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Mord Alaaf: Mord in Bonn
Mord Alaaf: Mord in Bonn
Mord Alaaf: Mord in Bonn
Ebook273 pages3 hours

Mord Alaaf: Mord in Bonn

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Kurz vor Karneval findet man ihn halbtot auf seinem Schrotthaufen: Karl-Heinz Tibold, eine Institution im bönnschen Karneval. Der ermittelnde Kommissar bekommt bei der Aufklärung ungewollte Hilfe aus Karnevalskreisen, die mehr zu Tage bringt als nur zahlreiche Verdächtige - angefangen bei dubiosen Maskenmännern über wilde Ritte beim Seepferdchenrennen bis hin zu rasanten Verfolgungen im Skater-Park. Offenbar hatten doch viele einen Grund, Karl-Heinz den ewigen Aschermittwoch zu wünschen. Auch seine Tollität, der Prinz, gerät unter Verdacht. Die Jagd nach dem Mörder führt mitten ins Treiben des bönnschen Straßenkarnevals. Es gilt, einen weiteren Skandal im Fastelovend um jeden Preis zu verhindern. Denn was ist ernster als der Karneval?
LanguageDeutsch
Release dateMar 19, 2019
ISBN9783960583158
Mord Alaaf: Mord in Bonn

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    Mord Alaaf - Rainer Moll

    Weiberfastnacht

    Von Chefs, die da im Blech rumliegen

    Es war der Montag vor Weiberfastnacht, vor der Weiberfastnacht, an der sich der Todestag von Kai Dahms Vater zum zweiten Mal jähren würde. Daher war Kais Stimmung an diesem Montag ohnehin schon getrübt, als er sich seiner Arbeitsstätte, dem Schrotthof von Karl-Heinz Tibold, näherte, bei dem er als studentische Kraft aushalf. Ja, es war fast genau zwei Jahre her, dass sein Vater gestorben war. Kai hatte gelitten, konnte nicht ohne Tränen zum Grab. Die Vorstellung, dass sein geliebter Vater da unten lag… Und so wenig er sich bisher auch mit dem Glauben an Auferstehung beschäftigt hatte, so sehr war die Vorstellung heute ein Trost für ihn. Er sah heute nicht nur das Grab seines Vaters, sondern auch die Gräber vieler anderer Verstorbener. Seine Mutter, Josi, wurde immer wehmütig, wenn sie gemeinsam zum Friedhof gingen, denn sie fand dort viele Bekannte begraben, mit denen sie die Ehre gehabt hatte, das ein oder andere Bier zu trinken. So erschreckend es für sie auch sein musste, mehr Bekannte auf dem Friedhof zu treffen als in so mancher Kneipe, so sehr amüsierte und tröstete ihn doch die Vorstellung, die er mit ihr teilte, dass sie jetzt alle zusammen im Himmel an der Theke säßen. Ob es im Himmel auch schon mal Freibier gab wie beim Tünn?

    Und so gelang es Kai immer besser, seinen Frieden mit der Situation zu machen. Immerhin hallte die Stimme seines Vaters noch in seinem Ohr, die ihm stets zuflüsterte, dass er immer da sein und ihn unterstützen würde. Das Bizarre daran war, dass er nicht nur den Klang seiner Stimme im Ohr hatte, sondern dass auch in seinem Vokabular alte Redewendungen seines Vaters auftauchten, die dann, ob zu passender oder unpassender Zeit, aus ihm herausgeschossen kamen, als seien es seine eigenen. Sozusagen ein Pfingstfest der Sprache. Er trug die alte Lederjacke seines Vaters auf, bis seine Arbeitskollegen ihn darauf hinwiesen, dass sie weder modisch war noch seiner Konfektionsgröße entsprach. Aber er wollte ihn einfach bei sich fühlen. Wenn er bei Besprechungen Sätze fallen ließ, die weder der Situation noch seinem Duktus entsprachen, so rettete er die still auftretende Peinlichkeit, indem er flott ein „Das hätte mein Vater so gesagt" hinzufügte. So blieb sein Vater ein Teil von ihm. Abschied musste man nehmen, hieß es immer. Der Tod kam, aber man musste ihn ja nicht einfach so als gottgegeben hinnehmen! Vielleicht war das alles ja doch pathologisch und er sollte sich Hilfe suchen. Aber vorerst reichten einfache Maßnahmen. Er wollte früh am Morgen anfangen, sich abzulenken, frei nach dem kölschen Motto: Fang fröher aan, dann bis de fröher fädich!

