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Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten
Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten
Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten
Ebook403 pages5 hours

Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten

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About this ebook

Verlassen liegen sie da.
Niemand hat sie seit Jahren betreten.
Kein Mensch kümmert sich mehr darum.

Die Grabsteine sind verwittert, die Inschriften oft kaum mehr lesbar. Gras, Moos, einst auf den Gräbern gepflanzter Efeu, wild aufgegangene Bäumchen oder Sträucher dominieren das Bild …
Doch nicht nur diese von der Welt fast vergessenen Friedhöfe bergen die verschiedensten Geheimnisse. Auch hinter einzelnen Grabstätten stecken oft mysteriöse bis gruselige Geschichten. Und manchmal ist sogar ein verwildertes Stück Land oder ein Gebäude etwas anderes, als es zu sein scheint.

Neugierig geworden? Dann folgt uns einfach und betretet die einzelnen Friedhöfe.
Lasst euch überraschen, welche Mysterien die Geschichten jeweils aufdecken werden.

Ein gruseliges Lesevergnügen wünscht Ihnen
das Team vom Verlag der Schatten
LanguageDeutsch
Release dateOct 15, 2018
ISBN9783946381518
Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten

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    Mysteriöse Friedhöfe und Grabstätten - Anna Noah

    Anna Noah: Die Legende der weinenden Lilien

    »Bedienung, noch ein Bier!« Otto schwenkte den leeren Krug in der Luft.

    »Mach langsam, Otto, wir sitzen noch den ganzen Abend hier. Die anderen kommen auch gleich.« Sein Freund Karl nippte nachdenklich an seinem Weinglas.

    In der mickrigen Stube der Wirtschaft war ein höllischer Lärm, als wenig später Gustav, Heinrich und Ludwig eintrafen. Sie klopften auf den Tisch und setzten sich zu den beiden.

    Als alle bestellt hatten und Otto sein Bier bekam, schaute der junge Heinrich neugierig in die Runde und fragte: »Wer ist denn heute mit der gruseligen Geschichte dran?«

    »Ich.« Karl seufzte, ehe er weitersprach. »Allerdings würde ich gern abgeben an Otto, denn er hat mir vorhin erzählt, dass sein Sohn Andreas ›Die Legende der weinenden Lilien‹ …« Ein paar Gesichter an den Nachbartischen wandten sich den Freunden zu, und Karl senkte die Stimme. »… in der Bibliothek gefunden und gelesen hat. Danach ist er auf die Reise zu der besagten Villa gegangen, welche bei der Geisterstadt Trarow sein soll.«

    »Dieser dumme Junge!« Otto setzte seinen Humpen an und trank.

    Karl nahm ihm den Krug weg. »Wenn du uns noch berichten willst, was deinem Sohn widerfuhr, solltest du jetzt reden und nicht trinken

    Alle vier Augenpaare verweilten auf Otto, als in der Gaststube das Licht ausging. Energischem Stühlerücken folgten Kommentare von anderen Gästen.

    »He, was soll das?«

    »Was ist denn nun los?«

    »Kerzenschein ist doch auch nett.«

    Nach einer Weile meldete sich der Wirt zu Wort. »Entschuldigen Sie, es scheint ein kompletter Stromausfall im Ort vorzuliegen. Daher gibt es vorläufig nur noch Brotzeiten und das Licht der Kerzen.«

    Otto kramte unbeirrt einen Zettel aus seiner Hosentasche und hielt ihn nah an die Tischkerze. Seine Augen begannen die enge Schrift im schwachen Licht zu entziffern. Er räusperte sich noch einmal, bevor seine kräftige Stimme ertönte: »Lieber Vater, ich schreibe diesen Brief aus einer Anstalt, weil ich sicher bin, verrückt zu sein.

    Ich weiß, du hast mich gewarnt, als ich dir von meinem Plan erzählte, die verwunschenen Lilien zu suchen, aber ich wollte es dir nicht glauben.

    Nun schildere ich dir in diesem Brief die ganze Geschichte. Genau so, wie ich sie erlebt habe.

    Obwohl alle die ›Legende der weinenden Lilien‹ kennen, kam bisher nie jemand auf die Idee, die Sache vor Ort zu prüfen. Der Bibliothekar machte auch nur große Augen und sagte mir, ich solle die Umgebung um die Asitan-Villa unter allen Umständen meiden.

