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Sidi Ifni: Begegnung in der Fremde
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Ebook278 pages4 hours

Sidi Ifni: Begegnung in der Fremde

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Peter Bürklers Erzähler trifft in Sidi Ifni auf Nora und Ishem, deren Ehe kurz vor dem Scheitern steht. Der dreijährige Sohn, der bei den Eltern von Nora in der Schweiz lebt, ist regelmäßiger Auslöser der lautstarken und handgreiflichen Auseinandersetzungen. In der zauberhaften Lebhaftigkeit der marokkanischen Küstenstadt berichtet der Roman vom Zusammentreffen von Nordafrikanern und Europäern, von Einheimischen und Fremden, von Männern und Frauen, von Altbekanntem und Unbekanntem. Das Buch ist aber vor allem eine Schilderung der Selbstbefreiung einer Frau, die zwischen den Kulturen lebt. Sie führt dem Erzähler vor Augen, wie komplex Beziehungen sind und wie schwierig es ist, das menschliche Verhalten zu entschlüsseln. Der Leser erlebt die Faszination für das Fremde, die das Leben prägt und bereichert. Wie beiläufig hat Peter Bürkler eine Ethnographie des Geheimnisvollen vorgelegt, das es in jeder Gesellschaft und in jedem Menschen zu entdecken gibt.
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateMar 19, 2019
ISBN9783956021947
Sidi Ifni: Begegnung in der Fremde

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    Book preview

    Sidi Ifni - Peter Bürkler

    Impressum

    Eine steinige Piste führte schräg den Hügel hoch, gesäumt von Feigenkakteen und staubigen Büschen. Eine Brise trug den Duft von Algen und Erde hinauf bis zum Kamm. Das Rauschen des Meeres verzog sich mit jedem Schritt in die Ferne. Tiefe Stille legte sich darüber, bis auf eine Biene, eine Fliege oder das Zwitschern von Spitzhaubenvögeln, die zwischen dem kargen Grün umher tippelten. Oben bot sich eine atemberaubende Aussicht: hinter mir die Sahara, vor mir der Atlantik, und zu Füßen Sidi Ifni. Aus den weißen Wänden stachen blaue Türen, blaue Fensterläden, blaue Borde, überdacht von sandfarbenen Terrassen. Da und dort ragte ein Minarett heraus. Von irgendwo krähte ein Hahn, schlug ein Hammer, schrie ein Kind, heulte ein Moped auf. Irgendwo da unten musste Nora sein. Bei meiner Abreise hatte ich kein konkretes Ziel vor Augen gehabt. Zeichen, Hinweise oder Menschen sollten mich führen. Ich hatte Nora auf der Überfahrt von Barcelona nach Tanger kennen gelernt, mit ihr ein paar Worte gewechselt. Sie war es gewesen, die mich auf Sidi Ifni aufmerksam gemacht hatte. Etwas Geheimnisvolles hatte da durchgeschimmert, und das betraf sowohl sie selbst als auch die kleine kompakte Stadt da unten. Aber das Gespräch war schon bald versandet. Es schien, als wollte sie alleine sein, als wäre sie mit einer Geschichte belastet, die sie mit niemandem teilen wollte. Bloß in ein paar knappen Sätzen hatte sie gewisse Dinge angedeutet. Beispielsweise dass sie mit einem Berber verheiratet sei. Offensichtlich stimmte da etwas nicht. Es hörte sich an, als würde sich eine Katastrophe anbahnen.

    In den folgenden Tagen streifte ich durch die Gassen, saß stundenlang in den Cafés, beobachtete das quirlige Leben, studierte die fremden Gesichter und die bunten Kleider. Und stets hoffte ich, Nora würde auftauchen. Die Stadt war zu klein, um einem bekannten Gesicht nicht früher oder später über den Weg zu laufen, und so war es auch. Eines Morgens, als ich in die Patisserie gegenüber dem ausgedienten Cinema Avenida trat, erkannte ich sofort die burgunderrote Windjacke, darüber das schlanke Profil mit den hohen Backenknochen, die dünne Nase, die zimtfarbene Ponyfrisur. Sie stand an der Kasse und kramte in einem ledernen Geldbeutel nach Kleingeld. Ihre Miene war von Ärger und Überdruss gezeichnet. Ein großgewachsener, breitschultriger Berber in hellgrauem Anzug und schwarzem T-Shirt sah ihr ungeduldig auf die Finger. In seiner Hand baumelte eine mit Gebäck gefüllte Papiertüte. Beide Gesichter wirkten grimmig, als hätten sie sich heftig gestritten.