    Gerade wollte er am Eingangstor der Firma Schrottibo wie üblich die Alarmanlage ausstellen, als er bemerkte, dass der Schlüsselschalter etwas im Schloss hakte. Seltsam, die Alarmanlage war anscheinend nicht aktiviert. Also schob er kurzerhand das kleine Tor neben der großen Hofeinfahrt auf und ging in Richtung seines Büros, wobei er beiläufig wahrnahm, dass die Fenster des anliegenden Wohnhauses allesamt geöffnet waren. Er bemerkte einen widerlichen Geruch von Erbrochenem oder etwas ähnlich Ekelhaftem. Am Tag zuvor hatte sein Chef, Karl-Heinz Tibold, mit einigen anderen dort gefeiert.

    Die haben es aber noch krachen lassen, dachte er sich und wollte gerade seine Bürotür aufschließen, als seine Instinkte ihn aufhorchen ließen. Hier stimmte etwas nicht. Die Bewegungsmelder außen hatten eben nicht angeschlagen – und die sollten auch funktionieren, wenn die Alarmanlage deaktiviert war. Stattdessen war es immer noch gespenstisch dunkel auf dem Hof. Normalerweise reichte das einfallende Licht, um den Weg zum Büro zu finden, die Türe zu öffnen und dann dort die Beleuchtung einzuschalten. Jetzt nicht. Innen glomm nur schwach die Notbeleuchtung. So schaltete Kai die Flur- und Außenbeleuchtung ein und schaute zurück auf den Hof. Abgesehen von der deaktivierten Alarmanlage, der fehlenden Beleuchtung und dem Geruch war noch etwas anders. Ihm wurde immer mulmiger zumute. Er ging vorsichtig zurück und blickte zum großen Eingangstor. Da fehlte doch etwas! Die riesigen Kupfermasken und die Narrenkappe aus Kupfer, die vorher das Tor geziert hatten, waren verschwunden! Diese seltenen Schmuckstücke waren Karl-Heinz’ großer Stolz gewesen und für ihn von ähnlicher Bedeutung wie der Goldbär für Haribo, der Beethovenkopf für Bonn oder der Knöles als Maskottchen für die Stadtsoldaten. Dabei hatte er diese Statussymbole auf eher unlautere Weise an sich gebracht: Sie waren die „Beute aus einer „feindlichen Übernahme. Weniger vornehm ausgedrückt hätte man sie auch als Diebesgut bezeichnen können, denn der Verein der Hunnennarrenzunft aus dem Elsass hatte diese Wahrzeichen nie für den Transport nach Bonn freigegeben. Der Verein aus dem Elsass hatte sich vor zwei Jahren wegen eines Skandals um diese Wahrzeichen und das nur geringfügig verunreinigte Kupfer, welches Karl-Heinz ihm zur Anfertigung derselben geliefert hatte, intern verkracht. Diese kleine Reklamation hatte Herr Tibold auf dem kurzen Dienstweg bearbeitet und die von den Elsässern kunstgerecht aus seinem Kupfer gefertigten Teile kurzerhand auf einen LKW geladen und nach Bonn zurückgebracht. Dass dies bei Nacht und Nebel geschehen war – ohne Absprache – war in seinen Augen nicht weiter zu beanstanden, sondern schlicht pragmatisch. Die hatten das Kupfer schließlich ehrenamtlich verarbeitet, also quasi keine Kosten gehabt. Und da man das Ehrenamt sowieso nie gebührend würdigen und honorieren konnte, hatte er es auch gleich gelassen.