    Wie kann eine einfache Mär so viel Macht über die Menschen haben? Sogar dann, wenn sie schon lange erwachsen sind. Die Fabel wurde mir und anderen Kindern nur erzählt, dessen war ich mir sicher, um uns gefügig zu machen. Unterschwellig schwang immer mit, dass wir ein ähnliches Schicksal erleiden würden wie die Kinder aus der Legende, wenn wir nicht brav wären. Dem wollte ich schon allein deshalb auf den Grund gehen, weil ich an der Universität gelernt habe, dass es für alles eine rationale Erklärung gibt. Professor Borst sagte, ich könne alle Erfahrungen, die ich in Trarow machen würde, gut in meine bevorstehende Abschlussarbeit einbringen. Also begab ich mich nichtsahnend auf den Weg.

    Doch eins nach dem anderen.

    Ich brachte in Erfahrung, wann die in der Trarower Gegend heimische Riesenlilie ihre Blütezeit hat, und fuhr rechtzeitig mit dem Zug nach Birow, dem nächsten bewohnten Ort, wo ich mir ein Pensionszimmer nahm.

    Nun verweigerte mir am nächsten Tag jeder Taxifahrer die Fahrt nach Trarow, stell dir das einmal vor! So fest verankert ist die Angst der Einheimischen.

    Mir blieb nur zu laufen. Ich buckelte meinen Rucksack, in den ich Streichhölzer, einen Strick und kleinere Werkzeuge wie eine Schere und ein Taschenmesser gesteckt hatte. Auf den Wanderstab von Opa Ernst gestützt brauchte ich über zwei Stunden bis Trarow, weil ich mich teils durch verwilderte Wiesen schlagen musste und schlecht vorankam. Straßen gab es keine. Mehr noch, es schien mir, als ob das Gebiet einfach aus der Landkarte ausradiert worden wäre. Die Vegetation tat in dieser Gegend, was sie wollte.

    An der Stadtgrenze angekommen konnte ich nur mutmaßen, in welcher Richtung sich das Haus der Legende befand. Allerdings hatte ich eine kleine Hilfe, denn im gesamten Ort lag ein schwerer Liliengeruch in der Luft. Dieser intensivierte sich nach Osten hin. Ich folgte daraufhin dieser Spur.

    Einmal dachte ich, die Asitan-Villa gefunden zu haben. Wie sich jedoch herausstellte, war es nur ein merkwürdig verkrüppelter Baum, der von Weitem tatsächlich wie ein Gebäude aussah. Ich ging um ihn herum und sah rückseitig Gestrüpp wachsen. Dahinter lag wieder eine offene Wiese. So setzte ich meinen Weg entschlossen fort, wohl wissend, dass es bald dunkel werden würde.

    Schließlich tauchte sie vor mir auf, gerade so, als wäre sie immer da gewesen. Eine Sekunde vorher hatte an dieser Stelle kein Herrenhaus gestanden, da war ich mir sicher. Ich hätte es sehen müssen, schon von Weitem. Jetzt lag das gesamte Anwesen klar und deutlich vor mir. Die Bäume, die das Haus säumten, schienen eigenartig ins Innere der Villa gewachsen zu sein. Und sie war regelrecht umschlungen von bizarren Astformationen. Selbst durch das Gebäude hindurch schien Gehölz zu wachsen.

    Ob einer davon wohl der Baum war, unter dem der mutige Hans der Legende nach das erste tote Kind gefunden hatte?

    Ich schritt näher. Meine Gänsehaut ignorierte ich.

    Der Vordereingang erschien mir überaus baufällig, sodass ich Angst bekam, alles könnte über mir zusammenbrechen, sobald ich die hier und da bereits eingefallenen Stufen beträte. Zwar fühlte ich die nahezu tropische Wärme, die von der Villa ausging und mir das Atmen schwer machte, aber ich ließ sie außer Acht.

    Ich lief um das Grundstück herum und musste mir meinen Weg durch viele hüfthohe Pflanzen bahnen, die mir unbekannt waren. Mir schien, nachdem ich sie mit dem Stab beiseitegedrückt hatte, dass die Blüten sich mir zuwandten. Ich ging einen Schritt nach links, die Blumenköpfe folgten. Auch auf der anderen Seite sahen sie mir hinterher.

    Ich tupfte mir den Schweiß von der Stirn. Das konnte es nicht geben! Sogar jetzt noch erscheint mir dieses Phänomen gänzlich unmöglich.

    Ich ging an ihnen vorbei, tiefer in den unheimlichen Garten hinein, und stand augenblicklich inmitten von uralten Bäumen und Schlingpflanzen. Fast kam ich mir vor wie im Urwald.