    »Hallo Nora«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch?« Sie sah mich überrascht an. »Die Überfahrt auf der Fantastic«, fügte ich hinzu. Sie wirkte überrumpelt, der Mann betrachtete mich skeptisch.

    »Fantastic?«, wiederholte er und sah Nora an, als stünde etwas Schmutziges hinter dem Wort. Sein drahtiges Haar glich einer Schuhbürste. Der Haaransatz reichte bis an die buschigen Brauen, und der Bartwuchs klebte wie ein Pelz auf seinem kantigen Gesicht und verlieh ihm einen dunklen Schatten.

    »Ah, hallo«, murmelte sie endlich und versuchte freundlich zu sein. In ihrem Gehirn arbeitete es verbissen, als suchte sie einen Notausgang. »Was schaust du mich so an?«, fuhr sie den Mann an, der sie missbilligend taxierte.

    »Fantastic war der Name des Schiffes«, sagte ich zu ihm, um die Situation ein wenig zu entschärfen. »Wir waren auf demselben Schiff. Die Überfahrt von Barcelona nach Tanger.«

    »Ihr wart zusammen auf dem Schiff?«, fragte er empört.

    »Ishem, verdammt«, sagte sie, »es ist normal, dass man auf einer fünfundzwanzigstündigen Schifffahrt mit dem einen oder anderen Menschen spricht. Auf jeden Fall für eine europäische Frau.«

    Wie Tage zuvor auf der Überfahrt wirkte sie erschöpft und nervlich angeschlagen. Ihre Haut war blutlos, trocken, beinahe durchsichtig.

    »Gehen wir, ich bin hungrig!«, sagte er mürrisch und wandte sich dem Ausgang zu.

    »Tschüss«, sagte ich, und Nora erwiderte es trocken und folgte ihm.

    Von nun an erwartete ich jeden Moment, dass wir uns erneut über den Weg liefen. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden. Ich saß im Café unter den Pfefferbäumen bei einem Thé à la Menthe und betrachtete das Leben um mich herum. Mein Augenmerk folgte einem kleinen Mann in weißem Kittel, der einen Handwagen über die Straße stieß, überladen mit Eierkartons. Es waren wohl an die dreihundert Eier auf fünf Stockwerken. Als er den Wagen vorsichtig über den Randstein fuhr, kippte er zur Seite. Die oberen Eierschachteln rutschten weg und fielen zu Boden. Der Mann machte ein bestürztes Gesicht und schlug die Hände an die Backen. Das Pflaster war verschmiert mit schleimigem Eigelb, darin verklebt hundert zerbrochene Eierschalen. Sofort waren andere Männer zur Stelle, klopften ihm Mut machend auf die Schulter und halfen ihm, die Schachteln neu aufzuschichten und mit den noch heilen Eiern wiederaufzufüllen. Ein Bettler trat an meinen Tisch und hielt mir die Hand hin, schlank mit feingliedrigen Fingern, die Haut ledrig, die gelblichen Fingernägel wie Krallen. Sein gebräuntes Runzelgesicht besaß etwas Feines, Sensibles, ebenso seine dunklen sanften Augen. Auch seine Kleider hatten nichts von einem Bettler, ein paar braune Stoffhosen, ein heller Wollpulli, darunter ein Hemd. Seine Beine waren leicht verkrüppelt, die Füße nach innen gebogen, sein Gang schleppend. An den Schuhen erkannte man seinen Status, uralte ausgetragene Adiletten, darin vor Dreck stehende Füße. Ich drückte ihm einen Dirham in die Hand. Ohne Blickkontakt murmelte er etwas in seinen Bart und humpelte weiter. Ich sah ihm nach, versunken in Mutmaßungen über ihn. Im Hintergrund tauchte plötzlich etwas Rotes auf. Es war Noras Windjacke. Neben ihr ging der Berber in dem hellgrauen Anzug, im Gesicht eine Spiegelsonnenbrille, sein Gang stolz und zielgerichtet. Die beiden strahlten etwas Spezielles, Kraftvolles, Leidenschaftliches aus. Sie waren anders, stachen heraus, besaßen Charakter. Es war ein Pärchen, nach dem man sich umdrehte. Was für ein Gegensatz zu dem Bettler, der mich eben noch aufgewühlt hatte. Nora deutete auf die Pharmacie Populaire unter den Arkaden gegenüber und überquerte die Straße, während Ishem aufs Café zusteuerte. Die meisten Tische waren besetzt, und so erkannte er mich erst auf den zweiten Blick, erst als er am Tischchen neben mir saß. Und irgendwie schien er verblüfft darüber. Er zog die Brille ab.