    Stattdessen hatte er lediglich als kleine Anerkennung seinem Freund, dem Närrischen Hunnensohn Hugo Perlut, alias Attila, der ihm in jener Nacht die Tore zum Hof der Hunnen geöffnet hatte, den einen oder anderen Urlaub in seinem Feriendomizil auf Norderney spendiert. Aber obwohl Karl-Heinz’ Gewissen damit rein war, wurde er – in seinen Augen vollkommen zu Unrecht – von den Spießer-Kollegen aus dem Elsass verklagt. Wenn man jetzt schon anfing, unter Schrotthändlern und Karnevalsfreunden Prozesse zu führen, ja, wo sollte das denn noch hinführen?

    Irgendwie ehrlicher und charmanter hatte er logischerweise die diversen Morddrohungen gegen ihn und seine Familie gefunden, für den Fall, dass diese Erkennungsmerkmale der Hunnenzunft nicht zurückgegeben würden. Er an deren Stelle hätte die Dinger ja einfach wieder per LKW ins Elsass zurückgeholt, hatte er mehrmals geprahlt. Aber „dofür han die keen Eier, de Froschfresser", so seine Meinung.

    Na ja, vielleicht war genau das jetzt geschehen, dachte sich Kai. Denn am Uhrkettchen hätte wohl niemand die drei Meter hohen und vier Meter breiten Insignien der hunnischen Karnevalsmacht wegtragen können. Er blickte auf den Bagger, der neben dem großen Tor im Dunkeln stand. Was mochte hier heute Nacht vonstattengegangen sein? Kai traute sich kaum in sein Büro, wagte sich aber schließlich doch zur Tür und stellte fest, dass auch diese unverschlossen war. Wieder war nur die Notbeleuchtung an, da der Timer die Beleuchtung des Flures erneut unterbrochen hatte. Alles war fast stockfinster. Selbst das heilige Aquarium war unbeleuchtet. Sehr merkwürdig. Wieder stieg dieses mulmige Gefühl in Kai auf. Er ging wieder nach draußen, blickte auf das Wohnhaus des Chefs und fand auch das unbeleuchtet. Normalerweise saß sein Chef zu dieser Zeit in der Küche beim Kaffee und studierte die Börsennachrichten. Wo war der denn wohl schon um diese Zeit? Sein Auto, der quietschgelbe Hummer, war weg – er musste also unterwegs zu einem Auswärtstermin sein. Kai schüttelte den Kopf. Sein Chef mochte ein guter Geschäftsmann sein, aber so diszipliniert hatte er ihn bislang nicht erlebt. Er ging wieder ins Büro, tastete sich mit seiner Taschenlampen-App in Richtung Stromkasten vor und fand alle Sicherungen herausgedreht. Das konnte doch alles kein Zufall sein!

    Durch einen beherzten Griff zum FI-Schalter ließ er endlich die Lichter aufflackern – und ihm wurde ganz anders: Auf dem Boden des Flurs sah er eine Spur aus roter Flüssigkeit, die von seiner Bürotür bis zur Toilette führte. Blut? Nein, komm runter, Kai, sagte er sich. Es gab doch sicher eine bessere Erklärung. Er war ja schließlich nur auf dem Tiboldschen Schrottplatz und nicht an einem Tatort. Das feine rote Rinnsal stammte sicherlich eher von einer vergossenen Bloody Mary.