    Etwas berührte mich leicht an der Schulter. Ich schrie, zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter mir war aber nichts, nur ein herabhängender, verholzter Trieb. Da es windstill war, konnte der es nicht gewesen sein, zumal er nicht einmal bis zu meinem Nacken herab reichte.

    Als ich meinen Blick wieder auf den Hintereingang der Villa konzentrierte, gefror mir das Blut in den Adern. Im Zwielicht des Abends stand da auf der Veranda ein kleines Mädchen. Sie verharrte reglos und starrte mich an.

    Dann kam sie langsam näher. Ihr Haar war verfilzt, und ihr Gesicht schimmerte bläulich. Mein Herz blieb fast stehen, ich erstarrte und konnte meinen Blick nicht abwenden. Ihre Augen leuchteten unnatürlich rot, und kurz bevor sie direkt vor mir stand, schrie sie: ›Hilf mir!‹ Wieder und wieder.

    Ihre flehende Stimme ging mir durch Mark und Bein. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Lider, denn ihr Anblick war mir unerträglich. Er erinnerte mich an frühere Albträume.

    Sogleich beruhigte ich mich jedoch, indem ich bis zehn zählte und danach geschäftig begann, Holz zu sammeln und an einer freien Stelle aufzuhäufen. Dabei sagte ich mir wiederholt, dass dies alles nicht wahr sei. Es gibt keinen solchen Spuk. Trotzdem spürte ich den vorwurfsvollen Blick des Mädchens im Rücken.

    Als ich mich umsah, atmete ich erleichtert auf. Sie war weg. Doch ein morscher Schaukelstuhl neben der Stelle, an der sie gestanden hatte, bewegte sich. Seine Kufen schabten stetig über den schmutzigen Boden.

    Die Dämmerung brach schneller herein, als ich erwartet hatte. Bevor es ganz dunkel werden würde, beabsichtigte ich, ein Feuer zu machen, denn mit meinen Streichhölzern würde ich die Nacht nicht überdauern.

    Plötzlich fiel mir auf, dass meine Hände dunkelrot, fast schwarz, waren. Ich fragte mich, wie das sein konnte, und ging noch einmal zurück an die Stelle, wo ich Äste für die Feuerstelle aufgesammelt hatte. Da fand ich tatsächlich eine dunkle Flüssigkeit auf dem Boden. Mein Finger fuhr darüber, und ich stellte fest, dass sie eingesickert war.

    Ratlos stand ich dort und wusste nicht weiter, bis mir etwas auf den Kopf troff. Erst dachte ich, es wäre ein Vogel gewesen, dessen Geschäft dummerweise auf mir gelandet war, aber dann erinnerte ich mich, dass Tiere dieses Anwesen angeblich mieden. Ich ertastete die Stelle auf meinem Kopf, und … an meinem Finger klebte eine dunkle Flüssigkeit. Eine Ahnung beschlich mich, und ich sah langsam nach oben.

    Weit über mir schauten sie auf mich herab. Ihre Blütentrichter waren riesig, und ich hatte noch nie ein solches Schwarz gesehen. Es war noch dunkler als die dunkelste Nacht.

    Auch wenn sich mein Geist gegen diese Erkenntnis sträubte, aber es waren die Lilien aus der Legende!

    Wie konnte es etwas so Perfektes, so Wunderschönes geben? Mein Erstaunen wuchs, und vor lauter Ehrfurcht erstarrte ich mit offenem Mund an Ort und Stelle.

    Der nächste Tropfen traf meine Lippe. Bevor ich ihn mit dem Arm wegwischen konnte, drang er auf meine Zunge. Er schmeckte bitter und metallisch. Auf einmal wurde es mir so klar wie ein Bergbach. Die Lilien … Sie würden weinen!

    Ich ließ von meinem ursprünglichen Plan ab und trat so schnell wie möglich den Rückzug an. Doch einem Albtraum gleich brach der Boden auf, kurz danach schlangen sich dicke Wurzeln um meine Beine. Sie hielten mich so fest, dass es mir sämtliches Blut in den Waden abdrückte.

    Was dann folgte, ist nur schwer in Worte zu fassen. Eine von den Lilien gab den ersten Laut von sich. Es klang ein bisschen wie der einer räudigen Katze. Ungefiltert drang er in meinen Kopf und von dort aus direkt in mein Herz. Die anderen Blumen stimmten nach und nach mit ein.

    Ich presste meine Hände auf die Ohren und redete mir zu, dass ich es ertragen könne. Es sei gar nicht so schlimm. Die Schmerzen in der Brust ignorierte ich.