    »Ah, der Mann vom Schiff«, sagte er bemüht gutgelaunt. »Na, Gefallen gefunden an Sidi Ifni? Ruhig hier, nicht?« Sein Deutsch war fehlerfrei, jedoch mit einem starken Akzent durchzogen. Ich nickte, ja, es sei schön hier. Er wich aus, sah zu der Apotheke hinüber, machte sich eine Zigarette an, hielt nach dem Garçon Ausschau, bestellte zwei café noir. Obwohl er auf gute Laune machte, war es offensichtlich, dass er angespannt war. Er sah sich unruhig um, als hoffte er, einen alten Bekannten zu sehen oder von einem solchen entdeckt zu werden. Nora kam lange nicht zurück. Ishem klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch.

    »Bist du im Urlaub hier?«, fragte er mich plötzlich.

    Ich erklärte ihm, dass es eine Art Mischform sei zwischen Urlaub und Arbeit. »Ich bin auf der Suche nach Inspiration.«

    »Aha, Inspiration«, sagte er. »Künstler?«

    »Ich möchte ein Buch schreiben. Einen Roman. Oder einen Reisebericht. Vielleicht eine Mischform.«

    »Du bist Schriftsteller?«, fragte er mit großen Augen.

    Ich bejahte und fügte an, dass ich auch Musiker sei und dass ich hoffte, ein paar lokale Musiker kennen zu lernen.

    »Musiker?«, wiederholte er bewundernd und musterte mich, als versuchte er mich mit neuen Augen zu sehen. Aber sofort wich er aus, und sein Blick wanderte unstetig in der Gegend herum. Und ohne mich anzusehen, sagte er: »Und jetzt horchst du die Leute aus, damit du was zu schreiben hast?«

    Ich lachte und fügte an, dass ich allgemein Geschichten und Menschen möge. Jeder Mensch trage eine Geschichte in sich.

    »Und du denkst, du kannst über all dies hier schreiben?« Er machte eine ausholende Bewegung mit der Hand. »Über die Menschen hier? Über uns? Die fremde Kultur? Glaubst du, du wirst etwas davon verstehen?«

    »Das wird sich herausstellen.«

    »Und weshalb kommst du zu uns und schreibst nicht über die Welt bei dir zu Hause? Ist es da zu langweilig?«

    »Vielleicht«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Und damit war das Gespräch zu Ende. Als die Stille unangenehm wurde, begann ich ihn über Sidi Ifni auszufragen, beispielsweise woher der Name kommt.