    Schwamm drüber, dachte er sich, holte den feuchten Feudel aus dem Bad und wischte kurz über die Spur. Er versuchte, nicht an der Flüssigkeit zu riechen, zumal der Geruch nach Erbrochenem so penetrant war. Puh, was für Feten dieser Kegelclub der Ex-Prinzen feierte! Die hießen wohl zu Recht die „Bönnsche Sprittköpp Funke. Trotzdem hielten die normalerweise ihre Gelage nicht allzu lange ab, und noch nie hatte er einen sich übergeben sehen. Dann doch eher ein Pferd vor der Apotheke. Normalerweise hielten sie nicht allzu lange durch, weil irgendwann am Abend – meist gegen elf – der Prinzenclubführer meinte, das Handtuch werfen und abdanken zu müssen. Er warf dann die Prinzenclubführerspange in den Raum, abwartend, ob sich jemand anderer der Aufgabe stellen würde, und steckte sich dann wieder aus dem 200-Stück-Beutel eine neue an, um sich als wiedergewählt zu betrachten. Da sie dieses Ritual seit Jahren einstudiert hatten und Kai nicht daran zweifelte, dass es auch gestern so gewesen war, musste der Abend wie üblich früh beendet gewesen sein. Die Ex-Bonnas machten das anders, wie er erfahren hatte. Sie wählten immer mal wieder, wenn ihnen gerade danach war, per Akklamation. Und warteten dann darauf, dass ihre frisch wiedergewählte und seit Jahren amtierende Präsidentin wenig überraschend unter tosendem Applaus das Amt stets mit den Worten annahm: „Das ist der schönste Tag in meinem Leben. Schön, dass wir uns kennen. Und so war die nächste Amtszeit beschlossen. Da hatten sie schon mehr Stil als die Herrenrunde der Ex-Prinzen. Prinzenketten hatten sie in ihrer Amtszeit alle tragen können. Aber nach ihrer Session als Präsident des Prinzenclubs über Ex-Prinzen zu regieren, war eine derart schwere Verantwortung, dass sie sie neuerdings auf mehrere Schultern verteilt hatten: ein närrisches Triumvirat.

    Die Bonnas hatten dafür andere Eigenarten. Sie stimmten nach der triumphalen Wiedereinsetzung ihrer alten und neuen Präsidentin immer das Bonnalied an, was manchem zufällig anwesenden Gast die Farbe aus dem Gesicht trieb und einige Ex-Bonnas vor Peinlichkeit unter den Tisch rutschen ließ. Wegen dieser gesanglichen Missgeschicke (die einen Beethoven nicht nur noch tauber, sondern auch schweigsam hätten werden lassen) und ihres ansteckenden und lauten Lachens nannte man sie gerne auch mal die „Tinnitussis".

    Kais Gedanken kamen zurück ins Hier und Jetzt: Zurück zu Karl-Heinz’ Abenden. Wenig getrunken wurde dabei natürlich nicht. Sie bestellten, um die kurze Zeit optimal zu nutzen, achtfachen Wodka. Jetzt dachte Kai wieder an die vermeintliche Blutspur von eben. Die tranken doch normalerweise nur Wodka oder Bier, aber doch keine Bloody Mary. Der Tomatensaft darin hätte bei manchen von denen ebenso wie die Zitrone im Wodka sicher zu einem Vitaminschock geführt. Hatte er einen Fehler gemacht, als er die Spur eben weggefeudelt hatte? Ihm wurde klar, dass er noch für Stunden allein im Büro sein würde, ehe die Kollegen vom Hof und die Damen für die Kasse kämen. Wegen seines Studiums hatte der Chef ihm besondere Arbeitszeiten eingeräumt. Und weil er bei seinen Treffen so manches Mal auf Kais Dienste angewiesen war. So wie gestern… Den Chef anzurufen, traute er sich nicht. Die Chefin würde bestimmt schlafen. Die Polizei zu rufen, erschien ihm ebenfalls unangemessen. Wegen Diebstahls von Diebesgut? Roten Farbspuren? Schlechtem Geruch nach einem Saufgelage?