    Plötzlich verstummten die Lilien wieder. Gleich darauf drehten sie alle ihre Köpfe zu mir.

    Dann bebte der Boden erneut, und die Wurzeln gaben mich frei. Ich dachte, das sei meine Chance, und rannte los.

    Ich kam nicht weit. Die Lilien bogen sich in meine Richtung und kreischten so laut, dass ich dachte, mir müsse das Herz zerspringen. Ich sank auf die Knie und hielt mir abermals die Ohren zu. ›Nein!‹, schrie ich. ›Aufhören!‹

    Jeder ihrer Klagerufe riss eine Wunde in mein Herz, und ich fürchtete tatsächlich, den Verstand zu verlieren.

    Ich gab mir einen Ruck, erhob mich und rannte wie ein Besessener zum Holzhaufen. Ich musste ihn näher ans Haus schieben.

    Dann lachte ich grässlich und zündete ihn an. Trotz des feuchtwarmen Klimas brannte das Holz sofort. Die Flammen züngelten vor mir in den Abendhimmel, und ihre Schatten tanzten an der Hauswand.

    Als das Feuer langsam auf die Villa übergriff, sah ich im flackernden Schein das grauenvoll verzerrte Gesicht des Hausherren Albert erscheinen. Die Fratze kam auf mich zu, aber ich lachte sie nur aus. ›Du kannst mir nichts, ich habe keine Angst vor dir!‹ Ich sprang wie ein Irrer umher und hatte den Drang, ein paar Pflanzen auszureißen. Mit jeder Blume, die ich ins Feuer warf, erschien ein Kindergesicht – eins grässlicher verunstaltet als das andere. Ihre Hilfeschreie klingen jetzt noch in meinem Kopf nach.

    Das Feuer wurde heißer und sengender. Ich zog mich zurück, bis ich irgendwann wieder bei den Lilien stand. Sie peitschten sogleich meinen Körper mit ihren Stielen. Sie schlugen in mein Gesicht, auf meinen Rücken und gegen meinen Bauch. Doch ich lachte und lachte. Ich konnte nicht mehr aufhören. Es war so, als hätten mich die Wurzeln des Wahnsinns gepackt und fest in ihrem Griff.

    Am nächsten Tag wachte ich schweißgebadet in meinem Pensionszimmer auf. Es war nur ein absurder Traum gewesen! Heute würde ich hinfahren, nichts finden, dies dokumentieren und wieder abreisen.

    Ich taumelte ins Bad und drehte den Wasserhahn auf, um mir das Gesicht zu benetzen. Da tropfte von meinen Händen eine tiefrote Flüssigkeit ins Becken. Ich erschrak und sah auf. Genau in Sichthöhe war ein Spiegel angebracht.« Otto machte eine Pause und schaute gedankenverloren an der Kerze vorbei. Sein Gesicht wurde gespenstisch von der fast niedergebrannten Funzel erleuchtet. Langsam trank er einen Schluck Bier und dachte bedrückt an seinen Sohn in der Heilanstalt. Danach las er nur noch einen Satz vor: »Ich war Albert.«

    Wenige Tage später nahm Otto ein Päckchen und ein Schreiben aus der Heilanstalt entgegen.

    Sicher war alles nur ein Irrtum gewesen, und nun würde sein Sohn entlassen werden. Seine Hände zitterten trotzdem, als er den Brief noch in der Diele aufriss und die Zeilen las.

    »Sehr verehrter Herr Schlubert,

    wir bedauern, Ihnen keine besseren Nachrichten überbringen zu können, aber Herr Andreas Schlubert musste in die geschlossene Abteilung verlegt werden.

    Anbei ein paar persönliche Dokumente, die seiner Genesung nicht zuträglich sind. Unter anderem ist auch ›Die Legende der weinenden Lilien‹ dabei. Niemand konnte uns sagen, woher Ihr Sohn jenes Exemplar hat, am wenigsten der Bibliothekar, der ebendieses Buch verwaltet. Am besten ist es, Sie verbrennen die Mär sofort. Wir sind nicht befugt, dies zu tun, haben das Dokument aber vorsichtshalber versiegelt.

    Der Allmächtige stehe Ihnen bei!

    Hochachtungsvoll

    Erwin Plager

    Anstaltsleiter«

    Otto fasste sich ans Herz, schleppte sich in die Küche und setzte sich dort auf einen Stuhl am Tisch. Dann öffnete er das Päckchen. Darin befand sich tatsächlich eine Kopie der ›Legende der weinenden Lilien‹. Er würde den Ofen anfeuern und das Buch den Flammen übergeben, aber vorher brach er das Siegel und begann zu lesen.

