trinke, bin ich am nächsten Tag ein Pfündchen schwerer.« Helga Schwaderer lachte und griff zu. »Aber um auf Frau Küster zurückzukommen. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig, als ihre Tochter in ein Kinderheim zu geben. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, Verwandte hat sie nicht. Wer hätte denn die kleine Kerstin betreuen sollen, während sie in Paris ist?«
»Sie hätte ihrem Chef klipp und klar sagen können, daß er eine andere nach Paris schicken soll«, meinte Frau Neubrecht. »Er wäre verpflichtet gewesen, auf ihr Kind Rücksicht zu nehmen. Und wenn er sich geweigert hätte, dann wäre es an ihr gewesen, sich eine andere Arbeit zu suchen.«
Helga Schwaderer unterdrückte ein Lächeln. Sie fand, Frau Neubrecht machte es sich etwas einfach. Als ob es so leicht wäre, schnell eine neue Stelle zu bekommen! Sie selbst konnte Frau Küster sehr gut verstehen. Und mit ihren sieben Jahren war Kerstin auch schon vernünftig genug, um einzusehen, daß sie einige Zeit ohne ihre Mutter auskommen mußte.
»Frau Küster hat mir Fotos von Sophienlust gezeigt«, erzählte Helga Schwaderer. »Das Heim liegt in der Nähe von Wildmoos, eingebettet in grüne Hügel und Wälder. Früher war es ein ehemaliger Herrensitz, dann wurde es nach dem Willen einer Frau von Wellentin in ein Kinderheim umgewandelt. Zum Heim gehört ein Park mit Baumschule, Spielplatz, Springbrunnen. Es ist alles vorhanden, was ein Kinderherz begehrt. Sogar reiten dürfen die Kinder.«
»Trotzdem!« Gisela Neubrecht schüttelte mißbilligend den Kopf. So schnell ließ sie sich nicht überzeugen. »Wie kann Frau Küster auch nur eine Minute ruhig sein, wenn ihre Tochter völlig allein in einem Kinderheim ist? Wenn ich mir vorstelle, daß meine Enkelkinder in einem Kinderheim leben müßten!« Unwillkürlich schaute sie zu dem gerahmten Foto hin, das ihr gegenüber auf dem Fenstersims stand. Ein weicher Zug erschien um ihren Mund. »Ich glaube, ich würde wahnsinnig werden vor Angst um sie.«
Helga Schwaderer folgte dem Blick der älteren Frau. Sie kannte Cornelia und Daniel Tanner seit ihrer Geburt. »Wie geht es Ihrer Tochter und den Kindern?« fragte sie.
»Ach, das habe ich Ihnen überhaupt noch nicht erzählt!« Über Gisela Neubrechts Gesicht ging ein Leuchten. »Stefanie hat mich heute morgen angerufen. Sie hat eine Woche früher Urlaub bekommen. Sie wird mit den Kindern bereits am Freitag hier sein.«
»Wie wunderbar!«
»Ja, es ist einfach herrlich!« Gisela Neubrecht glättete eine Falte des Tischtuchs. »Seit Stefanie mit den Zwillingen in Garmisch lebt, sehen wir uns leider nicht mehr so oft wie früher. Ich kann ja verstehen, daß sie nach Garmisch gezogen ist. Sie hat dort eine sehr gute Stelle als Hotelsekretärin. Und vor allem, im Wiesenhof steigen meist Familien mit Kindern ab. Deshalb hat ihr Chef auch nichts dagegen, daß die Zwillinge den ganzen Tag im Hotel herumspringen.«
»Leicht hat es Ihre Tochter bestimmt nicht, so allein mit den Kindern.« Helga Schwaderer mußte wieder an Margot Küster denken. Frau Küster war Witwe. Stefanie Tanner lebte dagegen von ihrem Mann getrennt.