    Aus einer merkwürdigen Intuition heraus beschloss er, noch einmal an die Toreinfahrt zu gehen. Um den Rest im Büro könnte sich die Putzkolonne später kümmern. Auch den Bagger fand er unverschlossen vor. Die neuen Baggerfahrer waren doch eigentlich immer sehr aufmerksam und korrekt. Der Chef hatte ihnen außerdem die Anweisung gegeben, alle Fahrzeuge nach Feierabend auf der Waschplatte mit Ölabscheider verschlossen, getankt und gereinigt abzustellen. Kai wurde es wieder mulmig in der Magengegend. Da hörte er etwas. Unheimlich. Wie immer, wenn ihm etwas nicht geheuer war, begann er unwillkürlich zu reimen: Der Wind, der Wind – das unheimliche Kind? Jetzt hör mit dem Reim-Scheiß auf, schalt er sich. Er meinte, ein leises Stöhnen von der anderen Seite des Baggers zu vernehmen und eilte los. Da lag jemand! Im Schatten erkannte er eine offensichtlich hilflose Gestalt inmitten eines Blechhaufens. Er riss die Augen auf: Sein Chef! Karl-Heinz Tibold. Oh, bitte nicht, sagte er sich, nicht so ein Déjà-vu. Nicht wieder ein Toter, so wie letztes Mal, lieber Gott. Schließlich war er es gewesen, der seinen Vater damals tot aufgefunden hatte. Zunächst stand er völlig unbewegt da. Schockgefroren. Da hörte er wieder das leise Stöhnen. Karl-Heinz lebte!

    Kai, nimm dich zusammen, sagte er sich. Er wird eine geile Party gefeiert haben und verträgt mittlerweile vielleicht nicht mehr so viel wie früher. Er überlegte, wie er den Chef unauffällig aus dieser peinlichen Situation befreien könnte, ohne den Notarzt oder seine Frau zu rufen, musste sich aber zunächst vergewissern, dass Karl-Heinz nicht doch etwas Schlimmeres widerfahren war. Wieder begann er unwillkürlich zu reimen:

    Chefs, die da im Blech rumliegen,

    schnell eine Erkältung kriegen,

    vom Geist des Alkohols getroffen,

    vollgekotzt und stinkbesoffen.

    Es nützte alles nichts. Bevor die Kassiererinnen und die Hofarbeiter eintrudelten, sollte der Chef das Heia-Blech verlassen haben – schon allein, um ihm die Blöße zu ersparen, von Kai eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu erfahren. Kai ging so laut wie möglich zum Schrotthaufen neben Karl-Heinz’ Schlafstätte, warf einen kleinen Eisenträger auf die grüne Motorhaube eines völlig verrosteten Ford Granadas 2,6 Ghia und beobachtete aus dem Augenwinkel den Schläfer. Nichts, keine Reaktion. Oder doch? Hatte er gezuckt? Nein. So tief konnte sich doch keiner ins Glas verabschieden. Kai ging näher heran. Karl-Heinz lag aber so unglücklich, dass die helle Hofbeleuchtung durch den Bagger nicht zu ihm drang und Kai immer noch nichts von seinem Gesicht sehen konnte.

    „Chef… Hallo?! Karl-Heinz! Jemand zu Hause?"

    Puh, da war doch eine Regung. Er hielt seine Hand vor Karl-Heinz’ Mund und konnte seinen Atem spüren – immerhin. Dennoch, es war ernster, als er gedacht hatte. Vielleicht ein Infarkt? Er musste den Rettungswagen rufen. Verdammt, warum hatte er das nicht längst getan? Er griff gerade nach seinem Handy, als Karl-Heinz wider Erwarten den Mund öffnete und schwach hervorbrachte: „Rof de D oc. De Marius soll sofort kumme. Ich kann nimie."

    Mit dem Doc meinte er Marius Demeter, den ehemaligen Stabsarzt von Karl-Heinz’ Stadtsoldatencorps, der jetzt dessen Position als Kommandant innehatte und zum Glück auch noch richtiger Arzt war. Karl-Heinz war wieder stumm.