    Die Legende der weinenden Lilien

    Es war um die Jahrhundertwende, als eine alte Villa weit außerhalb der beschaulichen Stadt Trarow von einem Adligen namens Albert von Asitan gekauft wurde. Er kam nicht aus der näheren Umgebung, und die Städter gaben zu Protokoll, er sei ein Mann von hoher, dürrer Statur und düsterer Miene gewesen. Keiner wusste, woher er stammte oder was sein Beruf war.

    Nach einer Weile waren alle Bürger, vor allem die Ladenbesitzer, bestürzt über seine Wutausbrüche. Ihr eigenes Katzbuckeln war ihnen ein Graus, aber sie trauten sich nicht, dem rätselhaften Mann mit erhobenem Haupt entgegenzutreten – weder ihm noch seiner Frau, einer drallen Dame, die nie etwas sagte.

    Albert, so hieß es, streife durch die Umgebung und sammle kleine Kinder, die kurz allein gelassen worden waren oder sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten. Sodann sperre er sie in den Keller seines Hauses, wo es dunkel war und kalt. Oft drängten sich die armen Geschöpfe in einer Ecke dort zusammen, sobald er die Treppe herunterkam und sich selbst durch das Klopfen mit seinem Stock, welchen ein Raubtierkopf zierte, ankündigte.

    Die Städter ahnten bald, wer ihre Kinder gefangen hielt. Sie rotteten sich zusammen und wagten nach Anbruch der Nacht etliche Male den Vorstoß zur Asitan-Villa, um die Kleinen zu befreien. Doch sie schafften es nur selten, sich dem Anwesen weiter als bis auf zwanzig Schritte zu nähern. Das Grauen packte sie immer dann, wenn sie die grässlichen Geräusche aus dem Herrenhaus vernahmen. Bis auf ein rötliches, geheimnisvolles Schimmern aus dem Inneren des Anwesens war alles in völlige Dunkelheit gehüllt.

    Ihre Öllampen waren zu schwach, um auf freiem Feld alles auszuleuchten. So erschraken sie über ihre eigenen Schatten, die sich wie unmenschliche Monster an der Seitenwand der Villa abzeichneten. Viele verloren die Nerven, noch bevor sie die Stufen zur Vordertür erklommen hatten.

    Eines Tages war ein tapferer Vater unter ihnen. Er wurde Hans gerufen. Hans ignorierte die Schatten, die entsetzlichen Laute aus dem Haus und das ständige Wehklagen der anderen Eltern. Unbeirrt betrat er den Garten durch das hintere Tor und fand im Schein seiner Lampe ein Kind unter einem Baum liegen – es war tot.

    Die anderen traten hinter ihn und sahen es ebenfalls. Die Mutter des Kindes fing sogleich an zu schreien und brach schluchzend zusammen.

    Von ihrem Wehklagen angelockt erschien der Hausherr in der Hintertür. Die Dorfbewohner sahen zu ihm, erblickten aber nicht den Albert, den sie kannten. Dort stand ein Ungetüm, das Albert zwar glich, aber riesige Ohren und lange, spitze Zähne besaß. Aus seinem Mund troff Speichel.

    Hans rief zum Angriff, und die Eltern, nun aufgeputscht durch den Anblick des toten Kindes, stürzten sich auf das Scheusal vor ihnen. Es wich zurück, aber es kam nicht weit. Sein Körper wurde buchstäblich von Mistgabeln durchlöchert und seine Gliedmaßen von der Wut der Männer entstellt.

    Danach suchte die aufgebrachte Meute nach Alberts Frau, während Hans einer Blutspur in den Keller folgte. Zwischen etlichen toten Kindern fand er seine Tochter und zwei weitere Mädchen, die noch lebten. Im dürftigen Licht der mitgebrachten Lampe sah er Eingeweide herumliegen. Der Geruch war unsäglich.

    So schnell er konnte, befreite Hans die Kleinen von ihren Fesseln und schaffte sie ins Freie. Dort angekommen erfuhr er, dass die anderen Alberts Frau getötet hatten, als sie versuchte zu fliehen.

    Die schauerlichen Geräusche im Haus waren einer schmerzenden Stille gewichen.

    Die Leichen der anderen Kinder wurden derweil von den Eltern aus dem Haus getragen und vorsichtig auf die Wiese gelegt. Einige Gesichter waren aufgedunsen, manche Körper ausgeschlachtet. … Alle hatten ein gewaltsames Ende gefunden.