    »Sidi ist die Anrede oder der Titel eines Herrn«, erklärte er, »und Ifni war ein Heiliger, der einst hierher kam, vor Jahrhunderten. Sidi Ali Ifni. Er stammte ursprünglich aus Tunesien. Er blieb vermutlich hier, weil es Wasser gab, vielleicht auch weil er am Ende seiner Reise angelangt war, weil er alt war. Er ist auf dem Friedhof am Ende des Strandes begraben.« Ishem verstummte und stierte stirnrunzelnd zu Boden, als grübelte er über etwas Schwerwiegendes nach. Plötzlich musterte er mich eindringlich: »Bist du verheiratet?«

    »Ich war es«, sagte ich etwas verblüfft über den plötzlichen Richtungswechsel.

    »Geschieden?«

    »Ja, vor einem Jahr.«

    »Aha.« Wieder lag sein Blick im Nirgendwo. Dann sagte er: »Und wer hat wen verlassen, wenn man fragen darf?«

    »Schwierig zu sagen. Es lief sich einfach tot. Und dann war die Trennung wie eine gegenseitige Vereinbarung.« Ishem sagte nichts mehr dazu. Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Also begann ich ihm Fragen zu stellen, und er schien froh darüber und antwortete bereitwillig. Er war in Sidi Ifni aufgewachsen, lebte aber seit vier Jahren in Zürich. Er lobte die Schweiz über Gebühr und sprach abschätzig über sein eigenes Land. Er war stolz auf seinen dreijährigen Sohn Younes, der leider in Zürich bei den Großeltern bleiben musste. Mit diesem Satz verfinsterte sich seine Miene auf einen Schlag, und als wollte er dies verbergen, sagte er mit bemüht gefühlvoller Stimme: »Die Grippe hat ihn erwischt. Und weißt du, Reise, Kind, Flugzeug, nicht gut bei Grippe.« Er wandte sein Gesicht ab, als versuchte er Kummer zu verbergen. »Und du?«, fragte er mit neuer Stimme, »kannst du von der Kunst denn leben?«

    Ich antwortete, ich sei Millionär. Er sah mich verdattert an. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber ich bin auch nicht am Verhungern. Es geht mir gut. Und ich komme mit sehr wenig aus.«

    »Ich kenne jeden Musiker hier in der Stadt«, sagte Ishem. »Hängen immer bei uns zu Hause rum, fast jeden Abend eine Jam Session. Weißt du, wir haben ein Haus, oben in Boulalaam.« Er deutete nach links zu dem östlichen Stadtteil, der sanft gegen den Hügel mit den Antennen anstieg. Er nannte mir Straße und Nummer, ich solle einfach spontan reinschauen, falls ich mal da oben sei. »Open House«, sagte er großzügig. »Ach was! Komm doch gleich heute Abend! Wir essen was, feiern ein bisschen. Na? Nora kennst du ja schon, nicht wahr?«

    »Gerne«, sagte ich und lächelte verhalten. Seine aufgesetzte Fröhlichkeit und sein unstetes Gemüt wirkten beunruhigend auf mich. Und doch, er besaß eine einnehmende, großzügige und charismatische Seite, aber irgendwie schien sie von einem Schatten bedeckt. Dieser Schatten strömte unterschwellig etwas Hungriges, Verzweifeltes aus. Und es schien ihm wichtig, vom Gegenüber anerkannt zu werden. Er hungerte nach Zuneigung und Bestätigung. Er war wie Nora gebildet, reflektiert, sensibel und mit einer angeborenen Intelligenz ausgestattet. Ich sah es nicht nur in der Ausdrucksweise, sondern noch mehr im Blick und in der Gabe, das Gegenüber zu lesen, zu erfühlen. Plötzlich begann er voller Begeisterung von dem Restaurant zu erzählen, das er in Zürich eröffnen wolle, eine Art Club. Da müsse ich unbedingt mal vorbei kommen und spielen. Mitten in seinen Worten kam Nora zurück. Offensichtlich erfreute es sie wenig, mich und Ishem an einem Tisch sitzen zu sehen. Ich sagte hallo, sie gab es fade zurück und setzte sich neben Ishem.