»Nein, bestimmt nicht.« Gisela Neubrecht seufzte auf. »Aber ich hatte Stefanie damals gewarnt, diesen Rolf Tanner zu heiraten. Tagelang habe ich auf sie eingeredet, aber sie wollte nicht hören. Leider ist es dann genauso gekommen, wie ich es Stefanie prophezeit hatte.« Sie seufzte wieder. »Ich wünschte, ich hätte nicht recht behalten. Bei der erstbesten Gelegenheit ist Rolf auf und davon.«
»Warum läßt sich Ihre Tochter eigentlich nicht scheiden?« fragte Helga Schwaderer. »Wäre dann nicht alles viel einfacher für sie?«
»Stefanie hat nun einmal ihren eigenen Kopf. Sie nimmt ja nicht einmal Unterhalt von ihrem Mann an. Ich kann nicht behaupten, daß Rolf nicht für sie und die Kinder sorgen wollte, so gerecht muß ich schon sein. Während der ersten Monate hat er regelmäßig aus England Geld überwiesen, aber Stefanie hat es jedesmal prompt zurückgeschickt. Sie will ihm beweisen, daß sie auch allein zurechtkommen kann.«
»Aber warum?«
»Irgendwann muß Rolf ihr einmal vorgeworfen haben, daß sie nicht einmal in der Lage wäre, ohne meine Hilfe einen Schnürsenkel zuzubinden.« Offene Empörung sprach aus Gisela Neubrechts Worten. »Er war oft so beleidigend und hat nie einsehen wollen, daß ich Stefanie am Anfang ihrer Ehe beistehen mußte. Man kann doch so ein junges Ding nicht ohne jede Unterstützung in die Welt hinauslassen.«
Man kann auch zuviel des Guten tun, dachte Helga Schwaderer, aber sie sprach diesen Gedanken nicht aus. Sie mochte Frau Neubrecht, und sie wollte es sich nicht mit ihr verderben. Aber sie war überzeugt, daß Gisela Neubrecht nicht ganz unschuldig an der gescheiterten Ehe ihrer Tochter war.
*
»Kinderheim Sophienlust, von Schoenecker am Apparat!« meldete sich Denise von Schoenecker. Frau Rennert, die Heimleiterin, war vor einigen Minuten zur Küche gegangen, um etwas mit der Köchin zu besprechen. So hatte Denise den Hörer abgenommen.
Im Hörer erklang ein fernes Rauschen, dann ertönte ein kurzes Pfeifen, das von einem Knacken abgelöst wurde. Die Verbindung war unterbrochen.
»Es sollte nicht sein«, meinte Denise zu sich selbst und legte den Hörer auf. Sie widmete sich wieder den Karteikarten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. Am nächsten Tag wollte Frau Dr. Frey nach Sophienlust kommen, um einige Kinder zu impfen. Wieder klingelte das Telefon. Denise griff, ohne den Blick von den Karten zu heben, nach dem Hörer. »Kinderheim Sophienlust!«
»Küster!« meldete sich eine jugendlich klingende Stimme. »Ich hatte eben schon einmal angerufen, aber wir sind unterbrochen worden. Frau von Schoenecker?«
»Ja, am Apparat, Frau Küster! Guten Tag… Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich schon etwas in Paris eingelebt?«
»Wie man’s nimmt, Frau von Schoenecker«, erwiderte Margot Küster.
»Mir fehlt vor allem Kerstin, aber das war ja zu erwarten. Wie macht sie sich? Fragt sie oft nach mir?«
»Kerstin ist ein ausgesprochen liebes Mädchen«, versicherte Denise. »Nach Ihnen gefragt hat sie zwar noch nicht«, sagte sie wahrheitsgemäß, »aber ich weiß von Pünktchen, daß sie jeden Abend betet: ›Und behüte auch meine liebe Mama in Paris‹!«
»Ich habe schreckliche Sehnsucht nach ihr«, meinte Margot Küster, den Tränen nahe. »Kann ich sie sprechen?«
»Einen Moment, bitte! Vorhin spielte sie mit den anderen vor dem Haus blinde Kuh.« Denise sprang auf und lief in die Halle. Wenig später stieg sie die Freitreppe hinab.
Die Kinder spielten noch immer vor dem Haus. Die kleine Heidi Holsten schlug lachend ihre Hände zusammen und rief ein ums andere Mal: »Kerstin ist die blinde Kuh! Kerstin ist die blinde Kuh!« Ihre blonden Rattenschwänzchen hüpften lustig auf und ab.
»Warte, dich krieg ich schon!« Kerstin versuchte mit verbundenen Augen nach Heidi zu greifen.
»Kerstin, deine Mama ist am Telefon!«
Mit einem Ruck riß das kleine Mädchen die Binde von den Augen. »Wo, Tante Isi?« rief sie aufgeregt.
»Im Empfangszimmer.«
Wie der Blitz war Kerstin an Denise vorbeigelaufen. Sie polterte die Freitreppe empor und stürzte in die Halle.
»Wir haben gerade so schön gespielt, Tante Isi«, beschwerte sich Heidi. »So schön!« Schmollend blickte sie zu Denise empor.
»Aber Kerstin mußte ganz schnell zum Telefon laufen«, erklärte Denise von Schoenecker. »Ihre Mutti ist in Paris. Es kostet sehr viel Geld, von dort anzurufen.«
»Wo ist Paris?« erkundigte sich Heidi neugierig.
»In Frankreich«, sagte Vicky Langenbach. »Paris ist eine große Stadt. Ein langer Fluß geht mittendurch. Er heißt…« Vicky nagte an ihrer Unterlippe. »Er heißt Seine! Und auf dem Fluß sind Inseln. Auf einer steht die Notre Dame, eine riesige Kirche.« Triumphierend blickte sie um