    Die Kirchenleute der Stadt weigerten sich halsstarrig, sie abzuholen und auf dem Friedhof zu bestatten, denn die Kinder seien von Dämonen besessen, ein Teil von Albert von Asitan sei in sie gedrungen und warte nur darauf, sein Unwesen in der Stadt zu treiben.

    In ihrer Not begruben die Eltern die kleinen Körper am Ort ihrer Marter.

    Schon im folgenden Jahr zierten fünfzehn Lilientriebe den Kinderfriedhof. Sie wuchsen heran, und ihre großen Blüten waren schwarz wie die Finsternis im Keller der Villa. Auf dem Höhepunkt ihrer Blüte sickerte eine blutrote Flüssigkeit aus ihren Kelchen und benetzte den Boden. Im Dunkel der Nacht schien das Mondlicht auf gespenstige Weise durch sie hindurchzufahren. Fast unsichtbar klagten sie dem Himmel ihr Leid. Unüberhörbar laut. Danach vergingen sie.

    Im nächsten Jahr wuchsen sie wieder, größer noch als zuvor, und das Schauspiel wiederholte sich – beängstigender und bedrohlicher.

    Seither weinten die Lilien jedes Jahr. Und sie werden es bis in alle Ewigkeit tun.

    Anna Noah wurde 1979 geboren. Sie studierte Englische Linguistik, Literatur, Sinologie sowie Interkulturelle Kompetenz. Seit 2016 lebt und arbeitet sie in Berlin. Ihre genreübergreifenden Kurzgeschichten rangieren von magisch-gruselig über kriminell-fantastisch bis hin zu zeitgenössisch-belletristisch. Einige davon sind seit 2016 in diversen Anthologien erschienen. Autorenseite: https://www.amazon.de/Anna-Noah/e/B01M34XM6M

    Oliver Müller: Das Geheimnis des Totengräbers

    Als die letzten Sonnenstrahlen des Tages versanken, schloss ich die Tür meiner Wohnung hinter mir ab. Ich drehte den Schlüssel zweimal um und ließ ihn dann in meiner Hosentasche verschwinden.

    Meine Schritte führten mich aus der kurzen Straße, an deren Ende mein kleines Häuschen stand, hinaus. Ich bog nach rechts ab auf den Marktplatz. Kurz hielt ich inne und ließ den Blick über die freie Fläche wandern.

    Am gegenüberliegenden Ende hatte es mal einen Krämerladen gegeben. Als Kind hatte ich es geliebt, mich dort zwischen den vielen Gefäßen aufzuhalten. Hin und wieder hatte die alte Dame, die das Geschäft betrieb, ein Bonbon für mich gehabt.

    Wenn ich jetzt zu dem Haus sah, in dem heute ein Friseur war, meinte ich stets, den süßen Geschmack wieder auf der Zunge zu haben. Es war nur das Aufflackern einer Erinnerung, die schnell verblasste.

    Diese Zeiten waren ewig vorbei. Rasend schnell waren die Jahre vergangen. Die Zeit machte für niemanden halt. Eben war ich noch ein Kind gewesen, jetzt war ich ein alter Mann.

    Die Kinder der Geschäftsinhaberin hatten den Laden nicht weiterführen wollen. Ich lachte auf. Sie waren schlauer gewesen als ich. Ich hatte den Beruf meines Vaters übernommen. Heute wünschte ich, das wäre nicht der Fall gewesen. Ändern ließ es sich aber auch nicht mehr. Genau genommen hatte ich auch keinen Beruf mehr. Seit fünf Jahren war ich Rentner.

    Als unsere Stadt dem Tagebau weichen musste und wir alle umgesiedelt wurden, hatten wir keinen eigenen Friedhof mehr bekommen. Unsere Toten wurden in der Nachbarstadt begraben. Es war ein Unding. Aber wer dachte schon an die alten Menschen, die ihre Verblichenen besuchen wollten? Heute zählte nur noch das Geld. Selbst in einer so kleinen Stadt wie unserer.

    Viele von den Jungen waren gar nicht an den Ort der Umsiedlung gezogen, sondern hatten ihr Glück gleich in den größeren Städten im Umkreis versucht. Wer konnte es ihnen verdenken?

    Die meisten Menschen hätten Neuberg nicht mal mehr eine Stadt genannt, sondern ein Dorf. Keine zweitausend Seelen wohnten hier noch. Man kannte sich. Und das machte meine Aufgabe deutlich härter.