    »Der coolste Club von Zürich«, sagte Ishem zu Nora, »nicht wahr? Wird es nicht der coolste Club von Zürich?« Sie nickte mit einer Miene, als hätte sie dieses Thema über. Sie setzte die Sonnenbrille auf und blickte zur Seite. An ihren Ohren hingen hübsche silbrige Spiralen, das uralte Symbol der Berberkultur, das Symbol für die ewige Harmonie. Ishem warf mir einen komplizenhaften Blick zu und zuckte mit der Schulter, als wollte er sagen: Diese Frauen! Dann tat sich betretene Stille auf. Plötzlich sagte er mit neuem Mumm: »Nora, der Typ hier ist Musiker. Ich hab ihn für heute Abend eingeladen, wir feiern ein bisschen. Badr, Tarek und Alain werden sowieso da sein. Wir essen was Hübsches und machen ’ne kleine Jam Session. Weißt du was? Ruf doch Pierette an, machen wir eine Paëlla!« Und zu mir: »Magst du Paëlla?«

    »Ich liebe Paëlla«, sagte ich aufrichtig.

    »Mann, Nora«, maulte Ishem, »wieso sagst du nichts? Wieso hast du die ganze Zeit diese saure Miene auf?«

    Sie ignorierte ihn. Ihr Blick zielte über die Straße auf das ausgediente Flugfeld, das sich gegen Süden ausbreitete.

    »Passt dir was nicht?«, fragte er. »Hast du wieder mal was gegen meine Freunde? Oder hast du was gegen ihn?« Er deutete mit dem Daumen auf mich. »Oder hast du vielleicht was mit ihm?«

    Sie entließ einen entnervten Seufzer der Ungeduld: »Ishem, bitte!« Ihr dünner Mund bewegte sich kaum, als wäre er zu müde zum Sprechen.

    Ishem schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich wieder an mich: »Ich sage immer: Freunde sind das A und O des Lebens. Ohne Freunde kannst du einpacken. Hast du Cicero gelesen, seinen Aufsatz über die Freundschaft? Sollte man allen einbläuen. Vor allem ihr.« Nun deutete er mit dem Daumen auf Nora.

    »Kluge Worte und wenig Action«, murmelte Nora.

    »Action beginnt mit klugen Gedanken und klugen Worten«, konterte Ishem. »Das ist die richtige Einstellung. Da beginnt bei dir schon der Mangel. Du bist der geborene Pessimist, alles ist negativ, ein positiver Gedanke wird gleich mit einem Nein oder einem Aber quittiert.«

    »Blablabla«, murmelte Nora und sah beleidigt weg.

    »Ja, blablabla«, wiederholte Ishem, »dein Lieblingssatz.«

    Ich rief den Garçon, deutete auf alle drei Getränke und streckte ihm eine Note hin. Ishem fuhr mit großer Geste dazwischen und verkündete, das gehe selbstverständlich auf seine Rechnung. Er zog ein Geldbündel hervor und gab dem Garçon eine Note, der Rest sei für ihn. Der Garçon strahlte. Ich bedankte mich bei Ishem, erhob mich und sagte tschüss. Nora schaffte es knapp, den Gruß zu erwidern, schlaff und abwesend.

    »Also bis heute Abend«, rief Ishem mir nach.