    Ach du Scheiße, schnell, der schläft länger, wenn das so weitergeht. Lebenslang! Kai rannte sofort ins Büro und rief Marius Demeter an, dessen Nummer im Notfallplan unter Betriebsarzt gelistet war und an der Wand neben dem Feuerlöscher hing.

    „Marius, der Karl-Heinz liegt im Blechhaufen und röchelt, du musst sofort kommen! Der geht hier vor die Hunde!"

    „Beruhige dich und ruf den Notarzt. Wer weiß schon, wer schneller da ist?", bekam er zur Antwort und war froh, dass ihm die klare Anweisung die Verantwortung abnahm. Er wählte die 112. Er stammelte nicht, gab die wichtigsten Daten bekannt, ohne sie aneinanderzureimen. Wie man doch funktioniert, wenn man funktionieren muss, dachte er sich. Und dann lief er los zum Privathaus und klingelte Sturm.

    „Hallo, Frau Tibold! Hallo, Notfall!", schrie er. Doch seine panischen Rufe blieben in dem riesigen Industriepark ungehört und die Palasttore öffneten sich nicht.

    „Scheiße, Scheiße, Scheiße!", fluchte er lautstark. Er rannte zurück in sein Büro und holte eine Decke aus dem Erste-Hilfe-Koffer. Dann überlegte er kurz. Erste-Hilfe-Koffer klang nicht schlecht, auch wenn er im Moment nicht wusste, was er mit dem restlichen Inhalt anfangen sollte. Völlig unbeholfen schnappte er sich daher nicht nur den Koffer, sondern auch ein Sitzkissen aus dem Sessel, um seinem Chef den Aufenthalt im Blechhaufen etwas gemütlicher zu gestalten. Wenn schon abdanken, dachte er sich, dann wenigstens gemütlich.

    Er lief zurück und traf Karl-Heinz mit schwächerem Atem als zuvor an. In die viel beschriebene Seitenlage würde er ihn auf dem Schrotthaufen kaum bringen können. Also legte er ihm einen Zipfel des Sitzkissens unter den Kopf. Von Karl-Heinz war nur noch ein leichtes Säuseln zu vernehmen. Erkannt zu haben, schien er ihn nicht. Kai meinte, aus dem Stammeln irgendetwas von Hanni, Karl-Heinz’ Frau, und viel Geld herauszuhören. Er nahm Karl-Heinz’ Hand, die etwas umklammert hielt – einen Pokerchip. Ohne nachzudenken nahm Kai den Chip und steckte ihn in seine Hosentasche, um dann wieder Karl-Heinz’ Hand zu nehmen.

    Er wusste nicht, was er weiter tun sollte, als Karl-Heinz’ Hand zu halten. Denn er hatte bereits zum dritten Mal den Erste-Hilfe-Koffer durchwühlt, ohne Verwendung für Verbandsschere, Mullbinden oder Pflaster zu finden. Zu bluten schien Karl-Heinz nicht. Also war das im Büro eben doch eher der Tomatensaft gewesen. Dann, auf einmal, bemerkte er eine Regung. Die Brust des schweren Mannes bäumte sich auf. Erneut stammelte er einige unverständliche Worte. Dann lag er wieder regungslos da.

    Der Retter in der Not

    Dr. Marius Demeter war hellwach, nachdem ihn Kai zur Hilfe gerufen hatte. Wie immer hatte er sich morgens um sechs im Pyjama in Richtung Bad begeben und auf dem Badezimmer-Fernseher auf der Toilette die ersten Morgennachrichten abgerufen. Das war natürlich nicht irgendein Fernseher. Sein gesamtes Haus war vernetzt, verdrahtet und dokumentiert. Auf seinem Bildschirm sah er nicht nur, ob seine Töchter am Abend zuvor Bierflaschen auf der Terrasse hinterlassen hatten, ob die

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