    Die Alten, die ihre Heimat nicht loslassen konnten, hatten das Städtchen neu aufgebaut. Mittlerweile war ich einer von ihnen. Alt und nutzlos. So fühlte ich mich zumindest manchmal. Man brauchte mich nicht mehr. Zumindest die Lebenden nicht. Nur die Toten hatten noch Verwendung für mich. Aber auch nicht alle. Nur die auf meinem alten Friedhof.

    Als ich den Ort verließ, atmete ich auf. Zwar wohnte ich dort, aber wirklich meine Heimat war er nicht mehr geworden. Mit jedem Schritt jedoch, der mich näher an die Gegend meiner Kindheit brachte, fühlte ich mich freier. Als würde ich nach Hause gehen.

    Der Fußmarsch war lang, aber es ging nicht anders. Ein Auto besaß ich nicht, und Busse fuhren nicht in diese Richtung. Bis ich den Friedhof erreichte, würden fast zwei Stunden vergehen.

    Ich nutzte die Zeit, um über das nachzudenken, was vor mir lag. Auf den Weg brauchte ich mich nicht zu konzentrieren. Ich kannte ihn auswendig.

    War es ein Wunder? Oder eher ein Fluch? Oft schon hatte ich darüber nachgedacht, aber zu einer zufriedenstellenden Antwort war ich noch nie gekommen. Nur konnte ich unmöglich der Einzige ein, der dieses Schicksal zugeteilt bekommen hatte. Ich hatte überlegt, den jüngeren Kollegen aus der Nachbarstadt zu fragen, die Idee aber wieder verworfen.

    Sprechen sie auch zu dir? Kannst du sie hören?

    Ich glaube nicht, dass es eine Art Berufskrankheit ist, wenn die Toten mit einem sprechen. Nein, es musste einen anderen Grund dafür geben. Mein Vater war schließlich auch Totengräber gewesen, und er hatte nie davon erzählt, dass die Verstorbenen aus den Gräbern zu ihm sprachen.

    Vielleicht sollte ich ihn fragen. Die Möglichkeit dazu hätte ich ja …

    Es wurde langsam dunkler. Ich orientierte mich mehr in die Mitte des Weges, denn die Ränder wurden bereits von Unkraut überwuchert. Die Natur holte sich zurück, was der Mensch nicht mehr wollte. Ein Geben und Nehmen. Auch wenn der Teil, den der Mensch sich unwiderruflich nahm, bedeutend größer war als der, den die Natur zurückeroberte.

    Die Flächen, die der Tagebau beanspruchte, waren gewaltig. Da war es ein Wunder, dass der alte Friedhof noch bestand. Irgendwann würde vermutlich auch er für immer verschwinden. Doch bis dahin würde ich noch so oft wie möglich meine Aufgabe dort erfüllen.

    In der Ferne sah ich die Silhouetten einiger verlassener Häuser auftauchen. Von nun an war es nicht mehr weit. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. So, als wolle ich es endlich hinter mich bringen.

    Die Häuser waren mittlerweile heruntergekommen. Ihnen fehlte die Pflege ihrer Besitzer. Einige waren nur noch Ruinen. Zum Teil stierten glaslose Fenster mich an, als wären es aufgerissene Augen. Hier hatten sich Menschen Zutritt verschafft in der Hoffnung, die ausgezogenen Leute hätten etwas Brauchbares zurückgelassen. Vielleicht hatten auch Obdachlose die Chance genutzt, ein paar Nächte im Trockenen zu verbringen.

    Ich konnte mich bei jedem Haus erinnern, wer früher dort gewohnt hatte. Komisch, dass mir die alten Sachen präsenter waren als manches Neue.

    Ich suchte und fand den Weg, der zum etwas außerhalb gelegenen Friedhof führte. Schon von Weitem erkannte ich die Mauer aus Naturstein, die den Totenacker eingrenzte. Der Weg war nun nicht mehr asphaltiert. Kies knirschte unter meinen Sohlen, als ich an der Mauer entlangschritt, bis ich das Tor erreichte. Es war schmiedeeisern und gut zwei Meter hoch. Ich zog den Torschlüssel aus der Tasche und ließ ihn im Schloss verschwinden. Knarzend öffnete er das Tor. Als ich es aufschob, quietschte es erbärmlich. Es klang wie eine klagende Seele.

    Ich dachte an meinen Vergleich und musste lachen. Er war nicht zutreffend. Klagende Seelen klangen ganz anders.