    Gegen acht schritt ich mit meiner Gitarre hoch nach Boulalaam durch den allabendlichen Menschenstrom. In farbige Kleider eingepackte alte Frauen hockten auf dem Boden und boten Kräuter und Wurzeln feil, dahinter eine Parfümerie, daneben eine Wäscherei, ein Imbissladen, ein Haushaltswarengeschäft, ein Eisenwarenhandel, ein Hühnerladen, wo beißender Geruch herausströmte. Stimmen, Rufe, Geplauder, Lachen. Auf den Treppenabsätzen saßen beobachtende Greise in einfachen Gewändern, aber mit würdigen Gesichtern, hier und dort stand eine Gruppe von Frauen und hielt ein fröhliches Palaver, Halbwüchsige schlenderten auf und ab und schielten nach den Mädchen. Ein mit einem schmutzigen blauen Kaftan bekleideter Mann steuerte mit irrem Grinsen und ausgestrecktem Arm auf mich zu und drückte mir die Hand. Zwei stechend schwarze Augen, ein spitzes Kinn mit Bärtchen, mitten drin eine Papageinase, deren Spitze die Oberlippe berührte. Ich wich aus und bog in eine Seitenstraße ein. Auf der einen Seite hing das alte Straßenschild aus der spanischen Zeit: Calle Teniente Ortiz de Zarate, auf der anderen das moderne: Rue Kenitra. Die hatte mir Ishem angegeben, ebenso Noras blauen VW-Bus, der vor dem Haus stand und mir als Erkennungszeichen dienen sollte. Von da führte ein Sackgässchen zwischen bröckelnden rosa Lehmwänden hindurch zu einer zugespitzten blauen Holztür. Die Klingel tönte wie ein Vogelzwitschern. Die Tür ging auf, Nora stand da, streckte mir mit einem höflichen Lächeln die Hand hin, stand zur Seite und bat mich einzutreten. Sie trug einen schwarzen Sweater, Bluejeans und eine grüne Schürze. Die nackten schneeweißen Füße staken in rosa Flipflops. Ihr Gesicht trug ein wenig Farbe, ihre Augen leuchteten, sie wirkte energischer als ein paar Stunden zuvor. Das Haus war im traditionellen Stil gebaut: ein offener Patio, umgeben von rosaroten Lehmmauern, hinter denen sich die Wohnräume und die Küche befanden. Nora entschuldigte sich, sie müsse zurück in die Küche, die Paëlla sei auf dem Herd. Sie verwies mich auf einen Raum, vor dessen Eingang etliche Schuhpaare lagen, Babouches, Turnschuhe, Lederschlappen. Männerstimmen dröhnten heraus, Marokkanisch, Französisch, untermalt mit verhaltenen Gitarrenklängen. Ich zog die Schuhe aus und trat ein. Ein halbes Dutzend Männer sowie eine Frau saßen auf den typischen Sofamatratzen, die sich entlang von drei Wänden zogen, angelehnt an verzierte Stoffkissen. Alle sahen hoch und begrüßten mich einladend. Der schmale Raum war warm und liebevoll eingerichtet, farbige Lampenschirme, weinrote Berberteppiche, an die Wand gehängte traditionelle Musikinstrumente, kleine Nippsachen, eine Stereoanlage, ein Bücherregal voller deutscher, arabischer und französischer Bücher. Obwohl die Tür und das Fenster zum Patio hin offen standen, herrschte dicker Zigarettenqualm vor, gewürzt mit Haschischdämpfen. Auf dem niedrigen Tisch standen Gläser, Wasserkaraffen, Aschenbecher, Zigaretten, Schälchen mit Oliven, Datteln, Mandeln, Rosinen sowie eine angebrochene Rotweinflasche. Ishem, der gerade dabei war, einen Joint zu drehen, erhob sich. Den Anzug hatte er abgelegt, nun trug er einen blauen Trainingsanzug und war barfuß.

    »Salut«, sagte er charmant lächelnd, drückte mir die Hand und stellte mich vor in einer Weise, als wären wir schon seit langem die besten Freunde. Ich begrüßte jeden mit einem Händedruck. Badr, ein junger ausgemergelter Berber mit hoch stehendem Haarbusch und einem Herzenslächeln, aber halb verfaulten Zähnen und wässrig roten Augen, teilte mir sofort mit, dass er Bass spiele und eigene Songs habe, die ich mir unbedingt mal anhören müsse. Die beiden Franzosen Alain und Yves begrüßten mich cool, aber freundlich. Yves sagte, er spiele ebenfalls Gitarre, dazu auch Banjo und Mandoline. Neben ihm saß Chafida, seine Frau, eine hübsche dunkelhäutige Berberin mit tiefen schwarzen Augen, aus denen ein neugieriger, selbstsicherer Blick strömte. Dann gab es Mbark, ein arabischer Hüne, der beste Djembé-Spieler, wie Ishem laut verkündete. Jener verließ uns aber einer Verabredung wegen noch vor dem Essen. Zu guter Letzt begrüßte ich Tarek, einen stillen, hellgesichtigen Berber mit einem sensiblen, beobachtenden Blick und einer würdevollen Ausstrahlung. Ich mochte ihn auf Anhieb. Ishem bat mich Platz zu nehmen und mich wie zu Hause zu fühlen. Ich setzte mich neben Tarek. Wir kamen sofort ins Gespräch, auch wenn sein Französisch holprig war. Er war ein multiinstrumentaler Musiker: Schlagzeuger, Gitarrist, Bassist, Perkussionist, Sänger. Auf der Tischplatte demonstrierte er mit den Händen die Vielfalt der marokkanischen Rhythmen. Er erzählte, schon als Dreijähriger hätte er ständig mit den Löffeln auf dem Tisch herum getrommelt, einfach aus einem inneren Antrieb heraus. Als er sechs war, bastelte er sich aus Konservendosen, Kisten und Kübeln ein Schlagzeug, und mit zwölf spielte er in einer lokalen Band und galt als der beste Schlagzeuger in der Gegend. Er hatte sich das Spielen selbst beigebracht. So wie alle anderen Instrumente auch. Nie hatte er ein eigenes Instrument besessen, aber wenn irgendwo welche herumstanden, griff er zu, schaute den andern ab, kopierte, lernte, begriff schnell. Ishem schenkte mir Rotwein ein und schob die Snacks in meine Nähe. Er war ein aufmerksamer Gastgeber, seine Augen waren überall, stets um das Wohl der Gäste besorgt. Hörte er einer Person zu, war sein Ohr gleichzeitig bei einem anderen Gespräch. Ich lobte ihn für das hübsche Haus. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

    »Du hättest es vorher sehen sollen«, sagte er. »Eine totale Ruine. Haben wir alles selbst gemacht. Dank Alain. Ohne Alain wären wir aufgeschmissen gewesen. Alain ist ein Baugenie.«

    Alains dünner Mund lächelte, und gleichzeitig strich er mit der Zunge über ein Blättchen und rollte einen Joint ein. Er teilte mir etwas mit, doch sein slangartiges Französisch war unverständlich. Er sprach, als hätte er keine Zunge. Ich erhob mich und fragte Ishem nach der Toilette. Im Patio atmete ich tief durch. Der Qualm im Raum war unerträglich. Alle außer Yves, Chafida und Tarek rauchten. Aus der Küche hingegen trat der köstliche Duft von gekochten Meeresfrüchten und Safran. Ich folgte ihm. Nora, ein Glas Weißwein in der Hand, rief erfreut hallo, gab sich aber postwendend wieder reserviert, als bereute sie den kleinen Ausbruch, als versuchte sie mich auf Distanz zu halten. Dabei schien sie sich zuvor gerade amüsiert zu haben, das Lächeln hing ihr noch am Mundwinkel. Sie stellte mich Pierette vor, einer braungebrannten Belgierin, klein gewachsen, grazil, mit einem Sonnengesicht und gewelltem Kastanienhaar, das ihr tief in den Rücken fiel. Sie begrüßte mich warm und herzlich mit zwei innigen Küsse und strahlte mich an. Man hätte sie eher in Spanien als in Belgien angesiedelt. Sie holte sofort ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Weißwein und reichte es mir. Ihre Schokoladenaugen strahlten. Wir stießen an. Nora nahm einen schnellen Schluck und wandte sich ab zum Herd, wo die Paëlla köchelte.

    »Schmeckt gut, der Wein«, sagte ich zu Pierette.

    »Marokkanischer Weißwein«, erwiderte sie. »Würde man nicht denken, was sie hier an Wein zustande kriegen, nicht wahr?«

    Ich deutete auf den Nebenraum und drückte mein Erstaunen über den Alkoholkonsum aus, hätte ich doch eher das Gegenteil erwartet in einem islamischen Land.

    »Geh mal in eine der drei Bars, die wir hier haben«, sagte Nora über die Schulter hinweg, »dann wirst du staunen, wie viel vom Islam

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