    Nur wenige Meter hinter dem Tor stand die alte Hütte, die damals mein Arbeitsplatz gewesen war. Hier hatte ich meine Tage verbracht, wenn mal wieder eine Beerdigung anstand.

    Im hinteren Teil des Friedhofs hatte es auch eine Kapelle gegeben, in der die Toten kurz vor der Bestattung noch einmal aufgebahrt wurden. Hier konnten die Menschen während der Trauerfeier noch einmal Abschied nehmen und mit den Toten sprechen. Nur dass sie den Menschen für gewöhnlich nicht antworteten.

    Ich ging zur Hütte. Sie war ebenfalls verschlossen, aber auch für sie besaß ich den Schlüssel. Als ich eintrat, bemerkte ich den Geruch, der mir so vertraut war.

    Es war kühl im Inneren und der Weg hatte mich angestrengt. Von Mal zu Mal wurde er beschwerlicher. Ich fragte mich, wie oft ich ihn noch schaffen würde?

    Drinnen hatte sich nichts verändert. Der alte Stuhl stand noch genau dort, wo er beim letzten Mal gestanden hatte – direkt vor dem Tisch, auf dem das batteriebetriebene Radio stand.

    Es war gut vier Wochen her, dass ich hier gewesen war. Ich kam immer nur zu Vollmond. Der Zeitpunkt hatte keine Bedeutung, ich hätte jeden Tag kommen können, um mit den Toten zu sprechen. Aber ohne das Licht des Vollmonds war es mir zu dunkel auf dem Friedhof, denn die Laternen leuchteten nicht mehr. Es wunderte mich, dass sie nicht abgebaut worden waren.

    Ich zog mir den Stuhl zurecht und setzte mich. Eine kleine Pause würde mir guttun. Ich schaltete das Radio an und hörte zuerst nur ein Rauschen. Ich musste am Rädchen drehen und die Antenne leicht bewegen, damit der Sender klar hereinkam.

    Mein Blick fiel aus dem schmutzigen Fenster der kleinen Hütte. Viel sah ich nicht im Schein des Mondes, also schloss ich die Augen. Ich sammelte Kraft für das, was mir bevorstand. Es war nicht das erste Mal und vermutlich auch noch nicht das letzte Mal. Aber wer wusste das schon?

    Ich wollte noch das Lied abwarten und dann mit meiner Runde beginnen. Morten Harket sang gerade die letzten Zeilen von »Lay me down tonight«. Wie passend. Ich mochte das Lied. Immerhin ging es darin um den Tod.

    Ich drückte mich von dem alten Holzstuhl hoch und stemmte die Hände in die Hüfte. Der Stuhl knackte genauso wie meine Knie. Das feuchte Herbstwetter war Gift für meine Knochen. Aber die Aufgabe, die mir bevorstand, musste erledigt werden.

    Der Tod … Ich musste schmunzeln. Die einen hielten ihn für das Ende, die anderen hofften auf ein Leben nach ihm. Dass es aber so aussehen würde, das dachte bestimmt niemand. Weder die Christen noch die Anhänger anderer Religionen, die auf ein Eingehen in den Himmel oder die Hölle warteten. Wer rechnete schon damit, dass einen der Sensenmann bloß abholte und dann auf der Türschwelle abstellte? Ab da musste jemand anders den Schaffner spielen.

    Der Vergleich ließ mich grinsen. »Ihre Fahrkarte, bitte«, sagte ich und lachte leise auf.

    So, jetzt wurde es wirklich Zeit. Der Vollmond war bereits deutlich zu sehen. Wenn ich noch einigermaßen pünktlich in mein Bett kommen wollte, musste ich los.

    In wenigen Minuten würden sie wieder anfangen zu jammern, all die Unglücklichen in ihren Gräbern. Mehr als zwei oder drei schaffte man nie an einem Abend. Und in meinem Alter hatte ich auch keine Lust mehr, mir die ganze Nacht draußen um die Ohren zu schlagen. Sonst lag ich schneller bei den Jammernden, als es mir lieb war. Immerhin stand bald mein siebzigster Geburtstag an. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass anderswo ein so alter Totengräber noch im Dienst war. Aber ich hatte eben eine spezielle Aufgabe übernommen. Eine, die keine Regelaltersgrenze kannte.

    Gott sei Dank waren wir eine kleine Gemeinde gewesen, aber auch ziemlich überaltert. Die Alten, die ich hier unter die Erde gebracht hatte, hatte ich oft selbst viele Jahre gekannt. Die Einschläge kamen näher. Das

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